Читать книгу Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock - Страница 26

2.4.3 Erlösen

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Über die Beziehung zwischen Benjamine und den beiden männlichen Figuren Philip Moses und Veit ist die Frage nach der Religion in den Diskurs von Leben und Tod eingeschrieben. Die Entscheidung, die Benjamine zu treffen hat, bedeutet zunächst, dass sie einen der beiden Männer verlieren muss: entweder ihren jüdischen Großvater, der ihre Vergangenheit und Herkunft repräsentiert, ihr jedoch als Perspektive nur den frühen Tod zu bieten hat, oder Veit, der ihre Zukunft sein könnte und mit dem sie auch sexuell eine fruchtbare Verbindung eingehen würde. Da in der Logik der Novelle Benjamines Anziehungskraft eben genau in ihrer vollkommenen Bereitschaft zur Aufopferung und ihrer Hingabe für das Wohlergehen ihres Großvaters besteht, entscheidet sich Benjamine trotz ihrer fruchtbaren Liebe zu Veit für die unfruchtbare Liebe zu ihrem Großvater. Und derselben Logik folgend fügt sich Veit in dieses Schicksal, nachdem er den alten Rabbiner noch einmal für ein Gespräch aufgesucht hat (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 119). So entschließt er sich, endgültig zurück nach Rom zu reisen, in die Künstlerkolonie, aus der er erst kurze Zeit zuvor in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, und damit auch ins religiöse Zentrum des Christentums. Für Benjamine hingegen scheint das Gebundensein an Philip Moses in jedem Fall den Tod zu bedeuten. Sein Tod bedeutet ihren Tod, denn auch wenn der alte Rabbiner stirbt, wird sie sich nicht von ihrem Treuegelübde entbinden. „[H]endes Hjerte vil maaske briste derved; men hun vil ikke være den Døde mindre tro, end den Levende [Ihr Herz mag vielleicht daran zerbrechen; aber sie würde dem Toten nicht weniger treu sein als dem Lebenden]“ (Ingemann 2007: 120). Aber die Novelle findet schließlich doch noch ein glückliches Ende. Philip Moses, der bald wieder erkrankt und auf dem Totenbett von Benjamine gepflegt wird, empfängt noch im letzten Moment seines Lebens durch das weit geöffnete Fenster den Heiligen Geist und prophezeit mit letztem Lebenshauch seiner Enkelin, dass sie an seinem Grab ihre Erlösung finden werde:

Han havde bedet Benjamine aabne Vinduet, at han endu engang kunde see den lyse Himmel, og da var det ligesom et helligt Syn hadve viist sig for ham i den venlige Morgenrøde. – „Skuffe mig ikke mine bristende Øine“ – havde han sagt – „saa kom til min Grav, Benjamine! og min Aand skal vise dig din Frelse“ – her var hans Stemme bleven utydelig; men hans Aasyn havde smilet forunderlig saligt. Med den stivnende Haand havde han endnu gjort et Tegn paa sit Dødsleie som et Kors, og rolig havde han opgivet Aanden i Benjamines Arme. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

Er hatte Benjamine gebeten, das Fenster zu öffnen, damit er noch einmal den leuchtenden Himmel sehen konnte, und da hatte sich ihm gleichsam eine heilige Erscheinung in der freundlichen Morgenröte gezeigt. – „Täuschen mich meine brechenden Augen nicht“ – hatte er gesagt – „so komm an mein Grab, Benjamine! und mein Geist wird dir deine Erlösung zeigen“ – hier war seine Stimme undeutlich geworden; doch sein Gesicht hatte wundersam selig gelächelt. Mit der steifen Hand hatte er noch ein Zeichen auf seinem Totenlager gemacht, wie ein Kreuz, und ruhig hatte er seinen Geist in Benjamines Armen aufgegeben.

Anders als Benjamine, deren religiöse Erkenntnis durch den Blick des Künstlers eintritt, ereilt Philip Moses die Erleuchtung am und durch das Fenster. Wie bei Veit dient es auch hier als Metapher der Erkenntnis. Das heißt wiederum, dass Religiosität und Erkenntnis erneut mit der Kategorie Geschlecht verschränkt und hierarchisiert werden. Während beide Männer durch das Fenster Erkenntnis erlangen, ist Benjamines Erkenntnis an das Gesehenwerden durch einen christlichen Mann gebunden. Allerdings ist wiederum die Vorbedingung für Philip Moses’ Erleuchtungsmoment, dass dieser zuvor die Worte des Neuen Testaments aus dem Mund seiner Enkelin Benjamine gehört hat, wodurch Benjamine als Mittlerin zwischen Alt und Neu, Judentum und Christentum hierarchisch eine Zwischenposition einnimmt, die jedoch nicht unabhängig vom christlichen Mann gedacht werden kann.

Am Grab des Großvaters tritt Benjamines Erlösung in Gestalt Veits auf, der gekommen ist, in der Hoffnung, Benjamine dort vorzufinden und von ihr Abschied nehmen zu können. Er wartet „den fromme Piges Bøn [das Gebet des frommen Mädchens]“ ab und tritt ihr dann „stille og høitidelig [still und feierlich]“ entgegen.

I hans Haand lyste et Kors af glindsende Perlemor, som hans afdøde Moder fordum havde givet ham som Barn, til Den, han engang gav sit Hjerte. […] Det skinnede nu smukt i de klare venlige Maanestraaler. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 121)

In seiner Hand leuchtete ein Kreuz aus schimmerndem Perlmutt, das seine verstorbene Mutter ihm als Kind ehemals gegeben hatte, für diejenige, der er einmal sein Herzen schenken würde. Es leuchtete nun schön in den klaren freundlichen Mondstrahlen.

Damit erfüllt sich die letzte Prophezeiung des Rabbiners, denn, so erklärt Benjamine:

„Ved denne Grav skulde jeg skue min Frelse – det var hans sidste Ord til mig, da en Engel forklarede hans Aasyn i Døden. Og see! hans Aand har ledet dig hid med det hellige Tegn i din Haand, som nu forener mig med din Frelser for evig.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

„An diesem Grab sollte ich meine Erlösung schauen – das waren seine letzten Worte zu mir, als ein Engel ihm seinen Blick im Tode verklärte. Und siehe! sein Geist hat dich hierher geleitet, mit dem heiligen Zeichen in der Hand, das mich nun auf Ewig mit deinem Erlöser vereinigt.“

Auf diese Weise erzählt die Novelle den romantischen Idealweg der Überwindung des Judentums. Das Judentum in seiner mythisch überhöhten Darstellung hat dabei Teil an seiner eigenen Überwindung. Es zeigt den Weg zurück in eine religiöse Vergangenheit, auf deren Grundlage der Aufbruch in ein neues Christentum geschieht. Über das Grab hinweg reicht Benjamine Veit die Hand „og sank med stille Taarer til hans Hjerte [und sank mit stillen Tränen an sein Herz]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122). So bildet das Grab des Alten die Grundlage für das Neue.1 Das Judentum wurde überwunden, doch es stellt die Grundlage für eine tiefe Religiosität dar, die das Judentum in sich aufnimmt. Diese Religiosität soll Hartwich zufolge nicht nur das Judentum, sondern auch die säkulare Welt überwinden:

Die Erlösung vom Judentum vollzieht sich nicht als Vernichtung des Judentums, sondern als Transformation der säkularen Welt nach dem Urbild des jüdischen Mythos, der auch die aktuellen Gestalten des Judentums überwindet. (Hartwich 2005: 28)

Gemeint ist also eine Hinwendung zum Judentum, wie es von den deutschen Romantikern als „ursprünglich“ imaginiert wurde, und zugleich dessen Überwindung durch ein erneuertes Christentum. IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle zeigt in ihrer Darstellung und Bewertung des Judentums und ihrer Auflösung des religiösen Konflikts eine offensichtliche Ambivalenz, die ganz in der Tradition HerdersHerder, Johann Gottfried steht, der in seinen Schriften zum Judentum „die christlichen, national-mythologischen und orientalischen Stereotypen des Judentums aufgreift und poetisch überformt“ (Hartwich 2005: 39). Einerseits muss das Judentum überwunden werden, denn nur seine Überwindung bedeutet Leben statt Tod für Benjamine, nur seine Überwindung weist in die Zukunft. Andererseits bildet es die Basis, auf der Benjamine und Veit einander die Hände reichen. Die junge Jüdin, in der sich die mythologisch-jüdische Vergangenheit und die christliche Zukunft vereinen, ist auch für Veit die Grundlage für seine Zukunft und sein Leben. Ohne Benjamine hätte er seine Heimatstadt verlassen „for bestandig og begrave sig med sin haabløse Lidenskab blandt de gamle Roms Ruiner [für immer und sich mit seiner hoffnungslosen Leidenschaft zwischen den Ruinen des alten Rom begraben]“ (Ingemann 2007: 121). Nur aus der Verbindung zwischen dem christlichen Künstler und der jüdischen Frau kann ein neues religiöses Ideal erwachsen. Was einer der reichen Freunde des Juwelenhändlers Samuel als pragmatische Lösung gegen die Ausgrenzung der Juden vorgeschlagen hat, dass nämlich die Frauen und Töchter der Juden sich zugeneigt und willig gegenüber den Söhnen der Christen zeigen sollen, wird hier in der veredelten Form vollzogen: mit Achtung vor der alten Religion und innerlicher Hingabe an die neue Religion, mit Liebe zur Vergangenheit, aber unbedingtem Verlangen nach der Zukunft. Die imaginierte Szene im Hause Samuels stellt das säkulare Zerrbild der Vereinigung zwischen Judentum und Christentum dar. Die Szene am Grabe des alten Rabbiners ist ihr religiöses Idealbild.

Die idealisierte Vereinigung zwischen Judentum und Christentum ist bereits in den Namen Philip Moses selbst eingeschrieben. Moses lässt sich selbstredend als Name erkennen, der den Ursprung des Judentums und dessen ersten Propheten repräsentiert. Philip – oder Philippus – jedoch ist der Name eines der Jünger Jesu, der Gott in Jesus zunächst nicht zu erkennen vermag und daher um einen Beweis bittet:

Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? (Joh. 14,8–11)2

Der Name des alten Rabbiners ist also selbst Prophezeiung und nimmt seine späte Erkenntnis des christlichen und somit „richtigen“ Glaubens vorweg. Zugleich macht bereits der Name der Figur deutlich, dass es sich nicht um die realistische Darstellung eines jüdischen Rabbiners und um die Auseinandersetzung mit dem Judentum handelt, sondern dass die Figur von vornherein einzig darauf angelegt ist, im Christentum die Wahrheit zu erkennen. Dass die Namen der Figuren keineswegs zufällig sind, sondern im Gegenteil besondere Beachtung verdienen, darauf macht der Text selbst aufmerksam, wenn Benjamine ihrem Großvater in Aussicht stellt, er könne den kleinen Kindern von Isaak die Geschichten erzählen „om Joseph og hans Brødre og om den lille Benjamin, min Navne, ligesom du lærte mig hos Moder Rachel, da jeg var lille [von Joseph und seinen Brüdern und von dem kleinen Benjamin, meinem Namensvetter, wie du es mich bei Mutter Rachel gelehrt hast, als ich klein war]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 107). Benjamin war der liebste Sohn Jakobs, der jüngste Nachkomme des letzten Patriarchen. Die Figur der Benjamine gibt also selbst eine Anleitung zum Textverständnis. Sie ist die letzte Nachfahrin des Rabbiners. Zwar hat er jüngere Enkelkinder, doch haben die sich bereits von der jüdischen Tradition entfernt. Sein geistiges Erbe tritt allein Benjamine an. Sie nun überführt dieses Erbe direkt ins Christentum. Und sie ist eben kein Benjamin, sondern eine Benjamine und kann sich als jüdische Frau mit einem Christen vermählen und das Judentum überwinden. Auch der Christ trägt einen sprechenden Namen. Zwar sind Herkunft und Bedeutung des Namens Veit sprachwissenschaftlich nicht eindeutig geklärt, doch lässt sich ‚Veit‘ unter anderem als Ableitung des lateinischen Vitus von Vita – Leben – lesen (vgl. Torsy/Kracht 2002: 184).3

Der Text belässt es nicht bei der Szene am frischen Grab des alten Rabbiners, sondern besiegelt das Ideal der religiösen Transformation mit einem Schlussbild. Ein Jahr später steht das junge Paar frisch verheiratet wieder auf dem Friedhof und reicht sich die Hände über den Grabstein des Rabbiners hinweg, „hvorunder den gamle Philip Moses stod opreist, med det blege ærværdige Aasyn imod Østen [unter welchem der alte Philip Moses aufgerichtet stand, das blasse ehrwürdige Angesicht gen Osten gerichtet]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122). Das Perlmuttkreuz an ihr Herz gedrückt spricht Benjamine, die im ersten Teil der Novelle, als Jüdin, noch so oft sprachlos war, nun, als Christin, die abschließenden Worte:

„Nu har han seet det store Østens Lys“ – sagde hun glad – „det lyste alt her med den sidste Morgenrøde i hans bristende Øie, og han stirrer nu ikke forgieves efter det i Graven. Det lyser over Gruset af Guds hellige Stad – og i dets Herligheds Glands skulle alle Slægter paa Jørden velsignes.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

„Nun hat er das große Licht des Ostens gesehen“ – sagte sie glücklich – „es leuchtete mit der letzten Morgenröte bis hierher in seine brechenden Augen, und er muss nun nicht vergeblich im Grabe danach starren. Es leuchtet über den Erdboden von Gottes heiliger Stätte – und im Glanz seiner Herrlichkeit sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.“

Der Rabbiner in seiner Frömmigkeit und seiner überformt althebräischen Figurengestaltung ist sowohl die Grundlage für diese Ehe als auch das Hindernis, das überwunden werden musste. Seine Glaubenstransformation wiederum ist erst durch die Eheschließung seiner Enkelin mit dem jungen Christen abgeschlossen. Mit Benjamines nunmehr hörbarer Stimme wird dieser Wandel bezeugt. Erst mit der Ehe seiner Enkelin erhebt sich der Körper des alten Rabbiners zur Auferstehung in Jesus Christus. Dieses Schlussbild verdeutlicht gerade in seiner – nach heutigen Maßstäben – skurril anmutenden Überzogenheit, dass die bürgerliche Ehe integraler Bestandteil des romantischen, philosemitischen Bekehrungsdiskurses ist. Als Alternative zur Ehe scheint allein der Tod vorstellbar, das gilt für Benjamine, und das gilt ebenso für die Jüdin, um die es im folgenden Exkurs geht.

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts

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