Читать книгу Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock - Страница 30
2.8 Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829)
ОглавлениеNur kurze Zeit nach der Veröffentlichung von IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle erschien Hans Christian AndersensAndersen, Hans Christian (1986) Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [Fußreise vom Holmenkanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829], kurz Fodreise. Der junge Dichter, aus dessen Perspektive der Roman erzählt ist, begibt sich auf einer „Fußreise“ auf die Suche nach literarischem Stoff. Voller Witz und Ironie verwebt Andersen eine schier unüberschaubare Zahl literarischer Motive zu einem Spaziergang durch die Silvesternacht 1828 auf 1829.1 Dabei promeniert der Erzähler nicht nur vom Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager – was ein durchaus überschaubarer und unspektakulärer Fußmarsch von nur knapp 3km Länge ist (vgl. Kramer 2013: 39) –, sondern er spaziert vielmehr durch die gesamte „deutsche Literatur um 1800, sei sie stürmerisch und drängerisch, klassisch oder romantisch – oder trivial“ (Øhrgaard 2010: 92).2 Als eine von vielen bekannten Figuren der Literaturgeschichte begegnet dem Erzähler auf seinem Spaziergang durch eine Silvesternacht auch Ahasverus. Dieser ist mit seinen Hundertmeilenstiefeln unterwegs durch die Welt und überlässt dem Erzähler für einen kleinen Kurztrip durch Europa seine Wunderschuhe. In der Begegnung mit Ahasverus und dessen Schuhwerk lässt sich als literarisches Vorbild unverhüllt Adelbert von ChamissosChamisso, Adelbert Peter Schlehmils wundersame Geschichte [1814] (2010) erkennen, denn, so erzählt Ahasverus seinem jungen Zuhörer, als er die alten Stiefel einmal zu Reparatur gegeben habe, „blev de forbyttede og før jeg mærkede Feiltagelsen var de allerede solgt til en Peter Schlemil [sic!], hvis ‚vundersame Geschichte‘ Chamisso har meddeelt Læseverdenen [wurden sie vertauscht, und ehe ich den Fehler bemerkte, waren sie bereits an Peter Schlehmil verkauft, dessen ‚wundersame Geschichte‘ Chamisso der Lesewelt mitgeteilt hat]“ (Andersen 1986: 69). Erst kürzlich habe er sie zurückerhalten. Damit zeigt sich die Verwandtschaft des Ahasverus auch mit phantastischen Motiven. Die Schuhe, die, ob nun sieben oder 100 Meilen, jedenfalls eine enorme Stecke mit einem einzigen Schritt überbrücken können, sind beispielsweise auch in Wilhelm HauffsHauff, Wilhelm Märchen Die Geschichte vom kleinen Muck [1826] (2011) ein Motiv.3 GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Mephisto nutzt einige Jahre später in Faust II [1832] (2008) ebenfalls die magischen Stiefel zur schnellen Fortbewegung. So fügt die Ahasverus-Episode in Andersens Fodreise dem ohnehin schon legendären Motiv des ewig umherwandernden Juden durch die Hundertmeilenstiefel noch eine zusätzliche magische Komponente hinzu, die außerdem eine Verbindung zum Teufel andeutet und daher auch die Gefahr von Fluch und Verdammnis in sich birgt. Der junge Dichter seufzt, dass der literarische Stoff ihm ausgehe und freut sich über die unverhoffte Begegnung mit Ahasverus und dessen reichen Vorrat an Erzählungen, denn
„Satan, som nu er saadan en allerkjæreste person i et Eventyr, har været meer end nok i Verden, selv hans Papirer ere udkomne. Faust har baade GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, LessingLessing, Gotthold Ephraim, Mahler Müller og Klinger havt Fingre paa, saa jeg veed ingen heldigere Person end Dem. Ak! hvo der dog havde Deres Erfaring […].“ (AndersenAndersen, Hans Christian 1986: 68)
„Satan, der nun so eine allerliebste Person in einem Märchen ist, war mehr als genug in der Welt, selbst seine Schriften sind erschienen: GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, LessingLessing, Gotthold Ephraim, Mahler Müller und Klinger hatten alle ihre Finger am Faust, ich kenne also keine besser geeignete Person als Euch. Ach! wer doch Eure Erfahrung hätte.“
Ahasverus jedoch hat keine Freude an seinem Erfahrungsschatz, denn er hat keine Aussicht auf Erlösung, und somit hat seine Rastlosigkeit auch kein Ziel. Er muss, so Körte, „wandern, muss passiv seine Mission erfüllen und ist durch sein wahllos bewahrendes Gedächtnis allwissend und daher ohne Neugier“ (Körte 2006: 45). Nun jedoch, in AndersensAndersen, Hans Christian phantastischem Roman über die literarische Suche eines jungen Dichters, bilden der alte Ahasverus und der junge Dichter für einen Moment eine Gemeinschaft der Ruhelosen.4 Ahasverus, der so viel schon gesehen hat, wird für den Moment zum literarischen Vorbild, zur Identifikationsfigur des suchenden Poeten und stellt dabei einen „Stimulus im Sinne einer (die Vorstellung von Entwicklung) beunruhigenden und gleichzeitig anregenden Instanz“ dar (Körte 2000: 321). Seine Stiefel will der junge Dichter leihen, „blot een Time vilde jeg laane dem for i denne med store Skridt at vandre gjennem Verden og samle Stof til det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [nur eine Stunde wollte ich sie leihen, um in ihnen mit großen Schritten durch die Welt zu wandern und Stoff für das interessanteste Kapitel in meiner ganzen Fußreise zu sammeln]“ (Andersen 1986: 69). Und da nicht nur Ahasverus für den Dichter interessant ist, sondern auch umgekehrt der Dichter für Ahasverus, gesteht dieser: „Deres Person interesserer mig [Eure Person interessiert mich]“ und leiht ihm für eine halbe Stunde seine Stiefel. Dafür fordert er jedoch „Deres Skygge som Pandt [Euren Schatten zum Pfand].“ Zwar fährt es dem Dichter „iiskoldt gjennem Marv og Been“ [eiskalt durch Mark und Bein]“, doch geht er den Handel ein, denn „hvad gjør ikke en Forfatter for sin Læsers Skyld [was tut ein Autor nicht alles für seine Leser]“ (Andersen 1986: 70). Obwohl Ahasverus also eigentlich sehr entgegenkommend ist und lediglich sicherstellen will, dass er seine Stiefel nicht noch einmal verliert, wird er nicht etwa mit Peter Schlemihl assoziiert, sondern vielmehr mit dem Teufel, dem Peter Schlemihl einst seinen Schatten verkauft hatte. Als „Antipode zu Christus“ (Körte 2006: 46) schillert in der Figur des Ahasverus das Böse, wenngleich Andersens ‚ewiger Jude‘ nichts Böses an sich hat.
Zwar tritt die Figur des Ahasverus nur in einem Kapitel des Romans auf, stellt eine Begegnung unter vielen dar, doch soll dieses Kapitel „det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [das interessanteste Kapitel meiner ganzen Fußreise]“ sein (AndersenAndersen, Hans Christian 1986: 69). Die Figur des Ahasverus eröffnet literarische Assoziationsräume, welche die Figur des Dichters durchschreitet – was ihm deutlich besser gelingt als seine halbstündige Europareise, während der er jeweils nur ein Bein aus Amager wegbewegt und mit dem anderen stets ungünstig irgendwo auftritt. So glückt zwar weder die Identifikation des Dichters mit Ahasverus noch mit „min store Forgjænger i Fodvandring [meinem großen Vorgänger im Wandern zu Fuße]“ (Andersen 1986: 70) Peter Schlemihl. Geglückt ist jedoch ein weiteres komisches Kapitel in einem Büchlein über die Bemühungen des Dichters auf der Suche nach neuem literarischem Stoff. Der Dichter nimmt die Inspiration in der Länge eines halben Kapitels auf und zieht weiter, zur nächsten Begegnung. Der Jude hingegen setzt seine ereignislose Wanderung fort. Auf die Frage des Dichters, ob sie einander wohl wiedersehen werden, antwortet Ahasverus: „[V]i mødes nok, om ikke før, saa naar De gjør den sidste store Reise med Dødens Extra-Post. Hver nat møde vi hinanden, thi hans Heste er raskere tilbeens end jeg [Wir treffen uns noch, wenn nicht früher, so doch wenn Sie die letzte große Reise mit des Todes Extra-Post machen. Jede Nacht treffen wir einander, denn seine Pferde sind schneller zu Fuß als ich]“ (Andersen 1986: 71). Der untote Wanderer, der selbst keine Aussicht auf den Tod hat, wird zum Vorboten des Todes, dem der Dichter im 13. und (fast) letzten Kapitel5 selbst begegnet, in dessen Wagen er jedoch einstweilen noch nicht einsteigt.
Mona Körte stellt die Entwicklungslosigkeit der Figur heraus, wenn sie schreibt, Ahasverus „scheint Raum nur zu gewähren für ein unendliches Durchspielen einer endlichen Variation von Vergehen, Fluch und Wanderschaft.“ Daraus sei auch der Kunstgriff zu erklären, „dass Ahasver sich kurz nach Beginn seiner literarischen Karriere selbst mitunter als mehr oder weniger gelungenes Geschöpf seiner Dichter thematisiert“ (Körte 2006: 49). AndersensAndersen, Hans Christian Roman Fodreise steht exemplarisch für diesen Kunstgriff. 1847 taucht die Figur erneut in Andersens Dichtung auf, nämlich in seinem umfangreichen (und zunächst auf Deutsch erschienenen) Versdrama Ahasverus. Die Leichtigkeit und der Humor der ersten Begegnung mit der Figur des Ahasverus sind nun zwar verschwunden, aber Johan de Mylius versteht auch diesen Ahasverus als eine Allegorie auf den Dichter (vgl. de Mylius 2005a: 722). Doch ist dies nicht die einzig mögliche Lesart der Figur. Stefanie von Schnurbein zufolge stellt Andersen in seinem Versdrama „an der Figur des ‚wandernden Juden‘ eine allegorisierte Darstellung der Wahrheit des christlichen Glaubens auf ihrem Weg durch die Geschichte der Menschheit“ dar (Schnurbein 2007: 139). Dieser Wahrheit beugt sich schließlich auch IngemannsIngemann, Bernhard Severin Rabbiner Philip Moses, und so ist auch seine Enkelin vom Fluch des Ahasverus befreit.