Читать книгу Ein schädlicher Einfluss - Kate Bornstein - Страница 5
Prolog
Der Kuss des Todes
ОглавлениеDas letzte Mal, dass ich in einen Spiegel blickte und Daddy sah? Das war, als ich das letzte Mal versuchte, meine Tochter anzurufen. Der Tag, an dem ich mir ein ägyptisches Kreuz auf den Handrücken tätowieren ließ. Eigentlich sind Hand-Tattoos in den meisten Staaten der USA verboten, es sei denn, man kennt die richtigen Leute. Es war das Jahr 1996 und ich lebte zu einer Zeit in Seattle, als die Stadt noch ihren rauen Charme besaß. Ich kannte mich gut genug in der Szene aus, um jemanden zu kennen, der jemanden kannte und – voilà – bekam ich für 25 Dollar mein Hand-Tattoo. Der Typ bekam sogar noch fünf Dollar Trinkgeld von mir, weil es nicht wehgetan hatte, obwohl Tattoos so dicht am Knochen sehr schmerzen sollen.
Vor Tausenden von Jahren symbolisierte das ägyptische Kreuz für nordafrikanische Priester, Priesterinnen und Heilige, die weder männlich noch weiblich waren, so etwas wie »Ewiges Leben«, »Das göttliche Androgyne« oder »Die Macht des Sex«. Suchen Sie sich eins aus. Für mich stellt es genau die richtige Mischung an Bedeutungen dar, um die Stelle zu kennzeichnen, wo jene Herzdame namens Tod mir die Hand geküsst hatte.
Zuvor am gleichen Tag hatte mich das Krankenhaus angerufen und bestätigt, dass ich an chronischer lymphatischer Leukämie erkrankt war. Damals glaubte ich den Ärzten noch nicht, dass es sich bei CLL um ein sehr langsam fortschreitendes Krebsleiden handelte, das mich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht umbringen würde. Ich war 48 Jahre alt, der Tod hatte mir die Hand geküsst und ich wollte mich mit meiner Tochter versöhnen, mit der ich seit fast 16 Jahren nicht gesprochen hatte.
Es war nicht etwa so, dass ich all die Jahre nicht mit ihr hätte sprechen wollen, tatsächlich war es aber so, dass sie mir nicht zuhören wollte. Meine Tochter Jessica glaubte damals und glaubt heute noch mit Leib und Seele, dass ich ein hoffnungslos schlechter Mensch bin. Fakt ist, dass ihr einige aus vielerlei Gründen zustimmen würden. Lassen Sie mich ein paar davon aufzählen:
Ich bin 63 Jahre alt und habe das letzte Vierteljahrhundert in queeren Subkulturen am äußersten Rand der amerikanischen Gesellschaft verbracht. Ich schreibe Bücher, die von Papst Benedikt verdammt werden – und das sind nur die Werke, die weltweit in den Universitäten gelehrt werden. Ich bezweifle, dass der Papst über meine Pornobücher Bescheid weiß, aber die würde er wahrscheinlich auch verdammen.
Viele Menschen auf dieser Welt, ich würde sogar behaupten, die Mehrheit, halten mich für ein perverses und verkommenes Individuum, weil ich eine Transsexuelle bin. Bei meiner Geburt war ich männlichen Geschlechts, heute weisen medizinische Unterlagen und offizielle Dokumente mich als weiblich aus, obwohl ich mich selbst nicht als Frau bezeichne und mir bewusst ist, dass ich kein Mann bin. Aus genau diesem Grund ist der Papst sauer. Er befürchtet, dass solch ein Gerede – von wegen weder männlich noch weiblich – die natürliche Geschlechterordnung zerschmettern wird. Ich freue mich auf den Tag, an dem es endlich so weit ist.
Ich selbst nenne mich Trans oder Transe, was wiederum eine kleine, aber lautstarke Gruppe transsexueller Frauen aufregt, für die das Wort Transe das Gleiche ist wie der Begriff Itzig für Juden. Ach ja, ich bin übrigens jüdisch und jeder kennt ja irgendjemanden, der irgendwas an Juden auszusetzen hat. Ich bin aber auch eine tätowierte Lady und darf deswegen nicht auf einem jüdischen Friedhof begraben werden. Aber das macht nichts, weil ich ohnehin verbrannt werden will, nachdem die Ärzte alles Brauchbare haben. Meine Freundin weiß, wo die Asche verstreut werden soll. Richtig: Zu allem Überfluss bin ich auch noch eine Lesbe. In meinen Leben als Mann, Frau und Weder-Noch waren es immer die Frauen, bei denen mir die Knie weich wurden, genauer gesagt, das Knie. Mein rechtes Knie besteht aus Titan und Weltraumkunststoff und wird nie weich. Ich bin also eine Art Robo-Transe. Meine Tochter weiß von all dem nichts und selbst wenn sie es wüsste, wäre nichts von dem, was ich Ihnen bisher erzählt habe, der Grund, warum sie mich für einen schlechten Menschen hält.
Aber es gibt noch mehr, hier wird nichts verschwiegen. Ich bin Sadomasochistin, genieße also die Verbindung von Vergnügen und Schmerz. Ich bin nicht sadistisch, sondern ausschließlich masochistisch, also diejenige, die gepeitscht, geschlagen, geschnitten und gepierct wird. Ich mag es, geschnitten zu werden, und ritze mich seit meiner Jugend selbst. Und was die Piercings betrifft: Die befinden sich in Körperteilen, mit denen ich nicht geboren wurde.
Darüber hinaus leide ich an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung; der Performancekünstler und Pornograf in mir schöpft daraus jede Menge Inspiration, womit gleich noch zwei weitere Gründe genannt wären, warum man mich für einen schlechten Menschen hält.
Im Jahr 1970 wurde ich aufgrund einer psychischen Störung vom Militärdienst in Vietnam freigestellt. Damals war es gespielt. Und heute? An guten Tagen bin ich nur depressiv und mehr als ein Therapeut hat die Diagnose manisch-depressive Erkrankung in Betracht gezogen. Letztlich einigten sie sich auf Borderline, ein eigentlich undenkbarer Gemütszustand, irgendwo zwischen Neurose und Psychose und dabei der undenkbaren Geschlechtszuschreibung zwischen männlich und weiblich nicht unähnlich. Der Archetyp meiner Borderline-Störung ist die Heimatlosigkeit, genau wie bei Prinzessin Diana. Meine Essstörung ist auch so ähnlich wie ihre: Ich liebe Essen, kann nicht genug davon bekommen, aber gleichzeitig liebe ich es, so lange zu hungern, bis die Knochen durch die Haut zu sehen sind. Womit wir wieder bei Borderline wären …
Aber all diese Dinge sind meiner Tochter egal. Warum ich ein schlechter Mensch bin, hat einen ganz anderen Grund. Ich bin nachweislich das Opfer eines posttraumatischen Stresssyndroms. Aber nein, auch das ist nicht der Grund, warum meine Tochter mich für einen schlechten Menschen hält. Dass ich das Trauma überwunden habe – das macht mich in ihren Augen zu einem schlechten Menschen.
*
Einige Stunden nachdem der Typ das ägyptische Kreuz in meinen Handrücken gestochen hatte, begann es zu puckern. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich wegen der Leukämie nicht mehr genügend weiße Blutkörperchen hatte, um mögliche Infektionen zu bekämpfen. Ich musste Jessica anrufen, um ihr zu sagen, dass diese Krankheit auch in ihrem Blut lauerte. Ich wollte ihr sagen … ich wusste nicht, was ich ihr sagen wollte. Vor diesem Moment hatte ich nicht viel darüber nachgedacht. Ich wollte einfach nur »Hallo« sagen. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie immer geliebt habe. Ich wollte »Auf Wiedersehen« sagen. Doch ich wusste nicht, wie ich sie erreichen konnte. Ich hatte Briefe, Postkarten und Bargeld an unterschiedliche Adressen geschickt, aber alles kam immer wieder mit dem auf den Umschlag gekritzelten Vermerk »Empfänger unbekannt« zurück. Wie ich zog meine Tochter häufig um und ich wusste nicht, wo sie lebte. Einen Privatdetektiv konnte ich mir nicht leisten und auch meine ausgiebigen Internetrecherchen hatten ihren Aufenthaltsort nicht enthüllen können. Im Jahr 1996 gab es noch keine ausgeklügelten Webseiten zur Personensuche.
Doch mein Handrücken blutete immer noch an der Stelle, wo der Tod ihn geküsst hatte, und ich hätte es keinen Tag länger ohne den Versuch ausgehalten, sie zu erreichen. Einige Stunden später war es mir immerhin gelungen, eine Telefonnummer von Jessicas Mutter, meiner Exfrau Molly, im Internet aufzustöbern. Nach dreimaligem Klingeln ging sie ans Telefon. Ich erkannte ihre Stimme an nur einem Wort:
»Hallo?«
»Hey Molly, hier ist Kate Bornstein.« Ich hörte noch, wie sie tief einatmete, dann ein leises Klicken und die tote Leitung.
Es überraschte mich nicht. Ich wäre überrascht gewesen, wenn sie etwas gesagt hätte wie: »Mensch, Kate, hallo! Das ist aber toll, dass du anrufst. Wie läuft es denn jetzt so als Performance-Künstlerin nach all unseren gemeinsamen Jahren in Uniform? Und wie läuft’s mit deiner Frauennummer?«
Molly hatte aufgelegt, weil Scientologen genau so mit mir umzugehen haben. In ihrer Sprache bin ich eine »unterdrückerische Person«, was einfacher ausgedrückt bedeutet, dass ich ein durch und durch schlechter Mensch bin. Und genau das ist die Art Schlechtigkeit, die meine Tochter im Sinn hat, wenn sie an mich denkt. Die Ärmste wurde nämlich in die Scientology-Organisation hineingeboren und ist dort bis zum heutigen Tag ein vollwertiges Mitglied. Und ich? Ich bin ein exkommunizierter, ausgestoßener, meines Amtes enthobener Scientologe. Mehr als elf Jahre bei Scientology sind das Trauma meines Lebens und die Abkehr von der Organisation macht mich zu einer unterdrückerischen Person.
Scientologen glauben, dass achtzig Prozent der Bevölkerung aller Universen gute und anständige Menschen sind. Zwei Prozent aller fühlenden Wesen sind jedoch unterdrückerische und hoffnungslos verdorbene Personen. L. Ron Hubbard, der Gründer von Scientology, ist immer sehr genau, wenn es um Zahlen geht. Zwei Prozent entsprechen ungefähr der Anzahl an Menschen, die mit einer Borderline-Persönlichkeit leben.
Unterdrücker wie ich sind so böse, dass schon ein Gespräch ausreicht, um ernsthafte Krankheiten hervorzurufen. Wenn Sie mit der Lektüre dieses Buches fortfahren, könnte Sie das an viel grauenhaftere Orte führen als sämtliche Höllen, die althergebrachte Religionen so hervorgebracht haben. Es ist ein Riesenspaß, mich zu kennen, oder?
Mich gibt es nur mit einem Warnhinweis: Scientologen glauben, dass Sie, wenn Sie weiterlesen, eine »Potential Trouble Source« – eine potenzielle Gefahrenquelle – werden. Sie werden zu einer Gefahr und die Organisation ist nie besonders freundlich mit Unruhestiftern umgegangen. Dieses Buch bedeutet Ärger für die Organisation. Also, nicht allzu viel Ärger. Wer glaubt schon einem Freak wie mir? Die Organisation hat genug mit schwerwiegenderen Unruhestiftern zu tun, um sich wegen mir Sorgen zu machen. Trotzdem wird kein Scientologe, meine Tochter und ihre beiden Kinder eingeschlossen, das Buch lesen dürfen, das ich für sie schreibe. Ich möchte, dass sie wissen, was aus ihrem Daddy und Opa geworden ist. Und ja, es tut mir leid. Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich meine Tochter und meine Enkel mit diesem Buch in die schwierige Lage bringe, entweder ihre Neugier über mich nicht befriedigen zu können, zu einer potenziellen Gefahrenquelle oder sogar zu einer unterdrückerischen Person wie ihr Vater und Großvater zu werden.
*
Molly hatte also aufgelegt und ich stand da wie ein Idiot, den Telefonhörer in der Hand. In diesem Moment wurde mir klar, dass es niemals möglich sein würde, Jessica zu kontaktieren. Niemals. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nur ein Leben mit Scientology gekannt. Ich hatte selbst daran geglaubt, habe also keine moralische Grundlage, sie zu kritisieren oder ihren Lebensweg auf der Suche nach Freiheit zu versauen. Aus dem Telefonhörer ertönte ein schreckliches Tuten und ich legte auf.
Ich weinte nicht, heulte nicht den Mond an und verfluchte nicht das vermeintlich ewige Leben L. Ron Hubbards. Ich verfluchte auch nicht irgendwelche anderen Scientologen, die meine Tochter mit ihren Grundsätzen gegen mich aufgebracht hatten. Ich ging auch nicht ins Internet, um meine Wut und Trauer mit Tausenden Ex-Scientologen zu teilen, die mich aufgemuntert und unterstützt hätten. Ich tat keine dieser gesunden Dinge. Stattdessen stieg ich ganz ruhig die Treppen zum Bad meines kleinen Häuschens in Seattle hinauf und nahm vom Arzneischränkchen die kleine schwarze Ledertasche mit meiner Sammlung von Klingen, Alkoholtupfern und Nadeln. Ich wählte das Skalpell Nr. 10, schon immer mein Favorit. Ich schaute in den Spiegel, sah meine Rippen und musste lächeln. Genau über den Rippen, genau über meinem Herz schnitt ich mir ein Valentinsherz in die Haut.
Wo die Klinge zuerst die Haut schneidet, tut es am meisten weh. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann fühlt man Wärme, viel Wärme. Das Blut folgt, aus dem chirurgisch feinen Riss quellend, der Klinge. Dein Blut ist der Lohn. Dein Blut ist der Beweis dafür, dass du offen und am Leben bist. Dein Blut sagt dir, dass du dich umbringen kannst, wenn du es wirklich willst.
Das Schneiden war für mich immer schon orgastisch und ich kam, wie Ritzer kommen: Der Orgasmus als vollkommene Erleichterung. Genitalien haben damit nichts zu tun. Wenn man sich geschnitten hat, fühlt man keine Traurigkeit oder keinen Ärger mehr und der Lebenswillen erstarkt wieder. Nach dem Ritzen kann man seinen Herzschmerz zur Seite legen und genau das tat ich. Ich legte Jessica beiseite und wandte mich dem nächsten Punkt auf meiner Bevor-ich-sterbe-Liste zu: Ich wurde eine Blondine.
Seit meiner Geschlechtsumwandlung waren etwa zwölf Jahre vergangen und ich hatte mir die Haare noch nie blond gefärbt. Mein ganzes Leben hatte ich schon den Ruf der Blondheit vernommen, so wie andere den Ruf in den Dienst des Herrn hören. Ich wollte eine scharfe Blondine sein, wie Geena Davis in dem Film Tödliche Weihnachten. Ich wollte Haare haben wie sie, ich wollte ihre Augen, ihren Mund. Allerdings hatte ich den Großteil meines Lebens als Jude russischer Abstammung verbracht, der auf eine herbe Art gut aussah. Ich machte mir Sorgen, dass zu viel dieser derben Männlichkeit durch das Blond schimmern und mich aussehen lassen würde wie ein gelbhaariger Typ in einem Kleid. Das hätte mich zu einem flachsblonden Freak gemacht, zu einem platinblonden Clown. Aber irgendein Engel da oben muss meine Gebete erhört und sich meiner erbarmt haben, weil ich nämlich letztendlich eine umwerfend süße Blondine abgab. Und so ging ich zum nächsten Punkt auf meiner Bevor-ich-sterbe-Liste über: ein Star werden.
Seattle ist großartig für Depressive mit suizidalen Tendenzen, aber kein Ort für eine unbekümmerte Blondine, die von Berühmtheit träumt. Drei Wochen nachdem aus mir eine Blondine geworden war, mietete ich mir einen kleinen Laster und fuhr gen Osten nach New York City. Mit dabei waren eine alte, orangefarbene Katze namens Gideon und eine Butch-Lesbe, die keinem Geringeren als dem jungen, charmanten Christopher Walken auf ganz entzückende Weise ähnlich sah.
*
Das ist 14 Jahre her. Die letzten fünf Jahre habe ich an diesem Buch geschrieben, entgegen der Empfehlung von drei sehr angesehenen Psychologen. Meine lahmarschige Leukämie hat mich immer noch nicht umgebracht und ich erwarte auch nicht mehr, dass sie es tut. In diesen 14 Jahren bin ich meinen Zielen abwechselnd nachgejagt oder vor ihnen weggerannt, aber ein Star bin ich nicht geworden. Jedoch könnte ich auf dem besten Weg dorthin sein. Seitdem ich an diesem Buch schreibe, habe ich mir einen Platz als kleine Berühmtheit in der Ruhmeshalle der amerikanischen Homoszene und postmodernen Subkultur gesichert. Das macht mich glücklich. Und dieses Buch habe ich geschrieben, um zwei weitere Herkulesaufgaben auf meiner Bevor-ich-sterbe-Liste abzuhaken: Die Versöhnung mit dem Leben meiner Tochter als Scientologin und die Auseinandersetzung mit dem Geist meines toten Vaters.
Ich war noch ein Mann, als mein Vater starb und ich auf seine Beerdigung ging. Das Einzige, was mich davon abhielt, auf seinen Sarg zu spucken, war mein Respekt vor der tiefen Liebe, die meine Mutter für diesen Mann empfand. Er hat mich zwar nur einmal geschlagen, aber er wusste Zeit seines Lebens, wie er mir Angst machen konnte. Er war mein schlimmster Peiniger und als Sohn war ich eine große Enttäuschung für ihn. Ich war der Träumer, der nie etwas auf die Reihe bekam, und er der Bösewicht: arrogant, distanziert und einschüchternd. So sehr wir beide es auch versuchten, wir waren nie wirklich nett zueinander. Ich habe mein Leben als Mann vor allem aufgegeben, weil ich nie so werden wollte wie er.
Was für eine Zwickmühle: Ich bin heute, was ich damals nicht sein konnte und zwar eine Tochter für meinen Vater. Andererseits war ich später, was jetzt nicht mehr möglich ist, ein Vater für meine Tochter. Ich habe eine Vater-Sohn-Geschichte, von der nur wenige Menschen wahrhaftig und aus eigener Erfahrung berichten können. Diese Geschichte wollte ich meiner Tochter seit dem Tag erzählen, an dem ich sie vor über dreißig Jahren verlassen habe. Sie war neun Jahre alt, geboren am 4. Juli. Ich habe bis heute mit dieser Geschichte gewartet, weil ich große Angst vor einer ziemlich wahrscheinlichen Vergeltung seitens Scientology hatte. Als brandneue »Religion« befindet sich die Organisation auf einer grundlegenden Entwicklungsstufe, die in jeder Hinsicht von der Unfehlbarkeit ihres Gründers L. Ron Hubbard abhängt. Aus dieser Überzeugung heraus folgen Scientologen seinen Schriften so genau und bedingungslos wie wahrscheinlich alle Fundamentalisten ihren Schriften folgen: Wort für Wort.
Folgendes also muss – muss! – laut L. Ron Hubbard mit Unterdrückern wie mir passieren: Als Erstes sollen wir offiziell als Feinde der Organisation erklärt werden, was bei mir geschehen ist. In jedem Scientology-Gebäude der Welt müsste ein leuchtend gelber Zettel zu finden sein, auf dem steht: »Al Bornstein ist ein Feind der Organisation.« Seit ich im Jahre 1982 offiziell zum Feind erklärt wurde, habe ich einen Status, den man als Fair Game, also so etwas wie Freiwild, bezeichnet. Scientologen werden leugnen, dass es so etwas gibt. Sie werden behaupten, ich habe diesen Unsinn über Fair Game erfunden. Wenn dem so sein sollte, gibt es Tausende anderer, die zufällig das Gleiche erfinden.
Scientologen glauben, dass nichts wahr ist, was nicht auch geschrieben steht. Es ist so, dass L. Ron Hubbard Richtlinien geschrieben hat, wie genau man jemanden als Fair Game zu erklären und wie man diese Person zu behandeln hat. Ich würde das an dieser Stelle für Sie zitieren, aber ich habe eigentlich keinen Bock, mich von denen wegen Urheberrechtsverletzungen verklagen zu lassen. Davon mal abgesehen ist innerhalb der Organisation auch jede Umschreibung der Worte ihres Gründers ein Schwerverbrechen, was weiterhin beweist, dass ich eine unterdrückerische Person bin. Dann soll es wohl so sein. Hier kommt also in groben Zügen, was L. Ron im Oktober 1967 über Unterdrücker wie mich geschrieben hat.
Wenn Sie Scientologe sind, erlaubt Ihnen der Gründer der Organisation, er befiehlt Ihnen sogar, mich in jeder Hinsicht schlecht zu behandeln. Das ist Ihre Pflicht als Mitglied. Sie dürfen mich bestehlen und mir mit allen Mitteln Schaden zufügen. Kein Scientologe wird deshalb schlecht über Sie denken, ganz im Gegenteil: Wenn Sie es schaffen, mich so zu bearbeiten, dass ich keine Bedrohung mehr für Scientology und die Menschheit darstelle, erhalten Sie einen Orden. Es ist Ihnen erlaubt, mich mit allen Mitteln reinzulegen, Sie dürfen mich verklagen, Sie dürfen mich anlügen. Die Regeln zu Fair Game finden Sie im Internet. L. Ron Hubbard verwendet sogar das Wort »destroy«, also zerstören.
Scientologen werden argumentieren, dass ihr Gründer dieses Dokument zwar verfasst hat, ich aber trotzdem nichts zu befürchten habe. Ein Jahr später, am 21. Oktober 1968, schrieb L. Ron Hubbard nämlich (ich umschreibe wieder), dass Scientology aufhören müsse, Menschen offiziell zu Fair Game zu erklären. Von diesem Tag an tauchten diese Worte nie wieder in einer offiziellen Veröffentlichung der Organisation auf. L. Ron Hubbard erklärte schriftlich, dass die Fair-Game-Maßnahmen schlechte Presse hervorgerufen hätten. Allerdings machte er sofort deutlich, dass auch bei einem Verzicht auf die Bezeichnung Fair Game entsprechende Personen weiterhin so behandelt werden dürften. All dies lässt sich einfach im Netz recherchieren.
1970 trat ich Scientology bei und 1982 verließ ich die Organisation wieder. L. Ron Hubbard starb 1986, nur wenige Monate nach meiner Geschlechtsumwandlung. Seither wurden Mitarbeiter und mutmaßliche Auftragnehmer von Scientology in Prozessen wegen Erpressung, Diebstahl, Belästigung und sogar wegen physischer Bedrohung verurteilt. Das sind wirklich gruselige Leute und ich bin, wie gesagt, ein leichtes Ziel, wenn es darum geht, schmutzige Details in meinem Leben zu finden.
Andererseits könnte alles auch gelogen sein. Im Ernst, ich könnte alles nur erfunden haben, um Scientology zu zerstören oder zumindest zu schwächen. Es gibt nämlich noch eine Sache, die Sie über unterdrückerische Personen wissen sollten: Wir lügen immer. Wir lügen immer, weil wir alles wirklich Gute zerstören wollen – und was könnte es Besseres für die Menschheit geben als Scientology?! Soweit zur Logik hinter der Fair-Game-Regelung.
Ich will nicht lügen. Deshalb habe ich mir vor der Niederschrift des ersten Entwurfs dieses Buches fünf Wörter in meinen rechten Handrücken tätowieren lassen. Sie wurden in weißer Farbe mit einem Schattenwurf in der Farbe getrockneten Blutes gestochen. Die Worte sehen aus, als wären sie in meinen Handrücken geritzt worden und vernarbt: I must not tell lies.
»Ich soll nicht lügen.« Fragen Sie einen Harry-Potter-Fan, was genau diese Worte bedeuten und warum ich wollte, dass es so aussieht, als wären sie in meinen Handrücken geritzt worden. Oder Sie googeln die englischen Worte des Tattoos und meinen Namen, dann finden Sie sogar ein Bild. Ich soll nicht lügen. Das Tätowieren war genauso schmerzlos wie bei dem ägyptischen Kreuz auf meiner linken Hand. Die Tattoos passen gut zueinander. Als eine alte Lady oder was auch immer ich sein mag, habe ich viel gelernt über die Macht von Sex, die Weisheit der Androgynität und sogar über die Logik ewigen Lebens. Ich verspreche, dass ich jeden unterdrückerischen Drang bekämpfen werde, über diese Dinge zu lügen.
Über dreißig Jahre lang hatte ich zu viel Angst vor Scientology, um auch nur zu versuchen, eine Brücke zu meiner Tochter zu schlagen. Jetzt werde ich es wagen. Außerdem haben die letzten Jahre meines Lebens begonnen und ich will nicht mit diesem eindimensionalen Bild von meinem Vater als schlechtem Menschen ins Grab steigen. Und schlussendlich würde ich mich freuen, wenn meine Tochter und meine Enkel Lust darauf hätten, ein paar zusätzliche Dimensionen in ihrem Vater und Großvater zu entdecken.