Читать книгу Italiener-Wochenende - Kathi Albrecht - Страница 9
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„Wann bist du eigentlich aufgestanden?“ Jule war noch nicht einmal richtig wach, da stand Vero schon bei ihr in der Küche, war dabei die Kaffeemaschine anzuwerfen – und hatte sogar frische Brötchen mitgebracht! Sensationell. Nur die Aussicht auf Kaffee hatte dafür gesorgt, dass sie nicht direkt wieder ins Bett gestiegen war, nachdem sie ihrer Cousine die Tür geöffnet hatte, sondern sich ohne großen Umweg über das Badezimmer gleich an den Tisch setzte.
Vero starrte sie an. „Willst du damit etwa sagen, dass du nicht wach geworden bist, als dein Telefon geklingelt hat?“
„Welches Telefon?“ Jule fingerte nach ihrem Handy.
„Lautlos?“ Vero zeigt auf den Apparat. „War meine Mutter, deine Tante. Sie hat dann auch noch bei mir angerufen … Schöne Grüße und wir haben die Dirndl-Kleider hängen lassen.“
„Oh, Mann! Hab ich total vergessen in der Aufregung gestern … “
„Hab ich ihr auch erzählt, und die Geschichte mit Lorenzo kannte sie noch gar nicht. Sie war einigermaßen verwirrt, hat panisch aufgelegt und wollte erstmal rüber zu Enzo.“
„Kann dein Vater uns nicht vielleicht die Kleider bringen? Der steht doch immer so früh auf! Wenn wir da erst … Och nee!“
„Juli, das war ja der Plan, aber der Papa hat die Tasche mit den Dirndln stehen lassen und dafür das Altpapier ins Auto geladen und ist zum Einkaufen gefahren und dann weiter zum Andi. So: Weil ich aber schon mal wach war, bin ich aufgestanden und zum Bäcker gegangen.“
„Oh, das ist aber lieb.“ Jule setzte sich noch im Schlafanzug an den Tisch und goss Kaffee ein. Sie knabberte gerade genüsslich an einer dick mit Nutella bestrichenen Brötchenhälfte, als das Handy schon wieder klingelte. Wieder Tante Christine. Inzwischen hatte sie mit der halben Nachbarschaft telefoniert und war auf dem neuesten Stand. Das gesamte neu erworbene Wissen gab sie gleich an Jule weiter. Irgendwer hatte übrigens dann auch noch behauptet, ein gewisser Hubert, der im Mai einen Herzinfarkt erlitten hatte und daran gestorben war, der hätte vorher auch so einen Tanz aufgeführt wie Lorenzo gestern. Aber natürlich wollte sich da mal wieder jemand wichtigmachen, fand Christine, und Hubert sei ja schließlich Kettenraucher gewesen und war schon 78 gewesen und überhaupt.
„Wie geht es Lorenzo eigentlich?“, unterbrach Jule ihre Tante.
„Ach, Schatz, so genau weiß ich das gar nicht. Ganz gut, glaube ich. Mit Enzo habe ich nur kurz gesprochen. Aber soll ich euch nochmal Danke sagen und er will Lorenzo gerne abholen, aber Wolfgang ist doch jetzt mit dem Auto unterwegs zum Andi, weil unsere kleine Franzi doch … “
„Enzo hat jetzt also ein Transportproblem?“ fragte sie – nur leicht genervt.
„Ja,“ gestand Tante Christine. „Ist ihm sehr peinlich, aber könnt ihr noch einmal zum Krankenhaus fahren, mit ihm? Ich meine, wenn ihr sowieso hier vorbeikommt wegen der Kleider und dann zur Veronika …“
„Ja, dann liegt das Krankenhaus fast auf dem Weg.“ Jule nickte ergeben.
Mit Enzo auf dem Rücksitz und daneben Christines Trachtenkollektion der letzten fünf Jahrzehnte machten sie sich noch einmal auf in Richtung Krankenhaus. Enzo war schrecklich aufgedreht und redete ununterbrochen. Auch nüchtern war er anstrengend. Er hoffte, alles richtig zu machen und war glücklich, dass sein Neffe den Besuch in München zumindest überlebt hatte. Er würde sich keine Vorwürfe machen müssen, sein Bruder in Italien war auch recht zuversichtlich, seine Schwägerin – übrigens Lorenzos Mutter – hatte ihm per SMS mindestens 200 wertvolle Tipps zur Nachbehandlung übermittelt, und Enzo betete sie alle noch einmal herunter. Vermutlich war er einfach nur froh, jemanden zum Reden zu haben.
Jule schaltete auf Durchzug, schließlich musste sie sich aufs Fahren konzentrieren und hoffte inständig, dass sie Enzo wenigstens an diesem Morgen einfach an der Krankenhauspforte abgeben konnten. Italiener-Wochenende hin oder her, Enzo und Lorenzo gingen ihr schon ein wenig auf die Nerven, sie war doch kein Taxi! Damit nämlich, hatte Enzo ihnen versprochen, würde er mit seinem Schützling wieder heimfahren.
Und noch einmal hatte sie die Rechnung ohne ihre Cousine gemacht. Das wurde langsam zur Gewohnheit. Vero nämlich versprach Enzo gerade, ihn zu seinem Neffen zu begleiten, um ihn persönlich zu begrüßen und um herauszufinden, ob man vielleicht einen Laborbefund des Patienten hatte. Ob sie es heute wohl zur Wiesn schaffen würden?
***
Vor Lorenzos Zimmertür erwartete sie dann noch eine weitere Überraschung. Von der anderen Seite des Gangs kam ihnen Dr. Russo entgegen. Enzo stürzte gleich auf ihn zu, nahm sein Gesicht in beide Hände und überschüttete ihn mit einem Wortschwall. Ein Messias konnte nicht überschwänglicher begrüßt werden. Als Dr. Russo endlich dazu kam, zu antworten, ließ Enzo dankenswerterweise von ihm ab, stoppte seinen Redefluss aber nicht. Den Arzt schien das nicht zu stören, er hörte einfach nicht mehr hin, sondern begrüßte Vero und Jule mit Handschlag sowie einem müden Blick.
„Mein Gott, sind Sie schon wieder hier?!“, rutschte es Vero heraus.
„Nicht schon wieder, sondern immer noch …“, grinste Dr. Russo mühsam.
„Ach, Sie Ärmster!“
Er lächelte und winkte ab. „Danke, danke. So schlimm war es aber nicht, ich habe ja nicht durchgearbeitet. Ich hatte noch einen Notfall bis dreiviertel vier, danach habe ich mich hingelegt und die Kollegen haben mich netterweise bis sechs schlafen lassen. Jetzt wollte ich nach Lorenzo schauen und fahre dann heim. Wenn Sie nicht drauf bestehen, kann ich die beiden auch heimfahren. Passt das?“
„Oh, ja! Passt sehr gut. Wir wollen noch Dirndlkleider probieren und müssen ein paar Dinge erledigen. Das käme uns also ganz gelegen …“, erklärte Jule schnell, bevor Vero noch irgendetwas einfiel.
„Ah ja, hm. Enzo! Andiamo! Lorenzo ist nämlich soweit fertig. Sie können Guten Tag sagen, wenn Sie wollen.“ Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten.
„Ja super!“ rief Vero. „Aber sagen Sie, gibt es inzwischen einen Laborbefund?“
Dr. Russo-Plüschauge drehte sich in der Tür um. „Also, wir wissen ziemlich genau, welche Substanzen er im Körper hatte, aber nicht, wie er das genau zu sich genommen hat. Es gibt da mehrere Möglichkeiten.“ Entweder war er schwer gestresst und nicht besonders ausgeschlafen oder er hatte keine Lust, detaillierte Auskunft zu geben. Dachte er etwa, sie wüssten mehr?
Vero zuckte nicht ganz überzeugt mit den Schultern und fragte: „Ist das wirklich okay, wenn Sie ihn mitnehmen?“
„Passt schon, ich lade mich bei meiner Mutter zum Essen ein, die wohnt nicht weit von dort.“ Es folgten ein paar Sätze Italienisch, die offenbar für Enzo bestimmt waren. Ein kurzes Nicken zu Vero und Jule, dann macht er auf dem Absatz kehrt und verschwand grußlos.
Jule schauten ihre Cousine an, aber auch Vero zuckte ratlos mit den Schultern.
„Wenn ich mal übersetzen darf“, schaltete sich eine Stimme vom Krankenbett ein. „Der dottore holt jetzt sein Zeugl, derweil ich mi’ hier z’ammpack. Und dann treffen wir uns unten am Eingang.“
Jule fuhr herum. Lorenzo. Oha, der war ja wach und wieder bei Sinnen! Ein bisschen müde sah auch er allerdings aus. Und unrasiert und ungekämmt. Er lächelte etwas angestrengt. „Ciao Giulia! So sieht man sich wieder. – Ich hatt’ mir das a bisserl würdevoller vorgestellt …“
Komplett vergessen hatte er sie also nicht. Auch nicht, dass er die italienische Form ihres Namens von seinem Onkel übernommen hatte, obwohl sie ihre Mails immer mit „Jule“ unterschrieben hatte.
„Danke, dass ihr den Krankenwagen gerufen habt.“
„Ja. Hallo, Lorenzo, schön dich zu sehen.“ Vero fiel ihm lachend um den Hals. „Mensch, das ist ja ewig her!“
Lorenzo küsste sie vorsichtig auf beide Wangen. „Verrronica! Ciao, come stai?“
Statt zu antworten baute sie sich vor ihm auf und sah ihn prüfend an. „Sag mal: Was hast du gegessen?“, fragte sie streng.
„Ist das ein Verhör?“
„So ungefähr. Ich will wissen, was du gegessen hast.“
Er verzog enttäuscht das Gesicht. „Ich hatte gehofft, ihr würdet euch Sorgen um mich machen … Und die Frage habe ich heute schon mal gehört, ihr seid ja nicht meine ersten Besucher. Die Polizei war auch schon bei mir. Die Sanitäter haben denen scheint’s erzählt, da hätt’ sich jemand zugedröhnt, so wie ein anderer irgendwann zuvor. Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, was die Polizei will oder sucht - oder wen … Jedenfalls haben’s mir ned g’laubt, dass i ned woaß woher des Zeugl isch.“
Von unkontrollierten Dialektausbrüchen hatte der Arzt nichts erzählt. Lorenzo war in Bozen zu Hause, er hatte einen italienischen Vaer und eine südtiroler Mutter. Nach einer kurzen Pause war er wieder in der Lage einigermaßen verständlich zu sprechen. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe keine Erinnerungslücken, ich weiß ganz genau, was ich gestern gemacht und gegessen und gesagt habe – und wann. Auch von dem Trip weiß ich alles. War eine spezielle Erfahrung …“
„Warte. Nochmal Lorenzo: Was hast du gegessen und getrunken?“
„Also, ich habe Pasta gegessen, Spaghetti alio e olio und danach Tee getrunken. Kräutertee, ja? Koa Jagatee! Ich hab keine bunten Pillen geschluckt, und nichts von Leuten genommen, die ich nicht kenne.“ Er grinste. „Ich war ganz brav. Habe ich alles aber schon Luca erzählt.“
„Luca?“
„Dottor Luca Russo. Der junge Mann, der grad noch im blauen G‘wand hier herumgelaufen ist.“
„Ah, okay. Und wo hast du gegessen? Weißt du, wie das da hieß, wo das war?“
„Am Morgen war ich auf einem Termin, da habe ich caffé getrunken und gegessen … ein cornetto – also ein Croissant. Luca sagt aber, das ist egal, das wäre zu lange her. Die pasta am Nachmittag hab ich daheim gegessen! Also bei zio Enzo.“
„Und was war das für ein Tee?“
„Woaß ned. So a Teemischung halt. Roch gut, da habe ich’s aufgebrüht.“
„Beutel oder lose?“
„Was?“
Vero wurde ungeduldig „Lorenzo: War der Tee im Beutel, also industriell abgepackt, oder lose im Tütchen aus dem Teeladen?“
Er sah sie an und überlegte. „Weder noch. Aber das waren lose Blätter, in so einem Beutel, wie die, wo die Tante Traudl früher immer die Weihnachtskekse drin verpackt hatt‘. Kein Aufkleber vom Teeladen, sonst hätt’ ich ja gewusst, was des für a Sort’n isch.“ Er dachte weiter nach. „Aber mit so a‘m dunklen Bandl dran, sah recht stylisch aus. Meinst, des isch wichtig?“
„Also eher selbst gemischt. Oder umgefüllt. Vielleicht sind da Pestizide drin! Oder andere Giftstoffe!“
Lorenzo nickte wieder artig und warf Jule einen Blick zu. Konnte er vielleicht mal woanders hingucken? Jule wusste schon nicht mehr, wo sie hinsehen sollte. Immer, wenn sie wieder zu ihm sah, traf sie seinen Blick, der mit aller Seelenruhe an ihr klebte.
„Geht’s ihr zwei heut’ auf die Wiesn? Ich würd’ euch gern auf a Maß einladen, als Dankeschön. Vielleicht so um fünf?“
„Darfst du denn überhaupt aufs Oktoberfest und Bier trinken?“, fragte Jule besorgt.
„Oktoberfest ja, Bier nein. Der dottore sagt, wenn ich nicht sag, woher ich das Zeugl hab, sagns mir aa net, wie langs des dauert und obs da a Problem gäb mitm Bier. Und weil i des aa ned woaß …, also mal sehen. Ich trink halt nix, weil: ich muss nicht heute nochmal zum Sanitäter, mir hat das gereicht. Aber ihr dürft alle. – Nicht zu den Sanitätern, meine ich, sondern Bier trinken. Also, wie schaut’s aus?“
Im Gegensatz zu Jule hatte Vero überhaupt kein Problem mit dem südtiroler Dialekt. Anders als sein Onkel Enzo, der einfach den italienischen Satzbau ins Deutsche übernahm und ansonsten verständlich sprach, war es bei Lorenzo die Aussprache und die Betonung, die Jule ins Schleudern brachten. Während sie immer noch versuchte, einzelne Worte zu erkennen, hatte Vero schon geantwortet und eine Uhrzeit ausgemacht.
Im Rausgehen grinste Vero sie an: „Eer chattso eine-Artdie Wortean ainandertsu rai-hen – uuund wie-der aus ein-an-deeer“ Sie schüttete sich aus vor Lachen. „Ja, das klingt auch dann noch wie Italienisch, wenn er eigentlich Deutsch spricht.“
***
Mit blendender Laune köpfte Vero dann in ihrer kleinen Schwabinger Wohnung erst einmal den Prosecco, den sie am Abend vorher dann doch nicht getrunken hatten. Die Wohnung war wie ihre Bewohnerin: knallbunt und voller Leben, nicht gerade penibel ordentlich, aber mit viel Herz. In der Diele standen und lagen mindestens fünfzehn Paar Schuhe, überall an Schränken und Regalen hatte Veronika ihre Trachtenkleider aufgehängt: Ein langes dunkles Dirndl, wirklich mehr für formelle Familienfeste geeignet als für die Wiesn, dann das knielange Blaue mit der hellen Schürze, das sie in der Woche zuvor getragen hatte, dazu ein knallrotes wadenlanges mit grüner Schürze und eins in lila, knielang und mit buntem Miederoberteil, eher sexy als elegant. Knallrot schied aus, dafür hatte Jule mit ihren mittelblonden Haaren und den hellen, blauen Augen einfach nicht den passenden Teint. Auf dem Sofa lag ein Stapel Dirndl-Blusen mit langem und mit kurzem Arm oder mit Puffärmeln, mit weitem Ausschnitt und mit sehr weitem Ausschnitt, dazu noch eine mit Spitzeneinsatz. Dazu hängten sie Tante Christels Sammlung.
Zwei Gläser Prosecco und eine Stunde später hatten sie sich zumindest grob auf die Kleiderordnung für den Abend geeinigt.
„Super siehst aus!“ Vero kicherte. „Bloß das mit der Schürze müssen wir ändern…“
„Wo ist das Problem?“ Die Schürze war himbeerrot und lang genug war sie auch.
„Die Schleife ist in der Mitte“, grinste Vero. „Nimm’ mir nicht übel, aber das glaubt dir keiner!“
Jule sah sie fragend an.
„Juli, das würde bedeuten, dass du noch Jungfrau bist! Schleife rechts heißt, du bist verheiratet oder zumindest fest liiert. Wenn du eher Kontakt suchst, solltest du die Schleife links binden.“
„Glaubst du eigentlich wirklich, da achtet jemand drauf, wo bei meinem Kleid die Schleife ist?“
„Je nachdem, wie tief dein Ausschnitt ist, schon …“ Vero lachte. „Weil, wenn du jetzt dieses sehr traditionelle Trachtenkleid von meiner Mutter da anziehst – das da mit dem schwarzen Miederoberteil – und diese hochgeschlossene Bluse hier, dann kannst du deine Schleife so weit links binden wie du willst. Da lernst du nette alte Damen aus dem Münchner Umland kennen und feierst einen beschwingten Nachmittag mit rüstigen Senioren, die dich dann fragen, warum denn ausgerechnet du noch nicht verheiratet bist.“
„Ach, und wenn ich jetzt einen Ausschnitt bis zum Bauchnabel hab, dann schaut vielleicht auch mal jemand nach, ob er gleich was auf die Finger kriegt, wenn er mich anfasst? Verstanden.“
Trotz der Auswahl war für Jule keine passende Bluse dabei. Ihr Dekolletee war zwar nicht gerade knabenhaft, aber mit Tante Christine konnte sie es nun wirklich nicht aufnehmen. Vero brauchte ihre eigene Bluse, eine weitere hatte sie vor Wochen an eine Kollegin verliehen und das, was von Tante Christines älteren und kleineren Modellen passte, war eindeutig zu traditionell um irgendwen unter vier Promille anzulocken. Deswegen schauten sie noch beim Trachten-Second-Hand auf der Schellingstraße vorbei, wo Veronika schon diverse Schnäppchen erstanden hatte und die Besitzerin kannte.
Im Laden war es laut, eng und voll. Wie eigentlich zu erwarten. Was Jule allerdings nicht erwartet hatte, war dass der Laden so klein war. Auf knapp 25 Quadratmetern waren alle Wände und sogar das Fenster mit Hunderten von Dirndln bedeckt, in allen Größen von Baby bis Walküre, von Bodenlang bis Schambeinkurz – und in allen Farben. Und hätte das allein nicht schon gereicht, so gaben die zwölf japanischen Mädchen mit ihren Piepsstimmen Jule den Rest. Da aber Vero furchtlos hineinstürmte, musste sie wohl oder übel hinterher. Trotz Enge, Gepiepse und Blasmusik aus dem Radio. Vero hatte gleich nach Bussi links, Bussi rechts mit der Ladenbesitzerin ein intensives Gespräch begonnen, unter anderem über den Ausschnitt einer Bluse, die Vero irgendwann anprobiert, aber doch nicht gekauft hatte. Jule betrachtete mit großen Augen die vielen, vielen Dirndl. Draußen vor der Tür waren doch auch noch welche gewesen, oder? Dort war es zwar nicht leiser, weil sich eine Schlange Anwohner in Autos wortreich und hupend darüber aufregte, dass ein Lasterfahrer das Café gegenüber mit größeren Mengen Klopapier belieferte. Trotzdem, hier war wenigstens ein bisschen Platz, außerdem hingen an einer Stange ungefähr fünfzig weiße Dirndlblusen. Darüber ein Schild „Jedes Teil 10 bis 30 Euro“. Gutes Argument, da mal zu stöbern.
In Veros Schnellkurs hatte sie ja gelernt, worauf zu achten war: Nicht zu viele Knöpfe und keine hohen Rüschen, wenn man etwas erleben will. Puffärmel hatte sie schon als Kind nicht ausstehen können, weil das Gummi am Ärmel immer einschnitt. Die Auswahl der infrage kommenden Blusen reduzierte sich damit erheblich. Von den zehn übriggebliebenen sahen nur drei so aus als könnten sie passen. Eine mit Spitze, eine andere eher im Landhausstil, dann noch eine mit Schneewittchenkragen. Die Größenschilder waren entweder herausgetrennt oder unleserlich verblasst, sie musste sich auf ihr Augenmaß verlassen. Jule nahm die drei Blusen und betrat wieder den Laden. Vero führte immer noch ihr Gespräch mit der Verkäuferin fort, die sich aber nicht weiter stören ließ und nebenbei den Japanerinnen Kleider, Blusen und Schürzen in die Umkleidekabine reichte. Vero hatte sich weiter in den Laden vorgearbeitet und befingerte während des Redens Lederhosen. Ohne Inhalt.
Da überhaupt kein Mann im Laden war und die Japanerinnen zu viert die einzige Kabine mit Beschlag belegt hatten, ließ sich Jule von der Besitzerin in eine Ecke des Ladens schieben, wo diese ihr bedeutete, sie solle hier probieren.
Jule entblößte sich obenrum weitgehend, um in die Blusen einzusteigen. Das Spitzenmodell schnitt leider so erbärmlich ein, dass das Atmen problematisch wurde, die Landhausbluse saß perfekt, sah aber ein wenig langweilig aus. Und ob sie zu dem Kleid passte, was sie sich ausgesucht hatte? Die mit Schneewittchenkragen, die Jule am besten gefiel, saß irgendwie nicht hundertprozentig, fand sie und zupfte unentschlossen am Ausschnitt herum.
Gleich stand die Verkäuferin wieder vor ihr. „Gehst ja net so auf’d Wiesn. Des wird scho’ passen.“
„Ja, sicher. Ich wollte natürlich ein Kleid drüberziehen … “
„Naa, des mein i net. Wirst was G’scheits drunter ziehn. So einen …“ Beherzt packte sie Jule seitlich bei den Rippen, quetschte ihr den Busen zusammen und rief fröhlich: „So einen Push-up, gell!“
Jule blieb die Luft weg, Vero lachte schallend und die japanischen Mädchen kicherten mit roten Ohren. Die Verkäuferin ließ Jule noch immer nicht los, sondern rief: „Veronika, schau, da haben wir was gefunden!“
Wir. In der Tat. Vero kam näher und nickte. Endlich ließ die Verkäuferin von Jule ab. Die atmete erleichtert ein. Dafür beugte sich nun aber ihre Cousine sehr nah an ihren Ausschnitt und piekte mit dem Finger an ihrem Busen herum.
„Maria, schau, da ist ja so ein Fleck … Der ist beim Waschen wohl nicht rausgegangen. Direkt am Ausschnitt, das ist aber schad’ … Was magst denn haben für die Bluse …?“
Noch eine Nase beugte sich in Jules Dekolleté. „Ah ja, da, ich seh’s. Mei, die Wiesn ist halb rum und wenn das die Cousine ist … Für die Familie mach ich an Sonderpreis. Kriegst’s für an Zehner.“ Das war ein Wort. Da konnte Jule auch darüber hinwegsehen, dass das gute Stück nicht hundertprozentig passte.