Читать книгу Der tote Prinz - Katherina Ushachov - Страница 9
Gegenwart 1. Elessa - 15 Jahre später
ОглавлениеWie lange sollte sie noch vor dem Spiegel sitzen und sich sämtliche Haare ziehen lassen? Sie war sich jedenfalls sicher, dass sie mit jedem Strich des Lockenkamms etliche davon verlor, und das wollte sie garantiert nicht: mit einer Glatze zum Fest im Clanschloss der Lue erscheinen. Glatzen hatten nur alte Menschen. So alt, dass sie sich noch an die ganze Zeit der Großen Dunkelheit erinnern konnten. Denen hatten damals der Regen die Haare direkt vom Kopf gespült. Was Elessa trotz des nervigen Unterrichts, den ihre Mutter ihr aufzwang, noch nicht ganz verstand. Nicht, dass es sie überhaupt interessierte.
Sie baumelte mit den Beinen und wünschte sich weit weg aus dem Palast der Dotar. Zu den Straßenratten, wo ihre wirklichen Freunde waren. Wo ihre Anwesenheit etwas änderte. Wenn sie sich in die Lumpen unter ihrem Bett hüllte, die Hände mit Binden umwickelte und mit ihnen in den Müllbergen um Dotar-Schloss nach Plastik, Glas und Metallen suchte, fühlte sie sich frei. Sie brauchte das Geld nicht, aber sie war gut, und konnte mit ihrer Suche zumindest die Armen unterstützen. Hier jedoch, hier fühlte sie sich nutzlos. Ihre Mutter schenkte ihr alles, was sie wollte – solange es Dinge waren. Aber das, was sie wirklich wollte, bekam sie nicht: Freiheit.
Schloss Dotar war ein hübscher Käfig voller Metallfäden und glitzernder Glassteine, voller dünn gewalzter Plastikblätter mit hineingedrückten Geschichten und mit Gewächshäusern voller nützlicher und schöner Pflanzen. In alldem fühlte sie sich die meiste Zeit so sehr eingesperrt, dass sie nachts in ihr Kopfkissen schrie, bis sie keine Kraft mehr hatte und vor Erschöpfung einschlief.
Die Zofen hörten endlich auf, an ihrem Haar herumzuzupfen – was sprach gegen praktische Zöpfe? – und zeichneten ihr stattdessen das traditionelle Muster der Dotar aufs Gesicht. Den geradlinigen dunkelroten Streifen von Schläfe zu Schläfe, über ihre geschlossenen Augenlider hinweg und über ihren Nasenrücken.
Immerhin war ihr Gesicht nicht so bleich wie das ihrer Mutter, bei der dieser Streifen immer wirkte, als hätte sie Blut im Gesicht. Dennoch – die Bemalung fühlte sich unangenehm an und sie war sich sicher, dass die Farbe spannen und bröckeln würde, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Also wozu das Ganze, wenn es ohnehin die nächsten Tage über niemand sehen konnte?
Nach der Antwort brauchte sie allerdings gar nicht fragen, denn sie lautet stets gleich: Weil sie eine Dotar war und es sich so gehörte. Darum.
Das war auch der Grund, aus dem sie sich in ihre Kleidung zwängen ließ – ein Großteil davon bestand aus irgendwie zusammengesuchten Stoffresten, die jemand einheitlich dunkelblau gefärbt hatte, gemischt mit einem Gewebe aus langgezogenen Plastikfäden. Fast so stabil wie eine Rüstung und mit Sicherheit genauso einengend. Auch wenn Elessa noch keine Rüstung tragen musste – sie lebten nicht mehr in der vergangenen Zeit, in der man sogar für Kinder welche angefertigt hatte. Wenn sie ehrlich war, war sie froh darüber, über ihren Sachen nicht auch noch diesen Metallklotz tragen zu müssen.
Trotzdem würde sie lieber ihre Straßenrattenkleidung tragen. Alles nur Lumpen, aber immerhin weiche, abgetragene Lumpen, aus Stoff, fast ohne Plastik, mit aus Rattenfellen zusammengenähten Leggins, in denen sie nicht annähernd so sehr schwitzte wie in denen aus einem glänzenden, schwarzen Stoff, die sie anzuziehen hatte.
»Warlady Aino Dotar Dotar«, verkündete eine ihrer Zofen und trat zur Seite, um ihre Mutter einzulassen.
Die betrat mit einem langen Schritt Elessas Räume und blickte sich mit einem leicht triumphierenden Lächeln um. Als wüsste sie ganz genau, dass ein Großteil der besonders schönen Dinge in diesen Räumen – Spieluhren aus Metall, Bücher voller in dünnes Plastik eingedrückter Geschichten, bemaltes Glas – Bestechungen waren. Damit sie, Elessa, ihr gefügig blieb.
Elessa hasste ihre Mutter von den hellgelben Spitzen ihrer Haare bis zu den schwarzen Plastikspitzen an ihren protzigen Schuhen. Eine Mutter, deren Blick aus merkwürdig rostroten Augen sie bis in ihre Alpträume verfolgte.
»Komm, Elessa. Gehen wir zum Dampfmobil. Wir werden auf dem Weg nach Acniv einiges zu besprechen haben.«
Elessa schluckte. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte mitzukommen und sich anzuhören, was auch immer ihre Mutter zu sagen hatte.
Wenn sie ehrlich war, freute sie sich zumindest darauf, mit dem Dampfmobil zu fahren. Selbst wenn sie dafür die Gesellschaft ihrer Mutter ertragen musste, war es doch die einzige Möglichkeit, Dotar-Schloss zu verlassen und Dotar-Stadt zu erblicken, ohne ihr Gesichtsfeld durch Schutzmaßnahmen einzuschränken oder auf das Gebiet der Müllberge beschränkt zu sein.
Sie konnte sich die Stadt ansehen, die sie als Tochter einer Warlady so nie betreten durfte. Nicht, dass der Anblick sonderlich schön wäre.
Graue Betonwüsten, die Fassaden löchrig vom sauren Regen. Aus einigen ragte das Metall heraus und manche waren notdürftig mit Scheiben aus Sicherheitsglas abgedeckt – die Häuser von Menschen, die fast so reich wie ihre Mutter waren oder für das Überleben aller so wichtig waren, dass sie nicht in sich zusammenfallen durften. Die Plastikraffinerie, die Recyclinganlage aber auch die Gewächshäuser mit den wenigen Pflanzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Hallen mit den kleinen Beständen an Nutztieren.
Selbst die, die reich waren, hatten in dieser Welt so gut wie nichts. Etwas, was Elessa sich immer wieder bewusst zu machen versuchte, wenn sie die Geschenke ihrer Mutter als Bestechungen auffasste. Und doch …
Sie warf ihr Seitenblicke zu, wie sie, obwohl niemand sie sehen konnte, sehr gerade in den Sitzkissen saß und sich kaum bewegte. Die sorgfältig frisierten Haare wippten bei jedem Schlagloch, doch sie selbst zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Dann wieder war die Landschaft interessanter als das altbekannte Gesicht der eigenen Mutter und Elessa starrte nach draußen. Dort trottete gerade eine Gruppe Müllsammler ohne Mundschutz oder Helm, ohne Rüstung, hinter einer Obersammlerin her, auf dem Weg zu einem der vielen Müllberge in und um Dotar-Stadt.
Müll.
Das war das einzige, was sie im Überfluss besaßen. Das, wovon sie lebten. Die Abfälle ihrer Vorfahren, überschattet von einem diesigen Nebel, der eine Mischung aus saurem Tau und Asche auf den Gebäuden hinterließ. Trotzdem wollte sie weiter aus dem Fenster schauen. So viel wie möglich sehen und ihre Gedanken in die trostlose Landschaft schicken.
Ihre Mutter drehte an der Kurbel im Inneren des Wagens und verdunkelte die Scheibe.
Elessa sah im milchigtrüben Licht des Morgens nur noch grauschwarze Schlieren. Sie zwang sich, nicht zu auffällig zu seufzen und ihre Mutter nicht zu giftig anzusehen. »Worüber wolltest du mit mir sprechen?«
»Zunächst habe ich ein Geschenk für dich.« Sie schenkte Elessa ihr breitestes Lächeln, ehe sie ihre Plastiktasche öffnete und Elessa ein kleines Kästchen übergab.
Ein Bestechungsversuch. Schon wieder. Elessa wusste genau, was die vergifteten Geschenke ihrer Mutter bedeuteten. Nichts Gutes. Dennoch konnte sie nicht widerstehen und streckte die Hand nach der kühlen Plastikkiste aus und öffnete sie vorsichtig. »Eine Brosche.«
Nicht irgendeine, sondern die schönste, die Elessa je gesehen hatte. Im Licht der Autolampen erkannte sie, dass das kleine Quadrat aus perfektem, durchsichtigen Resin war, ohne Farben, ohne Eintrübung. Ein Stück Plastik, das in dieser reinen Form ein Vermögen gekostet haben musste. In seinem Inneren schwebte ein winziges Zahnrad aus blank poliertem Kupfer, wie eine Schneeflocke aus Sonnenschein.
»Steck es dir an. Oder warte …« Ihre Mutter stand auf, ging einige Schritte zu ihr hin und steckte das Kunstwerk an ihr Haarband.
»Danke. Es ist wunderschön.« Sie hatte es gesagt und damit angenommen. Also musste sie tun, was ihre Mutter im Ausgleich fordern würde.
»Du bist fünfzehn Jahre alt. Schon fast erwachsen. Damit kannst du in einem gewissen Rahmen agieren und dich in den Dienst der Familie stellen. Nun, ich brauche deine Hilfe.« Sie setzte sich wieder an ihren Platz und schlug die Beine übereinander.
»Wie kann ich dir zu Diensten sein?« Elessa hasste diesen Satz so sehr, dass es körperlich schmerzte, ihn auszusprechen.
»Du wirst dich benehmen, solange man mich sieht. Dich nicht blamieren. Nicht sprechen, außer du wirst gefragt.« Ein Funkeln trat in die rostroten Augen ihrer Mutter. »Aber du bist noch ein kleines, drahtiges Mädchen und wenn du durch Lue-Schloss streifst, wird niemand sich etwas denken. Erkunde also das Schloss. Erzähl mir alles, was du herausfindest.«
Spionage also.
Elessa ballte die Hände zu Fäusten. »Ja, Mutter.«