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2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855)

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IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin lässt sich in ihrer Funktionsweise weiter erhellen, wenn man sie mit einem deutlich später verfassten Text des eine Generation jüngeren Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian in Beziehung setzt, dem Märchen Jødepigen [Das Judenmädchen], das 1855 veröffentlicht wurde. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den beiden Erzählungen sind frappierend. In Andersens Jødepigen wird das jüdische Mädchen Sara bereits im Schulkindalter mit den Schriften des Neuen Testaments vertraut gemacht. Als einziges jüdisches Kind an seiner Schule folgt es aufmerksam dem christlichen Religionsunterricht, an dem es jedoch gar nicht teilnehmen darf, sondern stattdessen seine Schulaufgaben erledigen sollte. Doch bemerkt der Lehrer bald das ungewöhnliche Interesse des Mädchens, das „med sine sorte straalende Øine [mit seinen schwarzen leuchtenden Augen]“ dem Unterricht lauscht, „og da han spurgte ogsaa hende, vidste hun bedre Besked end Alle de Andre. Hun havde hørt, forstaaet og gjemt [und als er auch sie fragte, wusste sie besser Bescheid als all die anderen. Sie hatte gehört, verstanden und es behalten]“ (Andersen 2007a: 123). Der Lehrer stellt ihren Vater vor die Wahl, Sara entweder von der Schule zu nehmen oder taufen zu lassen und sagt zur Begründung: „Jeg kan ikke udholde at see disse brændende Øine, den Inderlighed og ligesom Sjæletørst efter Evangeliets Ord! [Ich kann es nicht ertragen, diese brennenden Augen zu sehen, diese Innigkeit und gleichsam diesen Seelendurst nach den Worten des Evangeliums!]“ (Andersen 2007a: 123). So entscheidet Saras Vater, sie von der Schule zu nehmen, denn er hat einst ihrer sterbenden Mutter am Totenbett das Versprechen gegeben, dafür Sorge zu tragen, dass Sara niemals den Glauben ihrer Väter verlassen werde. Dieses Versprechen sei ihm „som en Pagt med Gud [wie ein Pakt mit Gott]“ (Andersen 2007a: 123). Im Gegensatz zu Philip Moses und vielen weiteren jüdischen Männerfiguren, die in dieser Arbeit untersucht werden, stellt er selbst keinen Patriarchen dar, sondern steht der religiösen Entwicklung seiner Tochter vielmehr mit einer gewissen toleranten Indifferenz gegenüber, sieht sich jedoch durch sein Gelübde verpflichtet, die weitere Auseinandersetzung seiner Tochter mit dem Christentum zu verhindern. Die verstorbene Mutter nimmt hier die Funktion gegenüber Sara ein, die der alte Großvater gegenüber Benjamine hat. Doch im Gegensatz zum Rabbiner, der auf dem Sterbebett den Heiligen Geist empfängt und so seiner Enkelin gewissermaßen posthum den Segen zur Taufe und zur Ehe mit einem Christen geben kann, ist diese jüdische Mutter schon lange tot, ihre Rolle als religiöse Kontinuitätsgarantin damit unveränderlich festgeschrieben.1 Wo die Begegnung des alten Patriarchen Philip Moses mit dem Heiligen Geist die Erlösung für seine Enkelin Benjamine bringt, bleibt dieses Ereignis in der Mutter-Tochter-Konstellation dieser Erzählung unmöglich, und auch der Vater ist durch die Dominanz der toten Mutter und der Unwiderrufbarkeit ihrer letzten Wunsches handlungsunfähig. So findet diese Erzählung kein glückliches Ende. Sara wird ein Dienstmädchen im Haus einer christlichen Familie. Fleißig, still und fromm verrichtet sie ihren Dienst über Jahre, und auch als der Hausherr stirbt und die Hausdame in ärmlichen Verhältnissen leben muss, bleibt Sara bei ihr.

[H]un var Hjelpen i Nøden, hun holdt det Hele sammen; hun arbeidede til ud paa Natten, skaffede Brød i Huset ved sine Hænders Gjerninger, […] Sara vaagede, pleiede, arbeidede, mild og from, en Velsignelse i det fattige Huus. (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 125–126)

Sie war die Hilfe in der Not und hielt das Ganze zusammen; sie arbeitete bis in die Nacht hinein, schaffte Brot ins Haus durch ihrer Hände Tat, Sara wachte, pflegte, arbeitete, mild und fromm, ein Segen in dem armen Haus.

Als die alte Frau sie bittet, Sara möge ihr aus der Bibel vorlesen – womit sie das Neue Testament meint – gerät Sara, die sich all die Jahre an das Gelübde gehalten und niemals mehr in die christliche Bibel geschaut hat, in Gewissensnot, ist jedoch durch den Wunsch der Kranken moralisch legitimiert, im Dienste der Nächstenliebe wieder aus den Evangelien zu lesen. Innerlich zerrissen gelobt sie im Stillen ihrer Mutter:

„Moder, dit Barn skal ikke tage de Christnes Daab, ikke nævnes i deres Samfund, det har Du forlangt, det skal jeg bevare Dig, derom ere vi enige paa denne Jord, men ovenover denne er – er Enigheden større i Gud, ‚han ledsager os over Døden‘ – ‚han besøger Jorden, og naar han har gjort den tørstig, gjør han den meget rig!‘ jeg forstaaer det! selv veed jeg ikke, hvorlunde det kom –! det er ved ham, i ham: Christus!“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126)

„Mutter, dein Kind soll nicht die Taufe der Christen erhalten, nicht zu ihrer Gemeinschaft zählen, das hast du verlangt, das verspreche ich dir, darüber sind wir uns einig auf dieser Welt, aber über diese hinaus ist – ist die Einigkeit in Gott größer, ‚er führt uns aus dem Tod‘ – ‚er besucht die Erde, und wenn er sie sehr dürstend gemacht hat, macht er sie sehr reich!‘ Ich verstehe das! Ich selbst weiß nicht, wie es kommt –! Es ist durch ihn, in ihm: Christus!“

Als sie den heiligen Namen ausspricht, durchfährt sie – wie die Jünger zu Pfingsten (Apg 2, 1–4) – „en Daab af Ildslue [eine Taufe durch eine Feuerflamme]“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126). Geschwächt von ihrer emotionalen Zerrissenheit bricht sie zusammen und wird ins Armenhaus gebracht, wo sie kurz darauf stirbt. Erlösung findet Sara – anders als Benjamine – nicht im Leben, sondern nur im Tod. Aber auch sie sitzt, wie Benjamine, am Bett einer kranken Person und liest aus dem Neuen Testament vor. Auch sie wird durch das gelesene Wort Gottes erfüllt vom Heiligen Geist. Doch bietet der Text durch das Gelübde, das sie nicht brechen kann, als Ausweg nur den Tod. Beigesetzt wird sie außerhalb der Friedhofsmauer, da sie als Jüdin nicht auf einem christlichen Friedhof ruhen darf. Sogar im Tod ist sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Als einziger Trost bleibt ihr nur dies:

Og Guds Sol, der skinnede hen over de Christnes Grave, skinnede ogsaa hen over Jødepigens Grav derudenfor, og Psalmesangen, der lød paa de Christnes Kirkegaard, klang ud over hendes Grav; ogsaa ud til den naaede Forkyndelsen: „Der er Opstandelse i Christo!“ ham, Herren, som sagde til Disciplene: „Johannes døbte vel med Vand, men I skulle døbes med den Hellig-Aand!“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126)

Und Gottes Sonne, die über die Gräber der Christen hinwegschien, schien auch über das Grab des Judenmädchens draußen, und die Psalmen, die über den Friedhof der Christen schallten, klangen auch über ihr Grab hinweg; auch zu ihm gelangte die Verkündigung: „Die Auferstehung ist in Christus!“ er, der Herr, der zu den Jüngern sprach: „Johannes taufte mit Wasser, doch Ihr sollt getauft werden mit dem Heiligen Geist!“

Mit seinem tragischen Ende steht das Märchen zwischen den Werken AndersensAndersen, Hans Christian nicht alleine da. Im Roman Kun en Spillemand, der 20 Jahre zuvor erschien, findet sich bereits das Motiv des jüdischen Grabes außerhalb der Friedhofsmauern, das am Ende des Romans noch einmal aufgenommen wird (vgl. Kapitel 7.8.3).2 Auch in seinem Roman At være eller ikke være, der zur selben Zeit wie Jødepigen entstand, wird am Ende eine junge Jüdin sterben, darauf beharrend, „dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod gebe“ (Wennerscheid 2013: 71; vgl. auch Kapitel 8.2).

Das Märchen Jødepigen hat in der Wissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden. Das ist umso erstaunlicher, als AndersenAndersen, Hans Christian dieses Märchen selbst als eine seiner gelungensten Erzählungen beurteilt hat (vgl. Kirmmse 1991–1992: 62). Eine Ausnahme stellt der Historiker Bruce A. Kirmmse mit seinem Aufsatz Hans Christian og Jødepigen. En historisk undersøgelse af noget „underligt“ [Hans Christian und das Judenmädchen. Eine historische Untersuchung von etwas „Sonderbarem“] dar. Kirmmse fragt darin, warum Andersen trotz der „nedladende tolerance [herablassenden Toleranz]“ (1991–1992: 59), die in seinem Märchen zum Ausdruck kommt, in der dänisch-jüdischen Gemeinde so viele Freunde und Fürsprecher hatte. Die Funktion des jüdischen Mädchens in der Erzählung fasst er dabei ebenso knapp wie treffend zusammen:

I den lille historie er jøden i alt væsentlig en tabula rasa, en ubeskreven side af „anderledeshed“, som bliver udfyldt og beskrevet af det herskende og omgivende samfunds fordomsfulle fantasi. Holdningen til jøder er således en slags projektionsteater, hvori samfundets frygt og forhåbninger om sig selv bliver afbildet. (Kirmmse 1991–1992: 60)

In der kleinen Geschichte ist der Jude*die Jüdin3 im Wesentlichen eine tabula rasa, eine unbeschriebene Seite der „Andersheit“, die ausgefüllt und beschrieben wird von der vorurteilsvollen Fantasie der herrschenden und umgebenden Gesellschaft. Die Haltung gegenüber Juden ist somit eine Art Projektionstheater, in dem die Ängste und die Hoffnungen der Gesellschaft abgebildet werden.

Kirmmses Befund gilt bei Weitem nicht nur für diese Erzählung, und eine der Fragen, die ich in meiner Arbeit untersuche, ist, womit und wie diese unbeschriebene Seite des Andersseins beschrieben wird. Bei der Lektüre von AndersensAndersen, Hans Christian Jødepigen stellt sich jedoch außerdem die Frage, was genau eigentlich das genuin Märchenhafte dieser Erzählung ist, denn der kleine Text wird in aller Regel als Märchen rezipiert.4 Was macht das Märchen zum Märchen oder auf Dänisch: das Eventyr zum Eventyr?5 Ist es möglicherweise allein die jüdische Figur, die mit ihren Assoziationsräumen wundersam genug erscheint, um das Genre zu rechtfertigen? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt der Blick zurück zu Den gamle Rabbin. Denn bereits in dieser Novelle sind märchenhafte Züge angelegt, die hier skizzenhaft und in aller Kürze dargestellt werden sollen und die zum Teil auch in Andersens Jødepigen Eingang finden. Einige Beispiele aus verschiedenen Märchen sollen zur Klärung beitragen.

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts

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