Читать книгу Ein schädlicher Einfluss - Kate Bornstein - Страница 7
Kapitel 1
Was zuvor geschah
ОглавлениеEs wird wohl nie eine Disney-Verfilmung meines Lebens geben, was wirklich schade ist, weil ich eine echt niedliche Zeichentrickfigur abgeben würde. Geboren und erzogen wurde ich für die Rolle des jungen männlichen Helden. Die ersten 14 Jahre meines Lebens verbrachte ich in Interlaken, New Jersey, einer Siedlung der oberen Mittelschicht direkt am See Deal Lake. Sie befindet sich nur eine Stadt weiter landeinwärts vom Badeort Asbury Park am Atlantischen Ozean entfernt. Meine Familie gehörte zu den wenigen Juden, die dort lebten. Ich war viereinhalb Jahre alt, als mir klar wurde, dass ich kein Junge war und daher ein Mädchen sein musste. Trotzdem lebte ich ein Leben als Junge. Die Leute sahen in mir weiterhin den Jungen und später einen Mann und ich hatte nie den Mut, sie zu korrigieren. Stattdessen log ich sie alle an, indem ich behauptete, ich wäre ein Junge. Tag und Nacht log ich. Bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag wusste kein Mensch, wer ich wirklich war oder sein wollte. Das ist ziemlich viel Druck für ein kleines Kind.
*
Die Saturday Evening Post lag jede Woche in unserem Briefkasten. Die meisten Titelbilder stammten von dem Maler Norman Rockwell, dem wohl bekanntesten Kunsthandwerker des American Dream. Ich sehnte mich danach, jedes seiner mit Mais gefütterten Mädchen aus dem Mittelwesten zu sein, die die Titelseiten der Saturday Evening Post schmückten. Ich würde bezaubernd sein, meiner misslichen Lage trotzig ins Antlitz lächeln, um den Verlust der Liebe weinen und von den Männern meines Lebens abhängig sein – vor allem von meinem Daddy. Und blond würde ich sein, mit kornblumenblauen Augen und das Haar in der Farbe von frisch geerntetem Mais.
Hier kommt ein Titelbild, das Norman Rockwell nie gemalt hätte: Meine Mutter auf dem Entbindungstisch, nicht nur dank der Schmerzmittel betäubt, sondern auch dank der Karaffe Martini, die sie während meiner sechsstündigen Geburt geleert hatte. Ich wurde betrunken und Drogen liebend geboren. Kein Wunder also, dass ich kein Wort verstand, als Dr. Grimm mich in den Arm nahm und sagte: »Willkommen auf dieser Welt, Schätzchen. Willkommen.« 24 Jahre später sollte er die gerade geborene Jessica in den Armen halten und mit denselben Worten begrüßen.
Griff Grimm und mein Vater waren Ärzte am Fitkin Memorial Hospital in Neptune, New Jersey. Vor allem im Sommer war das kleine Krankenhaus für eine ganze Reihe kleiner Küstenorte zuständig. Für uns waren der Atlantik pure Magie und der Strand unser Zauberteppich. Im Sommer teilten wir diese Welt mit den Touristen und hatten Ferienjobs, die von ihnen abhingen. In Sommerstädtchen wie dem unseren finden Vater-Sohn-Unternehmungen im Herbst, Winter und zu Beginn des Frühlings statt.
Mein Dad und ich pflegten unsere Beziehung über das Wrestling, das uns beide begeisterte. Als ehemaliger Ringermeister im Mittelgewicht des Indiana State College nahm mich mein Vater zu den Wrestling-Wettkämpfen in der Kongresshalle von Asbury Park mit.
»Vergiss nicht, Albert«, sagte er, »das ist alles nur gespielt. Aber damit es echt aussieht, braucht man viel Geschick.« Damit kannte ich mich aus. Ich hatte bereits sehr viel Geschick darin entwickelt, wie ein echter Junge auszusehen und mich entsprechend zu verhalten.
Weil mein Vater Arzt war, saßen wir immer in der ersten Reihe. Es hielt ihn kaum auf seinem Platz. Meistens stand er, schüttelte die Faust und brüllte die Bösen an oder auch den Ringrichter wegen einer Fehlentscheidung. Seine Wut ließ er uns auch manchmal zu Hause spüren, aber im Ring konnte er sich richtig gehen lassen. Mein Vater sah in mir einen Sohn, der sich mit blutrünstiger Lust für diesen Sport begeisterte. Ehrlich gesagt war es für mich tatsächlich die pure Lust. Während der Kämpfe zitterte ich die ganze Zeit vor sexueller Erregung. Vor dem Match umrundeten die Kämpfer einzeln den Ring und die Guten winkten mir zu. Sie winkten allen zu, aber ich fühlte mich immer persönlich angesprochen. Ich verwandelte mich in ein wunderschönes junges Mädchen, das sich wünschte, in ihren Armen zu versinken.
*
Dr. med. Paul Kenneth Bornstein
So stand es in handgemalten Buchstaben auf der grünlichen Milchglasscheibe der Sprechzimmertür meines Vaters im zweiten Stock des Ärztehauses in Asbury Park. Als man mich an meinem 13. Geburtstag zum Mann erklärte, wurde verkündet, dass mein Name eines Tages genau unter seinem stehen werde und wir uns die Praxis teilen würden. Ich diskutierte nie mit Dad. Mein großer Bruder und ich nannten ihn Dad. Nur Mädchen nennen ihre Väter Daddy. Seine Patienten nannten ihn Doc, so wie die meisten Geschäftsleute und Verkäufer aus unserer Küstenregion. Für sie war ich Docs Sohn, wie zum Beispiel in »Docs Sohn ist hier wegen des Rezeptes« oder »Sind die Roastbeef-Sandwiches für Docs Sohn schon fertig?« oder »Hey, Docs Sohn ist da und bringt die Weihnachtsgeschenke«. Ja, wir waren Juden, aber damals sollten wir damit nicht unbedingt hausieren gehen. Wir feierten Weihnachten, nicht Chanukka. Meine Mannwerdung wurde zwar mit einer Bar Mitzwa gefeiert, aber – wie ich bereits erwähnte und Ihnen vermutlich bereits aufgefallen ist – es hat nicht funktioniert.
In die USA immigrierten die Eltern meines Vaters aus Russland oder Polen oder wie auch immer man jenen Landstrich nennt, der immer wieder hin und her getauscht wurde. Ich weiß nicht, aus welcher Stadt meine Familie kommt, aber in vagen Andeutungen war immer die Rede von Minsk oder Pinsk. Jedes Mal, wenn jemand »Minsk, Pinsk« sagte, rieb sich mein Onkel Davy, ohne es zu merken, die tätowierte Lagernummer auf seinem Unterarm. Er trug immer langärmelige Oberteile. Und sobald »Minsk, Pinsk« erwähnt wurde, erzählte immer irgendjemand die Legende von Max und Anna, die nach Amerika gekommen waren.
Max und Anna, die Eltern meines Vaters, waren 14 und 12 Jahre alt und ein Liebespaar, als sie die radikalen Roten Truppen unterstützten, die den Zaren stürzen wollten. Der junge Max wurde von den Weißen geschnappt, den Anhängern des Zaren, die den Stormtroopers bei Star Wars nicht ganz unähnlich waren. Max wurde in ein sibirisches Gefangenenlager verbannt. Tausende Kilometer westlich von Sibirien in Minsk oder Pinsk machte sich die nur zwölfjährige Anna auf die Reise, um ihren geliebten linksradikalen Jungen zu befreien. Da sie bettelarm war, musste sie laufen, aber wie eine Heldin aus einem Disney-Trickfilm konnte sie singen, was sie auch tat. An jedem Abend ihrer Reise sang sie für Kost und Logis in Dörfern und Bauernhäusern. Die Durchquerung Russlands dauerte fast ein Jahr, dann hatte sie es bis zum Tor des Gulags geschafft, in dem Max gefangen war. Mit dem Singen hatte sie auch ein wenig Geld verdient. Damit bestach sie die Wachposten, die wegschauten, als Max sich unter dem Stacheldraht hindurchzwängte und seine große Liebe in die Arme nahm. Laut der Erzählung wischte sich der Wärter eine Träne weg und gab ihnen die Hälfte des Bestechungsgeldes zurück.
Anna und Max flüchteten also in die wilden Wälder Sibiriens und rannten den ganzen Weg nach Hause bis nach Minsk oder Pinsk. Onkel Davy besteht darauf, dass hungrige Wölfe ihnen auf den Fersen waren. Im deutschen Bremerhaven warteten schließlich zwei Dampfertickets nach New Jersey auf sie, wo sie von Annas Verwandtschaft in Empfang genommen wurden. Die beiden ließen sich in Peterson, New Jersey nieder, wo einige ihrer Angehörigen eine gigantische Seidenspinnerei aufgebaut hatten, die später in ihren Besitz überging. Großartige Geschichte, oder?
Alles, was ich gerade erzählt habe, ist gelogen. Aber ich schwöre, dass ich diese Geschichte mein ganzes Leben lang geglaubt habe. Bis vor zehn Jahren dachte ich, dass Opa Max und Oma Angie krasse, sozialistische Freiheitskämpfer gewesen waren. Es war mein Bruder, der mich aufklärte, als ich ihn und seine Frau Deb eines Tages an der Küste von Jersey besuchte. Deb hatte die Geschichte von Max’ und Annas Odyssee voller Liebe und radikaler Revolution noch nie gehört, also begann ich zu erzählen. Von Anfang an schüttelte mein Bruder ungläubig den Kopf und als ich beim sibirischen Lager angekommen war, lachte er laut los.
»Wer hat dir denn den Scheiß erzählt?«
»Alle, Alan, alle.«
Hier kommt also die wahre Geschichte von Max und Anna in der Version meines Bruders, dem Sie eher glauben sollten als mir.
Max war kein Roter, sondern der Sohn eines reichen jüdischen Geschäftsmannes, dem Besitzer eines großen Warenhauses in Minsk, Pinsk. Er war ein überzeugter Anhänger des Zaren Nikolaus, dessen Regime extrem antisemitisch war. Mein Opa war also ein Überläufer und Verräter. Max war Mitglied einer Jugendorganisation, einem lokalen Schlägertrupp des Zaren. Auch Annas Familie war wohlhabend. Daher konnte sie sich Gesangsunterricht leisten, der ihr später einen Soloauftritt in der Carnegie Hall einbringen sollte. Das Wichtigste kommt aber noch: Max und Anna hassten einander, denn es war eine arrangierte Ehe. Er ging in die USA und ließ Anna zurück. Sie folgte ihm zwei Jahre später, wobei ihre Familie sie buchstäblich auf jenes Schiff schieben musste, das sie in die Arme des Mannes, den sie verachtete, befördern sollte. Es gab kein Sibirien. Die Wölfe waren vielleicht Onkel Davy auf den Fersen, nachdem er aus dem Vernichtungslager befreit worden war und keinen Menschen oder Ort hatte, an den er sich hätte wenden können. Monatelang wanderte er umher und vielleicht haben ihn damals die Wölfe als angeschlagene Beute erschnüffelt. Aber Anna und Max sind nie irgendwelche Wölfe zu nahe gekommen, es sei denn Anna trug sie als Pelz. Diese Geschichte ist eine gute Überleitung zum Thema Autobiografien und Wahrheit:
Ich soll nicht lügen. Dennoch werde ich in diesem Buch hin und wieder lügen – kleine Lügen, damit die Geschichte mehr Spaß macht. Ich lüge sehr gern. Ich erzähle gern Geschichten. Doch dieses Buch habe ich für meine Tochter und meine Enkel geschrieben und ich wünsche mir, dass sie die Wahrheit über mein Leben erfahren, falls es sie irgendwann mal interessieren sollte. Also verspreche ich Ihnen, dass ich in keiner wichtigen Angelegenheit lügen werde: So wie bei der Geschichte von Anna und Max werde ich Lügen erzählen, die ich für wahr hielt, und sie anschließend korrigieren. Zweifellos werden auch Lügen dabei sein, die ich heute noch für wahr halte. Da ich fast zwanzig Jahre lang Übung darin hatte, den Menschen vorzulügen, dass ich ein Junge war, habe ich eine große Begabung fürs Lügen entwickelt.
Ich soll nicht lügen.
Es ist mir in die Haut geschrieben. Ich sehe es jedes Mal, wenn ich auf meine Hand blicke.
*
In seiner Jugend arbeitete mein Vater in der Seidenspinnerei. Dann besuchte er als erstes Familienmitglied ein College. Den Großteil der Studiengebühren zahlte seine Zwillingsschwester Frances – solche Dinge taten Frauen damals für ihre Brüder. Frances konnte nie verstehen, warum ich eine Frau sein wollte, und ich konnte es ihr nie erklären. Mein Vater hatte aber auch verschiedene Jobs, mit denen er sein Medizinstudium finanzierte. Als Amateurboxer fügte er sich ein Blumenkohlohr und den ersten von drei Nasenbrüchen zu. Beim dritten Bruch war ich dabei. Er war auf Glatteis ausgerutscht und als er wieder aufstand, strömte das Blut nur so über sein Gesicht. Er fluchte und schnauzte mich an, ich solle aufhören zu heulen wie ein kleines Mädchen.
Bei einem anderen Job testete mein Vater die Geschwindigkeit von Rennwagen auf dem Indianapolis Motor Speedway. Während der Prohibitionszeit fuhr er im Sommer Rum über die kanadische Grenze in die USA bis zur Küste New Jerseys. Er arbeitete für Dutch Schultz, den berüchtigten Bierbaron der Bronx. Mein Vater hatte das perfekte Aussehen für diese Aufgabe: ein düsteres, russisches Gesicht mit dreifach gebrochener Nase, viel Gel im Haar und ein schiefes Lächeln, bei dem den Mädels die Knie schwach wurden. Mein Dad war ein Bad Boy und gleichzeitig der neue Arzt in der Stadt, also die beste Partie, die man sich vorstellen konnte. Nicht dass meine Mutter auf der Suche nach einer guten Partie gewesen wäre; sie ging damals auf die Universität und trug den Verlobungsring von Leon Goldberg an ihrer Halskette.
*
Meine Mutter, geboren als Mildred Lillian Vandam, war das jüngste von drei Kindern im Haus von Albert Herman Vandam und seiner Frau Esther Cohen Vandam, die von allen Essie genannt wurde. Essie war ein aufgedrehtes, jüdisches Stadtpüppchen aus Downtown Henry Street und stand auf Gin. Auf jeder Party – ob als Mädchen, als Frau oder als alte Frau – tanzte sie wild mit dem Hintern wackelnd auf den Tischen. Albert Herman war ein orthodoxer Jude, der die Hälfte des Jahres damit verbrachte, in Europa nach Reliquien zu suchen, die er im restlichen halben Jahr an die katholische Kirche verkaufte. Nachdem Al gestorben war, versuchte Essie dreimal sich umzubringen. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in unserem Haus, damit meine Eltern sie im Auge behalten konnten.
Meine Mutter war an der Upper West Side in New York City aufgewachsen, in einer Wohnung mit Blick auf den Hudson River, nicht weit von General Grants Grab. Sie ging auf die Julia Richmond High School, eine Mädchenschule an der East Side am anderen Ende der Stadt, wo sie in ihrem letzten Jahr den lesbischen Popliteratur-Klassiker Quell der Einsamkeit las. Mildred folgte ihrem Bruder Leroy an die Brown University. Dort sollte sie nach einem guten Ehemann suchen.
Wenn man es ganz genau nimmt, ging meine Mutter nicht auf die Brown University, sondern auf das dazugehörige Pembroke College für Mädchen. Jungs wie ich und Onkel Roy gingen auf die echte Brown University. Mädchen und Jungs erhielten den gleichen Unterricht, bis auf die Wohnheime war alles gemischt. Weil die Universität damals allerdings zu einem tief im baptistischen New England verwurzelten, rein männlichen Förderverein gehörte, konnte keine Frau einen Abschluss der Brown University erlangen.
Bis zum Jahr 1970 gab es zwei Ausnahmen im Rahmen dieser akademischen Geschlechtertrennung. Zwei Frauen sind im Besitz eines Abschlusses der Brown University von vor 1970: Wendy Carlos, eine avantgardistische Komponistin und Interpretin elektronischer Musik, machte ihren Abschluss, als sie noch Walter war. Die andere bin ich, Albert Herman Bornstein. Wenn ich heute eine Kopie meines Abschlusses anfordern und dafür bezahlen würde, stünde dort der Name Katherine Vandam Bornstein. In ihren eigenen Unterlagen hat die Brown University das bereits geändert.
*
Meine Mutter und mein Vater lernten sich während eines Hausbesuchs kennen, als er zur Behandlung ihrer Tuberkulose zu ihr nach Hause kam.
Paul Bornstein hatte seine Praxis in Belmar eröffnet, nur wenige Blocks vom Sommerhaus der Vandams entfernt. Damals gab es noch keine Klimaanlagen. Und da Ventilatoren heute wie damals nichts gegen die New Yorker Sommerhitze ausrichten können, flüchteten die meisten Bewohner aus der Stadt an den Strand, die Uferpromenade oder zum Hochseeangeln an die Küste von New Jersey.
Die 18-jährige Mildred lag krank im Bett. Ihre Mutter war sich ganz sicher, dass es Tuberkulose war. Der Hausarzt der Familie hatte nur über ihre Diagnose gelacht und war mit ihrem Mann Al zum Hochseeangeln gefahren. Essie blieb also allein bei ihrer Tochter zurück, die im obersten Stockwerk des Hauses an Tuberkulose starb.
Sie rief den netten neuen Doktor aus der Nachbarschaft an, einen Juden, was ihn noch netter machte, und schon wenige Minuten später stand Paul mit seiner kleinen, schwarzen Arzttasche vor der Tür, die auch aus einem Bild von Norman Rockwell hätte stammen können. Essie brachte den jungen Doktor Paul nach oben, in das Zimmer ihrer Tochter. Es war die perfekte Film-Noir-Szene: Böser Junge trifft auf reiches, junges It-Girl. Paul war ein herber und gut aussehender Typ. Er war Arzt, redete wie ein Fabrikarbeiter und hatte den Gang eines Wrestlers. Mildred lag in ihrem Bett, den Kopf von zahlreichen Kissen gestützt – ein modernes, zuckersüßes Mädchen der 1920er-Jahre. Es war Liebe auf den ersten Blick und sie liebten sich bis zu ihrem Tod.
Essie bestand darauf, während der Untersuchung im Zimmer zu bleiben. Paul näherte sich Mildred mit dem Stethoskop. Er tippte auf die Halskette mit dem Ring, die gut sichtbar genau über dem Herzen hing.
»Was haben wir denn hier?«
»Absolut gar nichts, Herr Doktor.«
Beiläufig löste Mildred Leon Goldbergs unsterbliche Liebe von ihrem Herzen und ließ sie auf den Boden fallen. Paul lachte und setzte das Stethoskop an. Man kann sich leicht denken, dass er einen schneller werdenden Atem und Herzschlag hörte.
Sie waren ein reizendes Pärchen, meine Eltern. Mildred war anmutig, elegant und schön. Paul war charmant, raubeinig und gutaussehend. Meine Mutter hielt sich für das glücklichste Mädchen der Welt, mein Vater verstand nie, wie eine Klassefrau wie Mildred sich in einen Trampel wie ihn hatte verlieben können.
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Als meine zukünftige Teenagermutter, die nicht im Geringsten tuberkulös war, meinem zukünftigen Vater schöne Augen machte, war L. Ron Hubbard wie mein Dad in seinen frühen Zwanzigern. Während mein Vater seine Praxis an der Küste von New Jersey aufbaute, trampte Ron Hubbard angeblich durch Asien, wo er östliche Religionen und Bräuche studierte. Jedenfalls glaubten wir das alle bei Scientology. Er war ein Entdecker, ein furchtloser Erforscher der düstersten Tiefen und sternenhellen Höhen der menschlichen Seele. Er entwarf und baute die Brücke zur totalen Freiheit.
Lafayette Ronald Hubbard war ein vierschrötiger Kerl, genau wie mein Dad, und wurde am 13. März 1911 in Tilden, Nebraska geboren. Mein Vater kam nur einige Monate später auf die Welt, am 9. Mai. Wenn man der autorisierten Biografie glaubt, war der erst vierjährige Ron bereits mit sämtlichen Überlieferungen der Schwarzfußindianer vertraut, deren Stammesälteste ihn zu einem vollwertigen Blutsbruder ernannten. Außerdem wurde Ron im Alter von 13 Jahren der jüngste Eagle Scout in der Geschichte der Pfadfinderei. So stand es in der autorisierten Biografie und als Scientologen glaubten wir daran.
Ein Großteil dieser Biografie ist zerpflückt worden. Es gilt als erwiesen, dass viele der fantastischen Behauptungen über L. Ron Hubbards Leben schlichtweg gelogen sind – Sie können es ja mal googeln. Als Scientologen gingen wir immer davon aus, dass er die Wahrheit nur ein bisschen ausgeschmückt hatte, um eine gute Geschichte noch besser zu machen, glaubten aber, dass die Berichte über sein angeblich eindrucksvolles und heiliges Leben auf Tatsachen basierten.
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Nach einer schicklichen Verlobungszeit heirateten meine Mutter und mein Vater. Nach dem Verstreichen eines ebenso ehrenhaften Zeitraums brachte meine Mutter meinen Bruder Alan Vandam Bornstein zur Welt. Ja, wir waren zwei Als. Er war der große Al, ich der kleine Al. Der Vollständigkeit halber: Ich habe auch noch einen Cousin namens Al. Der große Al und Cousin Al waren Vorkriegskinder, ich war ein Nachkriegskind.
Ein Jahr nach der Geburt meines Bruders bombardierten die Japaner Pearl Harbor. Am selben Tag meldete sich mein Vater zum Militärdienst. Er diente in MASH-Einheiten, den mobilen Feldlazaretten, in ganz Nordafrika. Im Laufe der Jahre stieg er bis zum Oberstleutnant auf und befehligte gegen Kriegsende seine eigene MASH-Einheit in der Nähe von Paris. Ich habe ein Foto meines Vaters, auf dem er in der Wüste Nordafrikas im Freien an einem Feldtisch sitzt. Die Sonne brennt und er hat sein Hemd ausgezogen, ist tief gebräunt und schreibt einen Brief. Es muss ein Brief an Mildred sein, denn sein ganzer Körper scheint »Ich liebe dich« zu sagen – er strotzt nur so vor Sinnlichkeit.
Mein Lieblingsbild der beiden wurde am Tag seiner Rückkehr aus dem Krieg aufgenommen. Sie sind zum Abendessen ausgegangen und sitzen nebeneinander in einem Separee eines Restaurants. Das Foto wurde von der gegenüberliegenden Seite des Tisches aufgenommen. Sie sind mit dem Essen fertig. Meine Mutter hat sich zu meinem Vater gedreht und umarmt ihn mit so viel Freude, Ergebenheit und Liebe, dass auch mein Dad von einem schüchternen Glücksgefühl ergriffen wird. Ein schönes Bild.
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Sieben Monate nach der Rückkehr meines Vaters verlor meine Mutter ein kleines Mädchen. Wenige Monate später wurde ich in diesem wunderlandgleichen Schoß empfangen. Und hier kommt meine These: Ich glaube, dass kein Mensch wissen kann, was mir die Vormieterin meines mütterlichen Uterus zur Weiternutzung hinterlassen hat. Ich bin mir aber sicher, dass der Mädchenkörper eigentlich für mich bestimmt war und dass ich meinen Dad »Daddy« hätte nennen sollen. Und das ist schlicht und ergreifend kein angemessenes Material für ein Gemälde von Norman Rockwell oder einen Disney-Trickfilm.