Читать книгу Italiener-Wochenende - Kathi Albrecht - Страница 6

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Jule schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. So ein schöner Septembersonntag. Nichts deutete mehr auf den Regen am Vortag hin, als die Oktoberfesteröffnung so derart ins Wasser gefallen war wie wohl noch nie. Und niemand sah ihr den Stress der letzten Wochen an, als sie beinahe fluchtartig ihre Heimatstadt verlassen hatte, um in München neu anzufangen. Sie trug ein Dirndlkleid wie alle anderen und fiel gar nicht weiter auf. Gut so. Denn das war der Plan. Sie holte tief Luft und lächelte zufrieden.

Eigentlich war sie ja nicht sonderlich risikofreudig, aber sie brauchte dringend einen Neustart. Hier in München hatte sie immerhin einen neuen Job und eine neue Wohnung. Ohne den Job hätte sie keine Umzugskiste gepackt, einfach auf gut Glück hätte sie sich nicht getraut. Wie auch? Sie hatte sich in letzter Zeit ein paar fatale Fehlgriffe geleistet. Leider nicht bloß bei Klamotten, die man problemlos umtauschen oder zurückschicken konnte. Und als neue beste Freundin hatte sie immerhin ihre Cousine Veronika. Mehr Leute würde sie noch kennenlernen, vielleicht im Job oder beim Sport. Hier in München waren auch genug Menschen unterwegs. Egal wer, Hauptsache nicht er. Er, dessen Namen sie im Moment nicht einmal denken wollte. Und hier konnte sie sicher sein, ihn nicht zu treffen.

„Mei, die Wiesn ist doch schönste Zeit im Jahr!“

Mit dieser Feststellung ließ sich ihre Cousine Veronika auf die Bierbank ihr gegenüber sinken, unmittelbar danach standen zwei Radler auf ihrem Tisch. Vero trug normalerweise sehr modische Kleidung, aber heute? Als waschechte Münchnerin trug sie ein schickes Dirndlkleid und eine aufwendige Flechtfrisur. Es passte perfekt. Davon war Jule noch ein bisschen entfernt.

Vero sah sie kritisch an. „Madl, des ist koa Dirndl, was du anhast, des ist a Faschingskostüm!“

Jule nickte. Wegen des Umzugs hatte die Zeit zwar nicht gereicht, ein echtes Trachtenkleid zu kaufen, aber sie hatte ja noch dieses Dirndl im Schrank gehabt, das sie vor einigen Jahren (neun, um genau zu sein), als Karnevalskostüm gekauft und getragen hatte. Es passte sogar noch. Einigermaßen jedenfalls. „Stimmt. Sieht man das so deutlich?“

„Es hat einen Reißverschluss.“

Jule schaute ihr Kleid an und hob erstaunt die Arme. Nun ja, die meisten ihrer Kleider hatten Reißverschlüsse, abgesehen vielleicht von dünnen Strandkleidchen.

Vero hob die Augenbrauen und sah Jule verzweifelt an. „Des kannst nimmer anziehn!“

„Wieso? Ist das wichtig, was ich anhabe?“

„Willst du Leute kennenlernen oder dir von Betrunkenen die Klamotten vom Leib reißen lassen?“

Es gab offenbar mehr Parallelen zwischen dem Oktoberfest und rheinischem Karneval, als sie gedacht hatte.

„Also“, fuhr Vero fort, „Reißverschluss heißt: kriegt ein besoffener Australier auch nach fünf Maß Bier noch auf. Wenn du ein richtiges Dirndl, also ein Trachtenkleid wie meins hier anziehst und wo das Aufmachen schon ein bisschen Übung braucht und Mühe macht, besteht zumindest theoretisch noch die Möglichkeit, dass sich jemand vorher mit dir unterhält. Vielleicht sogar in einer Sprache, die du verstehst …“

„So schlimm?“

„Je nachdem, in welches Zelt und um welche Uhrzeit du hingehst, noch schlimmer … Nein, Schmarrn! Aber es reicht ja, wenn du am Italiener-Wochenende anständig angezogen bist!“

„Italiener-Wochenende? Soll das ein Witz sein?“

„Nein. Ich meine, jeder weiß doch, dass das Oktoberfest einzig und allein zur Völkerverständigung erfunden wurde und eigentlich die größte Flirtbörse der Welt ist. Außerdem sind wir doch genau deswegen hier, oder?“

„Also dein Vater hat mir was erzählt von Trachtenumzug und Landwirtschaftsausstellung. So historisch gesehen …“

„Alles Gerüchte, alles Folklore“, entgegnete Vero und winkte rigoros ab. „Erstens ist es dafür da, damit euch Rheinländern die Zeit zwischen Sommerferien und Karneval nicht zu lang wird, und zweitens, um den Italienern den kürzesten Weg zur schwedischen Sünde zu ermöglichen. Notfalls auch zur holländischen, australischen oder bayrischen …“

„Deswegen Italiener-Wochenende, ja?“

„Ganz genau.“ Vero nickte fröhlich. „Meine Schulfreundin aus dem Nachbarhaus früher – du erinnerst dich? Die mit dem italienischen Vater?“

„Klar, Carlotta. Aber die muss ja nicht anreisen, die ist doch schon da!“

„Aber ihre Cousins! Da kommen zwei aus Italien. Ja, und weil es sich dieses Jahr nicht anders ausging, als dass sie ausgerechnet zur Wiesn-Zeit in die Ferien fährt, da kümmern wir uns um die Italiener. Hab ich ihr versprochen.“

„NEIN!!!“

Jule wurde rot. Die Antwort war lauter und heftiger ausgefallen als geplant. „Ach, also, ich meine …“

Oh. Na super. Jule biss sich auf die Zunge. Auf einen dieser Counsins konnte sie verzichten. Von ihm hatte sie vor fünfzehn Jahren schon eine Überdosis genossen.

Mit seinen Dreadlocks, seinem bizarren Musikgeschmack und dieser Hyperaktivität war Lorenzo eigentlich komplett indiskutabel gewesen. Irgendwie, Jule konnte sich da auch nicht mehr genau erinnern, war dann aber kurz vor ihrer Abreise ein veritabler Ferienflirt daraus geworden, der dann nach dieser Party (bei wem eigentlich?), auf Tante Christines Gartenliege geendet hatte. Nachdem Jule zurück in Düsseldorf für ihr Abi lernte und Lorenzo in Italien im Militärdienst schwitzen musste, waren noch ein paar Wochen lang Mails und Postkarten geschrieben worden, dann war die Sache versandet. Und Jule hatte auch ihn unter „Jugendsünden“ abgeheftet und die Peinlichkeit, bei der Tante im Garten wild herumgeknutscht zu haben, versucht zu verdrängen. Immerhin war es damals sehr dunkel gewesen, und bis eben war ihr das auch ganz gut gelungen. Aber jetzt bitte ein Themenwechsel!

„Sag mal, Vero, wie geht’s denn deinen Eltern? Alles okay bei meiner Tante und meinem Onkel?“

„Äh, ja, wieso?“ Vero runzelte die Stirn. „Obwohl … Mei, die Mama ist ein bisschen fertig, weil – ja, das könnte dich interessieren! Der Mayer Kilian, der war in der Grundschule in einer Klasse mit meiner Schwester gewesen und heut früh hatte der einen Herzinfarkt. Mit sechsunddreißig!“

„Oh, nicht gut. Ist ja eigentlich ein bisschen jung dafür, oder? Ich meine, es sei denn, der war fettleibig …“ Vielleicht so wie Vanessa, Veros ältere Schwester, die zwar als ausgewiesenes IT-Genie an irgendeinem wichtigen Institut in Berlin arbeitete, dessen Name Jule regelmäßig entfiel – aber sie hatte von Geburt an gefühlt doppelt so viel gewogen, wie gut für sie war.

„Ach, nein! Der ist so ein Supersportler, der Kili! Eisklettern in Norwegen und Paragliding in Südamerika und Bungee in Neuseeland und sowas. Super Job bei einer Bank, Eigentumswohnung mitten in Schwabing mit Dachterrasse!“

„Na ja, dann kann der sich ja auch jetzt eine Chefarztbehandlung leisten, oder? “

„Juli, der ist tot!“

Okay, das war nicht ganz so schön. Und es tat ihr leid, obwohl sie diesen Kilian ja nun wirklich nicht kannte. Aber mit sechsunddreißig an einem Herzinfarkt zu sterben, fand selbst sie ungewöhnlich.

„Aber“, fuhr Vero fort, „der hat auch so pflanzliche Aufputschmittel genommen. War wohl nicht ganz ungefährlich. – Diese Naturheilsachen, das ist doch genau deins, oder?“

Das stimmte jetzt nicht ganz, denn für Naturheilkunde interessierte Jule sich höchstens dann, wenn die Apothekerin ihres Vertrauens ihr eine homöopathische Alternative zur Chemiekeule gegen Erkältungen vorschlug. Was Vero aber tatsächlich meinte, war Jules neuer Job bei einem Münchner Verlag. Sie sollte sich um die Werbung kümmern, allerdings im Bereich Naturheilkunde und Ratgeber. Ausgerechnet sie! Kochbücher wären ihr lieber gewesen, das wäre eigentlich ihr Traumjob gewesen. Aber sie hatte beschlossen, nicht damit zu hadern, sondern das Positive zu sehen. Es war bestimmt ganz gut, an etwas zu arbeiten, woran ihr Herz nicht hing. Fürs Erste war sie damit beschäftigt, sich zurechtzufinden und mit dem für Verlagsleute normalen Herbststress aus Frankfurter Buchmesse, Vertretertagung und Weihnachtsgeschäft klarzukommen. Damit sie nicht die Nächste war, die umkippte.

Italiener-Wochenende

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