Читать книгу Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock - Страница 22
2.3.2 Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden
ОглавлениеBegleitet wird Philip Moses von Benjamine, seiner fürsorglichen und frommen Enkelin, die ihm als einzige ihre ungebrochene Loyalität und Liebe entgegenbringt. Benjamines Mutter Rahel, die Tochter des alten Rabbiners, ist früh verstorben, und da Benjamine auch keinen Vater mehr hat, lebt sie abwechselnd bei ihren beiden Onkeln Samuel und Isaak. In der Novelle wird nicht ausdrücklich erwähnt, dass der Vater ebenfalls verstorben ist, doch ist davon auszugehen, da Benjamine „fader- og moderløs [vater- und mutterlos]“ ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 106). Bemerkenswert ist diese unkommentierte Leerstelle insofern, als dem Vater offenbar keine Bedeutung beigemessen wird. Die Figur des weisen Patriarchen ist durch den alten Rabbiner abgedeckt, die negativen jüdischen Figuren durch die beiden Söhne des Rabbiners. Die verstorbene oder abwesende Mutter ist Teil des Narrativs von der ‚schönen Jüdin‘ und findet sich in fast allen anderen Texten dieser Analyse wieder.1 Der abwesende Vater, der weder als negativ konnotierter „Geldjude“ noch als alter Patriarch dargestellt werden muss, da diese Figuren bereits besetzt sind, hat keinen literarischen Kontext, in den er sich einschreiben könnte, und bleibt somit unerzählt.
In der Kälte der Herbstnacht überredet Benjamine ihren Großvater, mit ihr zu Isaak zu kommen, mit dem ihr Großvater seit fünf Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, seit Isaak eine Christin geheiratet hat. Da Philip Moses und Benjamine sonst keinen Zufluchtsort haben, suchen sie nun Schutz bei Isaak und seiner Frau. Die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin ist in der Literatur, im Gegensatz zu der umgekehrten Konstellation, ein äußerst seltenes Ereignis. Wo angedeutet, zum Beispiel in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Die Juden, findet sie keine Erfüllung (vgl. Lezzi 2006: 61–62, 2013: 67–72). Vor allem aber ist bemerkenswert, dass der jüdische Mann vor der Eheschließung nicht zum Christentum konvertiert ist. In der umgekehrten und weitaus üblicheren literarischen Konstellation, der Liebesbeziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem christlichen Mann, ist dies nämlich nahezu immer Vorbedingung (vgl. Krobb 1993; Lezzi 2013). IngemannIngemann, Bernhard Severin orientiert sich in diesem Fall also offenbar am damals geltenden dänischen Recht, das für die Eheschließung zwischen Jüd*innen und Christ*innen keine Konversion voraussetzte (vgl. Schwarz Lausten 2012: 192–193). In Den gamle Rabbin ist jedoch wahre Liebe an wahre Religiosität gekoppelt, was beides in der Ehe zwischen Isaak und seiner Frau nicht gegeben ist. So ist diese Ehe weder erfüllt von Liebe, noch stellt sie eine wahrhaft interreligiöse Verbindung dar, denn beide Eheleute haben sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, von ihrer Religion ab- und dem Säkularismus zugewandt.
Die Assimilation des Juden in die christlich-säkulare Mehrheitsgesellschaft scheint bereits vollzogen; von der jüdischen Religion und Tradition hat Isaak sich weitestgehend entfernt. Seine fünf Kinder sind allesamt blond und blauäugig, als hätte der Grad der Assimilation sich bereits in die Körper der Folgegeneration eingeschrieben und jegliche Verbindung zu den leiblichen Vorfahren väterlicherseits auch biologisch abgebrochen. Isaak lebt das assimilierte Leben, das die Juden im Hause Samuels in ihrer Not erst zu entwerfen versuchen. Als Kleiderhändler lebt er einen bürgerlichen Wohlstand, ist aber nicht reicher als viele andere auch. Er unterhält freundschaftliche Kontakte zu Juden wie Christen, die in seinem Haus ein- und ausgehen – wenngleich die Novelle, als die Handlung im Haus von Isaak spielt, tatsächlich nur von Christen erzählt, die dort zu Gast sind. Isaak hat seine Religion weitestgehend abgestreift, ohne eine andere angenommen zu haben. Kurz: Er verkörpert ein säkularisiertes, in der Auflösung begriffenes Judentum. Seine bürgerlich etablierte Lebenssituation stellt scheinbar eine Alternative und einen Kontrast zum ausschließlich an ökonomischen Gewinn interessierten Bruder dar. Doch das Problem ist hier ebenfalls ein Mangel an Nächstenliebe, welcher sich aus einem Defizit an gelebter und empfundener Religiosität ergibt. Isaak nimmt seinen Vater zwar bei sich auf, doch schnell stellt Philip Moses auch hier einen Fremdkörper dar, dessen Anwesenheit den Anderen bald lästig wird. Auch die Freunde des Hauses verhalten sich Philip Moses gegenüber respektlos und äußern sich in seiner Anwesenheit gar zustimmend und verharmlosend über die judenfeindlichen Ausschreitungen, die noch immer nicht ganz abgeklungen sind. Schließlich stellt sich sein fünfjähriger blonder Enkel vor den alten Rabbiner hin, um seinen demütigenden Spaß mit ihm zu treiben: „[H]ar jeg en skægget Smaus til Bestefader, som ikke tør spise Flesk? nei, ham skal vi lege Hep Hep med, som de andre Drenge [Hab ich einen bärtigen Schmautz (Schimpfwort für ‚Jude‘, KB) zum Großvater, der nicht wagt, Schweinefleisch zu essen? Nein, mit ihm wollen wir Hep Hep spielen, wie die anderen Jungen]“( IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 113). Benjamine, tief getroffen von den Schmähungen gegen ihren Großvater, hält ihrem kleinen Cousin weinend die Hand vor den Mund, Isaak unternimmt einen vagen Versuch, seinen Vater zu verteidigen, doch seine Frau nimmt „det unskyldige Barn [das unschuldige Kind]“ in Schutz und beklagt: „[H]erefter tør Ingen af os mere lukke Munden op i vort eget Huus [Hiernach wagt keiner von uns mehr, den Mund in unserem eigenen Haus aufzumachen]“ (Ingemann 2007: 114). So sieht sich Philip Moses erneut gezwungen aufzubrechen und auch das Haus seines zweiten Sohnes zu verlassen. Begleitet wird er wiederum von Benjamine, die ihn nicht aus den Augen und aus ihrer Obhut lässt, und die im Hause ihres Onkels und der angeheirateten Tante ohnehin nicht mehr als einen Platz zum Schlafen und eine Menge Hausarbeit zur Aufgabe bekam.
Auch im Haushalt seines zweiten Sohnes Isaak fehlt es also an Wärme und Liebe ebenso wie am Glauben an Gott, auch hier wird Philip Moses gewaltvoll von seiner eigenen Familie und Gemeinschaft ausgegrenzt. Während draußen vorm Hause Samuels der „hamborgske Pøbel [hamburgische Pöbel]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 105) die geschäftstüchtigen Juden bedroht, sind im Hause Isaaks Christen und Juden in ihrer areligiösen Gefühlskälte miteinander vereint. Obwohl „Christen“ genannt, ist mehr als deutlich, dass diesen Christen jegliche Form der Nächstenliebe fremd ist. Auch der Respekt vor dem alten Rabbiner fehlt ihnen, als sie einander spöttisch fragen: „Hvem er den underlige Gamle? – han taler jo som en Bibel [Wer ist der wunderliche Alte? – Er redet ja wie eine Bibel]“ (Ingemann 2007: 113). So stellt sich in der Novelle der Konflikt nicht zwischen Juden und Christen dar, sondern zwischen aufrichtigem Glauben und Gottesferne. Gottesferne führt stets zu Ausgrenzung, die in der Novelle durch die wiederholten Ortswechsel erzählt wird, zu denen Großvater und Enkelin genötigt sind. Kritik richtet sich nicht gegen eine der beiden Religionsgemeinschaften, sondern gegen die Säkularisierung. Die Jüdin und der Rabbiner als idealisierte Figuren in diesem philosemitischen Konstrukt sind die Opfer dieser Verweltlichung, die Opfer einer Gesellschaft, die seit der Aufklärung einen rasanten Wandel vollzieht.
Konfessionelle Beliebigkeit und Konversion aus Kalkül sind Vorwürfe, die auch aus späteren Werken IngemannsIngemann, Bernhard Severin herauszulesen ist. So weist Mogens Brøndsted darauf hin, dass die Konversion zum Christentum, wie sie „Heinrich Heine og konsorter [Heinrich Heine und Konsorten“] (Brøndsted 2007b: 16) vollzogen haben, von Ingemann in seinem Drama Renegaten [Der Renegat; 1838] (1853a) kritisch karikiert wird. „Derimod havde Ingemann respekt for den gammeljødiske ånd, som det ses af fortellingen ‚Den gamle Rabbin‘ [Hingegen hatte Ingemann Respekt vor dem altjüdischen Geist, wie an der Erzählung ‚Den gamle Rabbin‘ zu sehen ist]“ (Brøndsted 2007b: 16). Doch dieser „altjüdische Geist“ ist ein Phantasma, der einer christlichen Wunschvorstellung vom Judentum entspringt. Die Texte Ingemanns schreiben sich in die vorherrschende Religionsauffassung der deutschen Romantiker ein, wie der Germanist Wolf-Daniel Hartwich in seiner Monografie Romantischer Antisemitismus (2005) dargelegt hat:
Die Romantiker beklagen in der Gegenwart den allgemeinen geistig-religiösen Niedergang der westlichen Kultur durch ihre Säkularisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung. Das Judentum habe diesen Prozeß nicht bewirkt, fördere diesen aber und profitiert [sic!] von ihm. Die romantische Apokalyptik vollzieht keine dualistische Konfrontation mit dem Judentum. Vielmehr wird in der jüdischen Überlieferung selbst[,] als der ältesten göttlichen Ursprungs[,] das genetische Potential der Erlösung gesehen. Die jüdische Urgeschichte wird dabei in die christliche Kunstreligion transformiert. (Hartwich 2005: 27)
Neben den opportunistischen Juden dieser Novelle sind es also einzig Philip Moses und Benjamine, die eine aufrichtige Nähe zu Gott und damit „das genetische Potential der Erlösung“ repräsentieren. In ihren Figuren verschränken sich Konzepte von Religiosität, Geschlecht und Alter hierarchisch: Während Philip Moses’ Handeln stets auf Gott bezogen ist, ist Benjamine mit ebensolcher Innbrunst auf ihren Großvater bezogen. Während Philip Moses Gott gegenüber absolut loyal ist, ist Benjamine ihrem Großvater gegenüber vollkommen loyal. Doch bietet die Novelle Benjamine noch einen anderen religiösen Weg an, der sie zunächst in große Gewissensnöte bringt: den jungen christlichen Maler Veit.