Читать книгу Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock - Страница 6
1.1 Ausgangspunkt und Fragezeichen
ОглавлениеAb den späten 1820er-Jahren tauchen jüdische Figuren in den Erzähltexten aller namhaften dänischen Autoren auf, und dieser Trend setzt sich bis in die 1850er-Jahre fort. Wobei von einem Trend zu reden übertrieben scheinen mag, schließlich hält sich die Zahl der Werke über jüdische Figuren in einem überschaubaren Rahmen, und kaum ein Autor oder eine Autorin hat mehr als einen solchen Erzähltext veröffentlicht.1 Dabei fällt besonders die Art und Weise, wie hier über Juden geschrieben wird, ins Auge. Viele dieser Romane und Erzählungen weisen bereits in ihrem Titel die Juden als Hauptfiguren der Erzählung aus. Wenngleich keine dieser Figuren frei von stereotypen und ambivalenten Zuschreibungen ist, fällt doch auf, dass die Erzählstimme sich durchweg empathisch und mit Sympathie den jüdischen Figuren zuwendet. Wie fern jüdischer Lebenswelten und wie problematisch die schwärmerische Zuwendung zu den begehrten Objekten auch sein mag, die Erzählinstanzen nehmen stets eine Haltung der Bewunderung und der Identifikation mit den jüdischen Figuren ein und erzeugen beim Lesepublikum auf diese Weise gleichfalls Sympathie. Diese Besonderheit der ausgewählten Texte begründet den ersten Teil des Titels dieser Arbeit, den Gebrauch des Adjektivs ‚philosemitisch‘. Als höchst ambivalenter und umstrittener Begriff erfordert seine Verwendung eine kritische Reflexion, die in Kapitel 1.6 vorgenommen wird. Zunächst einmal soll der Begriff ‚Philosemitismus‘ als heuristisches Werkzeug dienen, um benennen zu können, was die ausgewählten Texte miteinander verbindet und was sie für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung interessant macht.
Anders als der Antisemitismus ist der Philosemitismus in der Forschung ein relativ wenig bearbeitetes Thema.2 Dabei steigt mit der Aufklärung und der zunehmenden Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Europa ab etwa 1780 die Produktion philosemitischer Texte deutlich an. Um 1800 herum entwickelt sich eine kontrovers geführte öffentliche Debatte über die Möglichkeit und vermeintliche Unmöglichkeit einer rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheiten in den verschiedenen europäischen Staaten. Dänemark ist eines der ersten europäischen Länder, in dem die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung umgesetzt wurde, 1814 erhielten die dänischen Juden die Bürgerrechte. 1849 wurde eine neue dänische Verfassung verabschiedet, in der dann auch das Recht auf freie Religionsausübung für alle religiösen Minderheiten verankert wurde. Literatur ist Teil des Diskurses über Juden und Jüdinnen, mehr noch, sie ist diskurskonstituierend (vgl. z.B. Belsey 2000: 51–52). Ein Merkmal philosemitischer Literatur ist, dass sie oftmals eine Reaktion auf den gleichzeitig vorhandenen judenfeindlichen und emanzipationskritischen Diskurs darstellt, ihn also reflektiert, in sich aufnimmt und ihm zugleich eine eigene Position entgegensetzt, die ihrerseits prägend und verändernd auf den Diskurs wirkt. Die vorliegende Untersuchung soll ein Beitrag sein, die bestehende Forschungslücke zu schließen, wobei der Philosemitismus weder als vorwiegend dänisches noch als vereinzelt auftretendes und somit irrelevant erscheinendes Phänomen betrachtet werden soll. Die Fragestellung, die mich durch diese Arbeit leitet, ist stets diese: Was bewirken die jüdischen Figuren im Text, welche Erzählmöglichkeiten eröffnen sie? Und im Anschluss daran interessiert die Frage: Wann, wie und warum wird über jüdische Figuren geschrieben und wie wird Wissen über Jüdinnen und Juden durch die Literatur in Frage gestellt oder verfestigt? Dabei richtet sich mein Blick bei der Suche nach Antworten nicht allein auf die jüdischen Figuren, sondern auch auf diejenigen Figuren und Handlungsstränge, die zunächst einmal nichts mit den Juden und Jüdinnen zu tun zu haben scheinen. Gerade hier, in den scheinbaren Zusammenhanglosigkeiten zwischen den geschilderten Ereignissen und den jüdischen Figuren, finden sich oftmals die eindrücklichsten und überraschendsten Erklärungen für die literarische Attraktivität jüdischer Figuren.