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Gegenwart 1. Elessa - 15 Jahre später

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Wie lan­ge soll­te sie noch vor dem Spie­gel sit­zen und sich sämt­li­che Haa­re zie­hen las­sen? Sie war sich je­den­falls si­cher, dass sie mit je­dem Strich des Lo­cken­kamms et­li­che da­von ver­lor, und das woll­te sie ga­ran­tiert nicht: mit ei­ner Glat­ze zum Fest im Cl­an­schloss der Lue er­schei­nen. Glat­zen hat­ten nur al­te Men­schen. So alt, dass sie sich noch an die gan­ze Zeit der Gro­ßen Dun­kel­heit er­in­nern konn­ten. De­nen hat­ten da­mals der Re­gen die Haa­re di­rekt vom Kopf ge­spült. Was Eles­sa trotz des ner­vi­gen Un­ter­richts, den ih­re Mut­ter ihr auf­zwang, noch nicht ganz ver­stand. Nicht, dass es sie über­haupt in­ter­es­sier­te.

Sie bau­mel­te mit den Bei­nen und wünsch­te sich weit weg aus dem Palast der Do­tar. Zu den Stra­ßen­rat­ten, wo ih­re wirk­li­chen Freun­de wa­ren. Wo ih­re An­we­sen­heit et­was än­der­te. Wenn sie sich in die Lum­pen un­ter ih­rem Bett hüll­te, die Hän­de mit Bin­den um­wi­ckel­te und mit ih­nen in den Müll­ber­gen um Do­tar-Schloss nach Plas­tik, Glas und Me­tal­len such­te, fühl­te sie sich frei. Sie brauch­te das Geld nicht, aber sie war gut, und konn­te mit ih­rer Su­che zu­min­dest die Ar­men un­ter­stüt­zen. Hier je­doch, hier fühl­te sie sich nutz­los. Ih­re Mut­ter schenk­te ihr al­les, was sie woll­te – so­lan­ge es Din­ge wa­ren. Aber das, was sie wirk­lich woll­te, be­kam sie nicht: Frei­heit.

Schloss Do­tar war ein hüb­scher Kä­fig vol­ler Me­tall­fä­den und glit­zern­der Glas­s­tei­ne, vol­ler dünn ge­walz­ter Plas­tik­blät­ter mit hin­ein­ge­drück­ten Ge­schich­ten und mit Ge­wächs­häu­sern vol­ler nütz­li­cher und schö­ner Pflan­zen. In all­dem fühl­te sie sich die meis­te Zeit so sehr ein­ge­sperrt, dass sie nachts in ihr Kopf­kis­sen schrie, bis sie kei­ne Kraft mehr hat­te und vor Er­schöp­fung ein­sch­lief.

Die Zo­fen hör­ten end­lich auf, an ih­rem Haar her­um­zu­zup­fen – was sprach ge­gen prak­ti­sche Zöp­fe? – und zeich­ne­ten ihr statt­des­sen das tra­di­tio­nel­le Mus­ter der Do­tar aufs Ge­sicht. Den ge­rad­li­ni­gen dun­kel­ro­ten Strei­fen von Schlä­fe zu Schlä­fe, über ih­re ge­schlos­se­nen Au­gen­li­der hin­weg und über ih­ren Na­sen­rücken.

Im­mer­hin war ihr Ge­sicht nicht so bleich wie das ih­rer Mut­ter, bei der die­ser Strei­fen im­mer wirk­te, als hät­te sie Blut im Ge­sicht. Den­noch – die Be­ma­lung fühl­te sich un­an­ge­nehm an und sie war sich si­cher, dass die Far­be span­nen und brö­ckeln wür­de, be­vor sie ihr Ziel er­reicht hat­ten. Al­so wo­zu das Gan­ze, wenn es oh­ne­hin die nächs­ten Ta­ge über nie­mand se­hen konn­te?

Nach der Ant­wort brauch­te sie al­ler­dings gar nicht fra­gen, denn sie lau­tet stets gleich: Weil sie ei­ne Do­tar war und es sich so ge­hör­te. Da­rum.

Das war auch der Grund, aus dem sie sich in ih­re Klei­dung zwän­gen ließ – ein Groß­teil da­von be­stand aus ir­gend­wie zu­sam­men­ge­such­ten Stoff­res­ten, die je­mand ein­heit­lich dun­kel­blau ge­färbt hat­te, ge­mischt mit ei­nem Ge­we­be aus lang­ge­zo­ge­nen Plas­tik­fä­den. Fast so sta­bil wie ei­ne Rüs­tung und mit Si­cher­heit ge­nau­so einen­gend. Auch wenn Eles­sa noch kei­ne Rüs­tung tra­gen muss­te – sie leb­ten nicht mehr in der ver­gan­ge­nen Zeit, in der man so­gar für Kin­der wel­che an­ge­fer­tigt hat­te. Wenn sie ehr­lich war, war sie froh dar­über, über ih­ren Sa­chen nicht auch noch die­sen Me­tall­klotz tra­gen zu müs­sen.

Trotz­dem wür­de sie lie­ber ih­re Stra­ßen­rat­ten­klei­dung tra­gen. Al­les nur Lum­pen, aber im­mer­hin wei­che, ab­ge­tra­ge­ne Lum­pen, aus Stoff, fast oh­ne Plas­tik, mit aus Rat­ten­fel­len zu­sam­men­ge­näh­ten Legg­ins, in de­nen sie nicht an­nä­hernd so sehr schwitz­te wie in de­nen aus ei­nem glän­zen­den, schwar­zen Stoff, die sie an­zu­zie­hen hat­te.

»War­la­dy Ai­no Do­tar Do­tar«, ver­kün­de­te ei­ne ih­rer Zo­fen und trat zur Sei­te, um ih­re Mut­ter ein­zu­las­sen.

Die be­trat mit ei­nem lan­gen Schritt Eles­sas Räu­me und blick­te sich mit ei­nem leicht tri­um­phie­ren­den Lä­cheln um. Als wüss­te sie ganz ge­nau, dass ein Groß­teil der be­son­ders schö­nen Din­ge in die­sen Räu­men – Spiel­uh­ren aus Me­tall, Bü­cher vol­ler in dün­nes Plas­tik ein­ge­drück­ter Ge­schich­ten, be­mal­tes Glas – Be­ste­chun­gen wa­ren. Da­mit sie, Eles­sa, ihr ge­fü­gig blieb.

Eles­sa hass­te ih­re Mut­ter von den hell­gel­ben Spit­zen ih­rer Haa­re bis zu den schwar­zen Plas­tik­spit­zen an ih­ren prot­zi­gen Schu­hen. Ei­ne Mut­ter, de­ren Blick aus merk­wür­dig rostro­ten Au­gen sie bis in ih­re Alp­träu­me ver­folg­te.

»Komm, Eles­sa. Ge­hen wir zum Dampf­mo­bil. Wir wer­den auf dem Weg nach Ac­niv ei­ni­ges zu be­spre­chen ha­ben.«

Eles­sa schluck­te. Sie hat­te kei­ne Wahl. Sie hat­te mit­zu­kom­men und sich an­zu­hö­ren, was auch im­mer ih­re Mut­ter zu sa­gen hat­te.


Wenn sie ehr­lich war, freu­te sie sich zu­min­dest dar­auf, mit dem Dampf­mo­bil zu fah­ren. Selbst wenn sie da­für die Ge­sell­schaft ih­rer Mut­ter er­tra­gen muss­te, war es doch die ein­zi­ge Mög­lich­keit, Do­tar-Schloss zu ver­las­sen und Do­tar-Stadt zu er­bli­cken, oh­ne ihr Ge­sichts­feld durch Schutz­maß­nah­men ein­zu­schrän­ken oder auf das Ge­biet der Müll­ber­ge be­schränkt zu sein.

Sie konn­te sich die Stadt an­se­hen, die sie als Toch­ter ei­ner War­la­dy so nie be­tre­ten durf­te. Nicht, dass der An­blick son­der­lich schön wä­re.

Graue Be­ton­wüs­ten, die Fassa­den löch­rig vom sau­ren Re­gen. Aus ei­ni­gen rag­te das Me­tall her­aus und man­che wa­ren not­dürf­tig mit Schei­ben aus Si­cher­heits­glas ab­ge­deckt – die Häu­ser von Men­schen, die fast so reich wie ih­re Mut­ter wa­ren oder für das Über­le­ben al­ler so wich­tig wa­ren, dass sie nicht in sich zu­sam­men­fal­len durf­ten. Die Plas­ti­kraf­fi­ne­rie, die Re­cy­cling­an­la­ge aber auch die Ge­wächs­häu­ser mit den we­ni­gen Pflan­zen, die ih­nen zur Ver­fü­gung ste­hen. Die Hal­len mit den klei­nen Be­stän­den an Nutz­tie­ren.

Selbst die, die reich wa­ren, hat­ten in die­ser Welt so gut wie nichts. Et­was, was Eles­sa sich im­mer wie­der be­wusst zu ma­chen ver­such­te, wenn sie die Ge­schen­ke ih­rer Mut­ter als Be­ste­chun­gen auf­fass­te. Und doch …

Sie warf ihr Sei­ten­bli­cke zu, wie sie, ob­wohl nie­mand sie se­hen konn­te, sehr ge­ra­de in den Sitz­kis­sen saß und sich kaum be­weg­te. Die sorg­fäl­tig fri­sier­ten Haa­re wipp­ten bei je­dem Schlag­loch, doch sie selbst zuck­te nicht ein­mal mit der Wim­per.

Dann wie­der war die Land­schaft in­ter­essan­ter als das alt­be­kann­te Ge­sicht der ei­ge­nen Mut­ter und Eles­sa starr­te nach drau­ßen. Dort trot­te­te ge­ra­de ei­ne Grup­pe Müll­samm­ler oh­ne Mund­schutz oder Helm, oh­ne Rüs­tung, hin­ter ei­ner Ober­samm­le­rin her, auf dem Weg zu ei­nem der vie­len Müll­ber­ge in und um Do­tar-Stadt.

Müll.

Das war das ein­zi­ge, was sie im Über­fluss be­sa­ßen. Das, wo­von sie leb­ten. Die Ab­fäl­le ih­rer Vor­fah­ren, über­schat­tet von ei­nem die­si­gen Ne­bel, der ei­ne Mi­schung aus sau­rem Tau und Asche auf den Ge­bäu­den hin­ter­ließ. Trotz­dem woll­te sie wei­ter aus dem Fens­ter schau­en. So viel wie mög­lich se­hen und ih­re Ge­dan­ken in die trost­lo­se Land­schaft schi­cken.

Ih­re Mut­ter dreh­te an der Kur­bel im In­ne­ren des Wa­gens und ver­dun­kel­te die Schei­be.

Eles­sa sah im mil­chig­trü­ben Licht des Mor­gens nur noch grauschwar­ze Sch­lie­ren. Sie zwang sich, nicht zu auf­fäl­lig zu seuf­zen und ih­re Mut­ter nicht zu gif­tig an­zu­se­hen. »Wor­über woll­test du mit mir spre­chen?«

»Zu­nächst ha­be ich ein Ge­schenk für dich.« Sie schenk­te Eles­sa ihr brei­tes­tes Lä­cheln, ehe sie ih­re Plas­tik­ta­sche öff­ne­te und Eles­sa ein klei­nes Käst­chen übergab.

Ein Be­ste­chungs­ver­such. Schon wie­der. Eles­sa wuss­te ge­nau, was die ver­gif­te­ten Ge­schen­ke ih­rer Mut­ter be­deu­te­ten. Nichts Gu­tes. Den­noch konn­te sie nicht wi­der­ste­hen und streck­te die Hand nach der küh­len Plas­tik­kis­te aus und öff­ne­te sie vor­sich­tig. »Ei­ne Bro­sche.«

Nicht ir­gend­ei­ne, son­dern die schöns­te, die Eles­sa je ge­se­hen hat­te. Im Licht der Au­to­lam­pen er­kann­te sie, dass das klei­ne Qua­drat aus per­fek­tem, durch­sich­ti­gen Re­sin war, oh­ne Far­ben, oh­ne Ein­trü­bung. Ein Stück Plas­tik, das in die­ser rei­nen Form ein Ver­mö­gen ge­kos­tet ha­ben muss­te. In sei­nem In­ne­ren schweb­te ein win­zi­ges Zahn­rad aus blank po­lier­tem Kup­fer, wie ei­ne Schnee­flo­cke aus Son­nen­schein.

»Steck es dir an. Oder war­te …« Ih­re Mut­ter stand auf, ging ei­ni­ge Schrit­te zu ihr hin und steck­te das Kunst­werk an ihr Haar­band.

»Dan­ke. Es ist wun­der­schön.« Sie hat­te es ge­sagt und da­mit an­ge­nom­men. Al­so muss­te sie tun, was ih­re Mut­ter im Aus­gleich for­dern wür­de.

»Du bist fünf­zehn Jah­re alt. Schon fast er­wach­sen. Da­mit kannst du in ei­nem ge­wis­sen Rah­men agie­ren und dich in den Dienst der Fa­mi­lie stel­len. Nun, ich brau­che dei­ne Hil­fe.« Sie setz­te sich wie­der an ih­ren Platz und schlug die Bei­ne über­ein­an­der.

»Wie kann ich dir zu Diens­ten sein?« Eles­sa hass­te die­sen Satz so sehr, dass es kör­per­lich schmerz­te, ihn aus­zu­spre­chen.

»Du wirst dich be­neh­men, so­lan­ge man mich sieht. Dich nicht bla­mie­ren. Nicht spre­chen, au­ßer du wirst ge­fragt.« Ein Fun­keln trat in die rostro­ten Au­gen ih­rer Mut­ter. »Aber du bist noch ein klei­nes, drah­ti­ges Mäd­chen und wenn du durch Lue-Schloss streifst, wird nie­mand sich et­was den­ken. Er­kun­de al­so das Schloss. Er­zähl mir al­les, was du her­aus­fin­dest.«

Spio­na­ge al­so.

Eles­sa ball­te die Hän­de zu Fäus­ten. »Ja, Mut­ter.«

Der tote Prinz

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