Читать книгу Der tote Prinz - Katherina Ushachov - Страница 8
5. Alixena
ОглавлениеBei dem Gedanken an den Anblick des toten Gero erschauerte sie. Solange sie ihn nicht mit ihren eigenen Augen gesehen und mit ihren eigenen Händen berührt hatte, solange sie nicht seine Stirn geküsst und ihre eisige Kälte geschmeckt hatte, solange war er noch nicht wirklich vergangen, so lange konnte sie noch auf ein Wunder hoffen. Auf eine Täuschung. Obgleich ihr bewusst war, dass es nicht passieren würde, hoffte sie, er würde zu ihr treten und gestehen, dass ihr nur ein böser Streich gespielt worden war.
Bevor sie dem Toten gegenübertreten konnte, musste Alixena Dario sehen, sich vergewissern, dass er unversehrt war.
Sie eilte die alten Stufen des Schlosses hinauf, Stufen aus grauen Beton, an einigen Stellen notdürftig mit Plastik ausgebessert, sodass man die verrosteten Stahlgerüste darunter erkennen konnte. Fast musste sie sich zwingen, sich zurückzuhalten, um Felix’ Räume nicht vor ihm zu betreten. Das wäre selbst für eine Warlady ungehörig gewesen.
Eine Ecke des Raumes war mit langen Tüchern verhängt. Vermutlich zog es von dort.
Aus den Augenwinkeln sah sie etwas aufblitzen. Hortete Felix dort seinen Schmuck oder sparte er auf eine Rüstung? Sie könnte es ihm nicht verdenken.
Ohne eine ordentliche Rüstung war es schwer, sich außerhalb von Behausungen oder Dampfmobilen aufzuhalten, aber Rüstungen waren teuer. Sie verschlangen Metall, Plastik, Drähte, Schmieröl, Membranen – Unmengen an Ressourcen, die begrenzt waren. So wie alles auf der Erde begrenzt war seit der großen Dunkelheit. Alixena schloss die Augen für einen Augenblick und sah wieder die drückende Finsternis ihrer Kindheit, spürte wieder die aschengraue Kälte auf ihrer Haut, welche Aufenthalte im Freien zu einer Tortur gemacht hatte. Den Regen, der schmeckte, als hätte sie eine Batterie abgeleckt und von dem sie einen seltsamen Ausschlag bekam, als sie einmal heimlich in den Pfützen herumgesprungen war.
Manchmal gab es sogar Schnee, der Kinder krank machte. So viele waren gestorben.
Und nun hatte sie auch Gero verloren. Gero, mit dem zusammen sie diese Zeit überlebt hatte. Mit dem sie alle Widrigkeiten irgendwie überstehen konnte, weil allein seine Anwesenheit alles erträglich machte. Die Kriege, den Hunger, die Kälte. Später die Hitze und die Kämpfe um alles, was gegen diese schützte.
Ohne ihn fühlte sie sich unvollständig und schutzlos. Aber sie hatte immer noch einen winzigen Teil von ihm: Dario.
Sie stolperte auf seine Wiege zu, nahm ihn heraus und brach neben Felix’ Bett zusammen, den Säugling eng an sich gedrückt. Ihr Kind war ihr geblieben, ihr gemeinsames Kind. Ihr Sohn, der etwas von Gero in sich trug, etwas von ihrer Vergangenheit. Saurer Regen auf Kinderhaut. Eine Vergangenheit, die sich niemals wiederholen durfte, solange sie lebte und darüber hinaus. Das war sie ihm schuldig – und allen anderen Menschen in ihrem Einflussbereich. Schluchzer schüttelten ihren Körper und Alixena spürte heiße Scham über ihre Schwäche. Sie war eine Warlady. Sie musste diese Emotionen im Zaum halten. Irgendwie. Aber sie konnte nicht.
Warme Hände legten sich auf ihre Oberarme und sie spürte, wie jemand sie vorsichtig festhielt. Felix. Er gab ihr Halt.
Sie zog die Nase hoch, legte Dario vorsichtig auf das Bett und wischte sich mit dem Arm über die Augen. »Es tut mir leid. Dieser Ausbruch … Ich hätte nicht …«
»Es ist gut, Mylady. Sie geht sich besser erfrischen, ich habe bereits die Zofen rufen lassen. Die Zeremonie des Abschieds ist nach dem Mittagsmahl. Ich hätte gerne mehr Zeit gelassen, aber die Hitze … Mylady versteht.«
»Ja. Ich verstehe.« Natürlich. Sie hatten nur begrenzte Möglichkeiten, Geros Körper zu kühlen. »Ich werde mich meines Ranges entsprechend verhalten.« Sie nahm ihr Kind wieder an sich und ging hoch erhobenen Hauptes in die angrenzenden Räume – die, die sie mit Gero geteilt hatte. Die, in denen alles sie an ihn erinnern würde, selbst die drei jungen Frauen, die mit demütig gesenkten Köpfen darauf warteten, sie nach der langen Reise zu versorgen.
Sie musste stark sein. Geros Reise war eine viel längere, und sie hatte ihn an ihrem Beginn zu begleiten.
Sobald die Sonne endgültig untergegangen war – ein Zeitpunkt, der schwer festzustellen war in einer Welt, in der der Himmel seit Jahren nicht richtig aufzuklaren schien – ertönten die rituellen Trommeln.
Alixena zog sich den Schleier aus hauchdünn gewalzten, roten Plastikstreifen vor das Gesicht und trat mit Dario auf dem Arm und Felix an ihrer Seite langsam den Weg in den Keller an, wo der riesige Brennofen stand.
Sklaven mit geschorenen Köpfen, nur mit rotem Lendenschurz bekleidet, standen barfuß entlang ihres Weges und schlugen die Trommeln im Rhythmus eines sehr langsamen, nahezu verklungenen Herzschlags.
Jeder Schlag vibrierte auch durch Alixenas Adern, drohte, auch ihr Herz zu verlangsamen. Sie zwang sich, ihren Atem nicht an die Trommeln anzupassen und mit Dario so zügig wie möglich in den Keller zu schreiten.
Vor der verriegelten Kellertür warteten drei Priesterinnen auf sie.
Eine nahm ihr ihren Sohn ab, die andere ihren Schleier und die Dritte zeichnete mit weißer Farbe Punkte auf ihre Wangen, dann mit roter Farbe einen langen Strich von ihrer Stirn über ihre Nase bis zu ihrem Kinn.
»Lord Gero Lue ist in das Haus der Nachtkönigin eingezogen. Er sitzt an ihrer Tafel, doch er kann ihre Speisen nicht essen und ihr Wasser nicht trinken.«
Die Trommeln wurden schneller, begleitet von Sklaven, die mit Schellen an den Fußknöcheln tanzten.
»Ich habe mit meinen Gebeten seinen Weg begleitet, damit er an ihrer Tafel sitzen kann. Was muss ich tun, damit er von ihrer Tafel speisen kann?«
»Er muss durch das Feuer gehen. Solange er nicht bereit ist, werden ihm keine Speisen bereitet.«
Alixena senkte den Kopf. »So sei es.«
Immer noch tanzend und mit den Fußschellen klingelnd, öffneten die Sklaven die Tür in den Keller.
Vor dem Ofen lag Gero auf seiner Glasbahre, die Blumen auf seinem Körper schon leicht verwelkt.
Der süßliche Geruch nach Verwesung mischte sich mit dem Duft der Rosen, aber auch mit dem leicht fauligen Geruch der bereits welken Blätter. Die Hitze in dem kleinen Raum ließ die Farbe auf ihrem Gesicht schmelzen. Sie musste all ihre Willenskraft aufbringen, um keine Miene nicht zu verziehen. Wenn sie einen Fehler machte, würde es Gero bei der Nachtkönigin schlecht gehen.
Ein Lächeln drohte, ihre Mundwinkel zu rühren. Eine Träne, ihr Auge beim Gedanken an ihn zu verlassen. Sie wusste, welch ein Geschenk wahre Liebe war. Sie musste dankbar sein, es überhaupt erhalten zu haben, statt darum zu trauern, dass es ihr wieder genommen worden war. Aber wieso tat ihr Herz dabei so weh?
Man durfte es ihr nicht anmerken.
Im Rhythmus der Trommeln schritt sie zur gläsernen Bahre.
Das Rascheln und Klingeln der tanzenden Sklaven, die Gerüche und die Hitze umnebelten in ihren Verstand, bis sie nur noch verschwommen sah, fast wie in Trance agierte.
Eine Priesterin reichte ihr eine Schale mit roter Farbe.
Alixena trug sie auf ihre Lippen auf und drückte einen Kuss auf Geros Stirn. »Mit diesem Kuss zeichne ich dich. Durch dieses Zeichen werde ich dich an der Tafel der Nachtkönigin wiederfinden, wenn ich einst selbst hinabsteige.« Sie trat zurück und drückte den Hebel herunter, der die Bahre aus schwarzem Glas langsam ins Innere des Ofens fahren ließ.
Die Trommeln steigerten sich zu einem schnellen, fast rasendem Rhythmus. Ihr Herz drohte, mit den Trommeln aus ihrer Brust zu springen. Das Rascheln und Klingeln um sie herum wob sie in die Schatten ein. Immer wilder die Tänze, immer schneller die Trommeln, immer heißer die Luft, bis sie es über Gero flimmern sah und die Rosenblüten verglühten, noch ehe sein Körper die Klappe erreicht hatte.
Zuletzt sank sie zu Boden, ihr Körper zuckte und als sie schrie, verband sich ihr Schrei mit dem Glühen der Welt um sie herum.
Gero war angekommen.