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5. Alixena

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Bei dem Ge­dan­ken an den An­blick des to­ten Ge­ro er­schau­er­te sie. So­lan­ge sie ihn nicht mit ih­ren ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen und mit ih­ren ei­ge­nen Hän­den be­rührt hat­te, so­lan­ge sie nicht sei­ne Stirn ge­küsst und ih­re ei­si­ge Käl­te ge­schmeckt hat­te, so­lan­ge war er noch nicht wirk­lich ver­gan­gen, so lan­ge konn­te sie noch auf ein Wun­der hof­fen. Auf ei­ne Täu­schung. Ob­gleich ihr be­wusst war, dass es nicht pas­sie­ren wür­de, hoff­te sie, er wür­de zu ihr tre­ten und ge­ste­hen, dass ihr nur ein bö­ser Streich ge­spielt wor­den war.

Be­vor sie dem To­ten ge­gen­über­tre­ten konn­te, muss­te Ali­xe­na Da­rio se­hen, sich ver­ge­wis­sern, dass er un­ver­sehrt war.

Sie eil­te die al­ten Stu­fen des Schlos­ses hin­auf, Stu­fen aus grau­en Be­ton, an ei­ni­gen Stel­len not­dürf­tig mit Plas­tik aus­ge­bes­sert, so­dass man die ver­ros­te­ten Stahl­ge­rüs­te dar­un­ter er­ken­nen konn­te. Fast muss­te sie sich zwin­gen, sich zu­rück­zu­hal­ten, um Fe­lix’ Räu­me nicht vor ihm zu be­tre­ten. Das wä­re selbst für ei­ne War­la­dy un­ge­hö­rig ge­we­sen.

Ei­ne Ecke des Rau­mes war mit lan­gen Tü­chern ver­hängt. Ver­mut­lich zog es von dort.

Aus den Au­gen­win­keln sah sie et­was auf­blit­zen. Hor­te­te Fe­lix dort sei­nen Schmuck oder spar­te er auf ei­ne Rüs­tung? Sie könn­te es ihm nicht ver­den­ken.

Oh­ne ei­ne or­dent­li­che Rüs­tung war es schwer, sich au­ßer­halb von Be­hau­sun­gen oder Dampf­mo­bi­len auf­zu­hal­ten, aber Rüs­tun­gen wa­ren teu­er. Sie ver­schlan­gen Me­tall, Plas­tik, Dräh­te, Schmier­öl, Mem­bra­nen – Un­men­gen an Res­sour­cen, die be­grenzt wa­ren. So wie al­les auf der Er­de be­grenzt war seit der großen Dun­kel­heit. Ali­xe­na schloss die Au­gen für einen Au­gen­blick und sah wie­der die drücken­de Fins­ter­nis ih­rer Kind­heit, spür­te wie­der die aschen­graue Käl­te auf ih­rer Haut, wel­che Auf­ent­hal­te im Frei­en zu ei­ner Tor­tur ge­macht hat­te. Den Re­gen, der schmeck­te, als hät­te sie ei­ne Bat­te­rie ab­ge­leckt und von dem sie einen selt­sa­men Aus­schlag be­kam, als sie ein­mal heim­lich in den Pfüt­zen her­um­ge­sprun­gen war.

Manch­mal gab es so­gar Schnee, der Kin­der krank mach­te. So vie­le wa­ren ge­stor­ben.

Und nun hat­te sie auch Ge­ro ver­lo­ren. Ge­ro, mit dem zu­sam­men sie die­se Zeit über­lebt hat­te. Mit dem sie al­le Wi­d­rig­kei­ten ir­gend­wie über­ste­hen konn­te, weil al­lein sei­ne An­we­sen­heit al­les er­träg­lich mach­te. Die Krie­ge, den Hun­ger, die Käl­te. Spä­ter die Hit­ze und die Kämp­fe um al­les, was ge­gen die­se schütz­te.

Oh­ne ihn fühl­te sie sich un­voll­stän­dig und schutz­los. Aber sie hat­te im­mer noch einen win­zi­gen Teil von ihm: Da­rio.

Sie stol­per­te auf sei­ne Wie­ge zu, nahm ihn her­aus und brach ne­ben Fe­lix’ Bett zu­sam­men, den Säug­ling eng an sich ge­drückt. Ihr Kind war ihr ge­blie­ben, ihr ge­mein­sa­mes Kind. Ihr Sohn, der et­was von Ge­ro in sich trug, et­was von ih­rer Ver­gan­gen­heit. Sau­rer Re­gen auf Kin­der­haut. Ei­ne Ver­gan­gen­heit, die sich nie­mals wie­der­ho­len durf­te, so­lan­ge sie leb­te und dar­über hin­aus. Das war sie ihm schul­dig – und al­len an­de­ren Men­schen in ih­rem Ein­fluss­be­reich. Schluch­zer schüt­tel­ten ih­ren Kör­per und Ali­xe­na spür­te hei­ße Scham über ih­re Schwä­che. Sie war ei­ne War­la­dy. Sie muss­te die­se Emo­tio­nen im Zaum hal­ten. Ir­gend­wie. Aber sie konn­te nicht.

War­me Hän­de leg­ten sich auf ih­re Obe­r­ar­me und sie spür­te, wie je­mand sie vor­sich­tig fest­hielt. Fe­lix. Er gab ihr Halt.

Sie zog die Na­se hoch, leg­te Da­rio vor­sich­tig auf das Bett und wisch­te sich mit dem Arm über die Au­gen. »Es tut mir leid. Die­ser Aus­bruch … Ich hät­te nicht …«

»Es ist gut, Myla­dy. Sie geht sich bes­ser er­fri­schen, ich ha­be be­reits die Zo­fen ru­fen las­sen. Die Ze­re­mo­nie des Ab­schieds ist nach dem Mit­tags­mahl. Ich hät­te ger­ne mehr Zeit ge­las­sen, aber die Hit­ze … Myla­dy ver­steht.«

»Ja. Ich ver­ste­he.« Na­tür­lich. Sie hat­ten nur be­grenz­te Mög­lich­kei­ten, Ge­ros Kör­per zu küh­len. »Ich wer­de mich mei­nes Ran­ges ent­spre­chend ver­hal­ten.« Sie nahm ihr Kind wie­der an sich und ging hoch er­ho­be­nen Haup­tes in die an­gren­zen­den Räu­me – die, die sie mit Ge­ro ge­teilt hat­te. Die, in de­nen al­les sie an ihn er­in­nern wür­de, selbst die drei jun­gen Frau­en, die mit de­mü­tig ge­senk­ten Köp­fen dar­auf war­te­ten, sie nach der lan­gen Rei­se zu ver­sor­gen.

Sie muss­te stark sein. Ge­ros Rei­se war ei­ne viel län­ge­re, und sie hat­te ihn an ih­rem Be­ginn zu be­glei­ten.

So­bald die Son­ne end­gül­tig un­ter­ge­gan­gen war – ein Zeit­punkt, der schwer fest­zu­stel­len war in ei­ner Welt, in der der Him­mel seit Jah­ren nicht rich­tig auf­zu­kla­ren schi­en – er­tön­ten die ri­tu­el­len Trom­meln.

Ali­xe­na zog sich den Schlei­er aus hauch­dünn ge­walz­ten, ro­ten Plas­tik­strei­fen vor das Ge­sicht und trat mit Da­rio auf dem Arm und Fe­lix an ih­rer Sei­te lang­sam den Weg in den Kel­ler an, wo der rie­si­ge Bren­no­fen stand.

Skla­ven mit ge­scho­re­nen Köp­fen, nur mit ro­tem Len­den­schurz be­klei­det, stan­den bar­fuß ent­lang ih­res We­ges und schlu­gen die Trom­meln im Rhyth­mus ei­nes sehr lang­sa­men, na­he­zu ver­k­lun­ge­nen Herz­schlags.

Je­der Schlag vi­brier­te auch durch Ali­xen­as Adern, droh­te, auch ihr Herz zu ver­lang­sa­men. Sie zwang sich, ih­ren Atem nicht an die Trom­meln an­zu­pas­sen und mit Da­rio so zü­gig wie mög­lich in den Kel­ler zu schrei­ten.

Vor der ver­rie­gel­ten Kel­ler­tür war­te­ten drei Pries­te­rin­nen auf sie.

Ei­ne nahm ihr ih­ren Sohn ab, die an­de­re ih­ren Schlei­er und die Drit­te zeich­ne­te mit wei­ßer Far­be Punk­te auf ih­re Wan­gen, dann mit ro­ter Far­be einen lan­gen Strich von ih­rer Stirn über ih­re Na­se bis zu ih­rem Kinn.

»Lord Ge­ro Lue ist in das Haus der Nacht­kö­ni­gin ein­ge­zo­gen. Er sitzt an ih­rer Ta­fel, doch er kann ih­re Spei­sen nicht es­sen und ihr Was­ser nicht trin­ken.«

Die Trom­meln wur­den schnel­ler, be­glei­tet von Skla­ven, die mit Schel­len an den Fuß­knö­cheln tanz­ten.

»Ich ha­be mit mei­nen Ge­be­ten sei­nen Weg be­glei­tet, da­mit er an ih­rer Ta­fel sit­zen kann. Was muss ich tun, da­mit er von ih­rer Ta­fel spei­sen kann?«

»Er muss durch das Feu­er ge­hen. So­lan­ge er nicht be­reit ist, wer­den ihm kei­ne Spei­sen be­rei­tet.«

Ali­xe­na senk­te den Kopf. »So sei es.«

Im­mer noch tan­zend und mit den Fuß­schel­len klin­gelnd, öff­ne­ten die Skla­ven die Tür in den Kel­ler.

Vor dem Ofen lag Ge­ro auf sei­ner Glas­bah­re, die Blu­men auf sei­nem Kör­per schon leicht ver­welkt.

Der süß­li­che Ge­ruch nach Ver­we­sung misch­te sich mit dem Duft der Ro­sen, aber auch mit dem leicht fau­li­gen Ge­ruch der be­reits wel­ken Blät­ter. Die Hit­ze in dem klei­nen Raum ließ die Far­be auf ih­rem Ge­sicht schmel­zen. Sie muss­te all ih­re Wil­lens­kraft auf­brin­gen, um kei­ne Mie­ne nicht zu ver­zie­hen. Wenn sie einen Feh­ler mach­te, wür­de es Ge­ro bei der Nacht­kö­ni­gin schlecht ge­hen.

Ein Lä­cheln droh­te, ih­re Mund­win­kel zu rüh­ren. Ei­ne Trä­ne, ihr Au­ge beim Ge­dan­ken an ihn zu ver­las­sen. Sie wuss­te, welch ein Ge­schenk wah­re Lie­be war. Sie muss­te dank­bar sein, es über­haupt er­hal­ten zu ha­ben, statt dar­um zu trau­ern, dass es ihr wie­der ge­nom­men wor­den war. Aber wie­so tat ihr Herz da­bei so weh?

Man durf­te es ihr nicht an­mer­ken.

Im Rhyth­mus der Trom­meln schritt sie zur glä­ser­nen Bah­re.

Das Ra­scheln und Klin­geln der tan­zen­den Skla­ven, die Gerü­che und die Hit­ze um­ne­bel­ten in ih­ren Ver­stand, bis sie nur noch ver­schwom­men sah, fast wie in Tran­ce agier­te.

Ei­ne Pries­te­rin reich­te ihr ei­ne Scha­le mit ro­ter Far­be.

Ali­xe­na trug sie auf ih­re Lip­pen auf und drück­te einen Kuss auf Ge­ros Stirn. »Mit die­sem Kuss zeich­ne ich dich. Durch die­ses Zei­chen wer­de ich dich an der Ta­fel der Nacht­kö­ni­gin wie­der­fin­den, wenn ich einst selbst hin­ab­stei­ge.« Sie trat zu­rück und drück­te den He­bel her­un­ter, der die Bah­re aus schwar­zem Glas lang­sam ins In­ne­re des Ofens fah­ren ließ.

Die Trom­meln stei­ger­ten sich zu ei­nem schnel­len, fast ra­sen­dem Rhyth­mus. Ihr Herz droh­te, mit den Trom­meln aus ih­rer Brust zu sprin­gen. Das Ra­scheln und Klin­geln um sie her­um wob sie in die Schat­ten ein. Im­mer wil­der die Tän­ze, im­mer schnel­ler die Trom­meln, im­mer hei­ßer die Luft, bis sie es über Ge­ro flim­mern sah und die Ro­sen­blü­ten ver­glüh­ten, noch ehe sein Kör­per die Klap­pe er­reicht hat­te.

Zu­letzt sank sie zu Bo­den, ihr Kör­per zuck­te und als sie schrie, ver­band sich ihr Schrei mit dem Glü­hen der Welt um sie her­um.

Ge­ro war an­ge­kom­men.

Der tote Prinz

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