Читать книгу Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock - Страница 29
2.7 Ewiges Wandern – Ahasverus
ОглавлениеDie Novelle Den gamle Rabbin wird strukturiert durch Aus- und Einschlussprozesse einerseits, erzählt anhand der drei Haushalte, in denen Benjamine und Philip Moses Zuflucht suchen, und durch das Motiv der Mobilität und Rastlosigkeit andererseits, wenn die beiden Figuren sich von einem Haus zum nächsten und damit jeweils in eine ungewisse Zukunft aufmachen. Damit schreiben sich die Figuren Benjamine und Philip Moses in einen weiteren Topos ein: den des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. 1602 tauchte dieser erstmals in der pseudonym verfassten Ahasveruslegende Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden/mit Namen Ahaßverus auf (vgl. Körte 2006: 43). Die Figur steht, obwohl selbst eben gerade kein Heiliger, durch ihren legendenhaften Charakter in einem heilsgeschichtlichen, christlichen Kontext (vgl. Körte 2000: 11 [Fußnote 1]; Rosenfeld 1982: 1–2, 15–19).1 Dabei ist Ahasverus nicht als Individuum gestaltet, sondern fungiert als „Protagonist einer L.[egende] v.a. als exemplarische Projektionsfläche bestimmter Ideen“ (Burdorf/Fasbender/Moennighoff/Schweikle, G./Schweikle, I. 2007: 425; vgl hierzu Körte 2006: 44–46). Als geistiges Kind der Reformation verbreitete er sich in den folgenden zwei Jahrhunderten soweit in der Literatur Europas, dass er schließlich zur literarischen Topos wurde. André Jolles bezeichnet Ahasverus als einen „unheiligen Gegenfüßler“ (1968: 52) zu den Heiligenfiguren der christlichen Legenden. Dennoch trägt auch er zum Heilsgeschehen bei, ist also selbst Legende, wenn auch eine „Antilegende“ (Jolles 1968: 51). Ahasverus soll ein Schuhmacher in Jerusalem zur Zeit Jesu gewesen sein, der dem Heiland auf seinem Weg nach Golgatha die Rast vor seinem Haus verweigert hat. Zur Strafe soll er dazu verdammt worden sein, bis in alle Ewigkeit auf Erden umherzuwandern, ohne sterben zu können oder jemals zur Ruhe zu kommen (vgl. Körte 2000: 27–48; für den dänischen Kontext vgl. Dal 1965; Edelmann 1965). Gesehen zu werden ist sein einziger Zweck. „Kein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Mann wie andere Sünder, wie sogar Judas selbst, für sein Unrecht in der Hölle hätte büßen müssen; Wunder ist, daß er nicht stirbt, daß er ewig lebend, allen sichtbar umherwandelt“ (Jolles 1968: 52). Auf diesen Topos spielt die Novelle nicht nur mit ihrer Struktur und der Rastlosigkeit ihrer Figuren an. Auch die Figurenrede verweist auf Ahasverus, wenn Philip Moses, als er das Haus seines zweiten Sohnes Isaak verlässt, zu Benjamine sagt: „Lad mig gaae, mit Barn! og græd ikke fordi jeg vandrer saa ene! jeg vil heller gaae huusvild paa Jorden, end laane Tag i Forargelsens Bolig [Lass mich gehen, mein Kind! und weine nicht, weil ich so einsam wandere! ich will lieber heimatlos auf Erden wandern, als Schutz in der Wohnstätte des Ärgernisses zu suchen]“ und Benjamine ihm antwortet: „Nu vel, saa bliver jeg hos dig [Nun gut, dann bleibe ich bei dir]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 108). Benjamine und ihr Großvater sind ebenfalls rastlos, heimatlos, selbst innerhalb ihrer eigenen Familie und Gemeinde sind sie Fremde und Nicht-Zugehörige. Für alle sind sie sichtbar: für Christ*innen und Jüd*innen, für die Figuren und die Leser*innen. Erst mit der Hinwendung zum Christentum werden beide jüdischen Figuren von ihrer ewigen erzwungenen Wanderschaft erlöst. Damit deutet sich ein weiteres Mal die Nähe zu Ahasverus an, denn in der Literatur ist er stets dadurch gekennzeichnet, dass entweder „der Ewige Jude […] keine Entwicklung hat“ (Körte 2006: 47) oder die einzig mögliche Entwicklung ihn direkt ins Christentum führt. Philip Moses repräsentiert durch seine Sprache, seinen greisen Körper und schließlich seinen todesähnlichen Krankheitszustand eben jene Entwicklungslosigkeit, die auch Ahasverus verkörpert. In seinem Bann ist Benjamine ebenfalls dem Schicksal des Ahasverus ausgeliefert. Für Philip Moses fällt die Entwicklung zum Christentum mit dem Moment des Todes zusammen, seine Geschichte ist hier also auserzählt. In der Figur der Benjamine findet ebenfalls allein durch ihre Bekehrung zum Christentum eine Entwicklung statt, denn in diesem Schritt kann Benjamine sich aus der starren Perspektivlosigkeit, an der ihr Großvater festhält, lösen. Sie erlebt also als junge Frau ihre Erlösung noch zu Lebzeiten. Doch damit ist auch ihre Geschichte als Jüdin auserzählt und die Novelle endet.
Der ‚ewige Jude‘ Ahasverus wird IngemannIngemann, Bernhard Severin noch einmal beschäftigen. 1833 erscheint sein umfangreicher (immerhin 237 Seiten umfassender) Gedichtzyklus Blade af Jerusalems Skomagers Lommebog [Seiten aus dem Notizbuch des Schuhmachers von Jerusalem] als eine Art lyrisches Reisetagebuch des ‚ewigen Juden‘. Als Unzugehöriger, der durch alle Länder und die Jahrhunderte wandert, wird er in der Rezeption des Zyklus als Verkörperung des autoreigenen „Fremmedfølelsen [Fremdheitsgefühls]“ (Akhøj Nielsen 2001–2017) in seiner Gegenwart begriffen. „Et karakteristisk udtryk for denne stemning […] er hans identifikation med Ahasverus i digtkredsen [Ein charakteristischer Ausdruck dieser Stimmung ist seine Identifikation mit Ahasverus im Gedichtzyklus]“ (Minke 2008). Wie Ahasverus als Identifikationsfigur nicht nur für Ingemann, sondern für den suchenden Dichter generell literarisch fruchtbar gemacht werden konnte, soll im folgenden Exkurs anhand eines weiteren Textes von AndersenAndersen, Hans Christian dargestellt werden (vgl. auch Thing 2001: 123–162).