Читать книгу Italiener-Wochenende - Kathi Albrecht - Страница 7
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Jule parkte ihren Mini vor der Haustür von Tante Christine und Onkel Wolfgang.
„Komisch, die sind gar nicht da“, murmelte Vero, als auf ihr Klingeln niemand öffnete und zog den Schlüssel aus der Tasche. Es war Freitagnachmittag und eigentlich wollten sie nachsehen, ob in Christines Dindl-Sammlung noch etwas Passendes für Jule war. Christine war schließlich nicht immer so dick gewesen. In der Küche lag auf dem Tisch ein Zettel mit dem Hinweis, die Dirndlkleider hätte Christine in „Vronis Kinderzimmer“ aufgehängt, weil sie jetzt mit der Rosi nochmal zum Bestatter musste. Bestatter? Ach ja, der Herzinfarkt in der Nachbarschaft.
„Schau mal, Juli, das Zimmer von der Nessi ist jetzt Gästezimmer. Und in meinem alten Zimmer wohnt jetzt das Bügelbrett, da hat es wenigstens einen schönen Blick in den Garten. Und die Dirndl hängen auch hier! Ich geh mal gerade …“ Sie deutete auf eine offene Zimmertür, an der ein sehr verblasster Pferdeaufkleber pappte und verschwand im Badezimmer gegenüber. Jule wollte schon mal die Dirndl-Ausstellung besuchen und in den Garten schauen. Jeder Mieter in den Einfamilienreihenhäusern hatte seine Terrasse individuell mit Sichtschutz, Hecken, Büschen oder Gartenhäuschen ausgestattet, dahinter öffnete sich aber eine große Gemeinschaftswiese mit alten Bäumen. Jule hatte das immer besonders schön gefunden.
„Vero??? Hier ist ein Mann im Garten!“
„Aha! Schaut der gut aus? Das Wochenende fängt gut an!“, rief es vom Klo.
„Nee du! Find ich nicht!“
„Im Nachbargarten?“
„Welchen Nachbargarten meinst du?“
„Juliiiii! Das hier ist ein Eckhaus. Hier gibt’s nur einen einzigen Nachbarn!“
„Ja, eben. Und hier ist auch nur ein Typ und der ist gar nicht lecker, aber der ist hier vor dem Haus!!!
„Was macht der und wie sieht er aus?“
„Och, so ein kleines Männlein, höchstens eins fünfzig, trägt bei diesem warmen Wetter einen dicken Wollpulli und kriecht unter den Büschen und Sträuchern herum … “
„Haarfarbe?“, brüllte Vero, um die Klospülung zu übertönen.
„Kann ich nicht genau sehen, sehr grau, glaube ich – oder weiß. Was will der hier? Ist das ein Einbrecher?“
Vero stürzte ins Zimmer und kam zum Fenster. „Hab ich’s mir gedacht: Das ist der Nachbar. Und er hat keinen Pulli an, das ist sein Brusthaar!“
„Auf dem Rücken?“
„Ja, da auch. Das ist Enzo, Carlottas Vater. Ach, du kennst den doch! Keine Ahnung, was er da jetzt genau macht. Hoffentlich keinen Blödsinn … “ Vero reckte sich. „Komm, wir gehen runter und sagen Guten Tag. Wie ich meine Mutter kenne, hat sie ihm erzählt, wo sie ist und dass wir kommen. Und wenn wir jetzt nicht rübergehen, steht der nachher hier im Flur, um zu gucken, ob wir auch da waren. Der hat nämlich einen Schlüssel. Und wahrscheinlich kommt er genau dann, wenn wir uns umziehen und im halbgeschnürten Dirndl hier rumstehen.“
***
„Grüß dich, Enzo! Wie geht es?“ Vero fiel dem alten Italiener um den Hals.
„Verrrroo-nica! Ciao!“
„Enzo, das hier ist meine Cousine Jule. Erinnerst du dich noch an sie?“
„Ah! Giulia! Ciao, ragazza! Schön, dass du biste wiedere hier. Bene. Iste viele Jahre her.“
Er war alt und grau geworden. Und er nannte sie wieder Giulia. Das hatte er damals erfunden, als sie den Sommer hier verbracht hatte.
Enzo beklagte sich lautstark über sein Schicksal. Er alleine hatte die Verantwortung für drei Gärten. Es gab ja immer ein paar Oktoberfestflüchtlinge in der Nachbarschaft. Tante Christine und Onkel Wolfgang waren spontan mit der Nachbarin unterwegs, deren Sohn vergangene Woche gestorben war. Da mussten Dinge organisiert und eine Gaststätte für die Beerdigung gesucht werden. Und ihn hatte sie mit all der Arbeit hier alleine gelassen! Eine gewaltige Unordnung in seinem Garten, alles war durcheinandergebracht worden und ein Beet zerwühlt. Christine tippte auf einen Waschbären, er aber schimpfte, das könnte kein Bär gewesen sein, sondern ein Idiot. Nun ja. Außerdem war sein Auto in der Werkstatt. Und dann war noch sein Neffe aus Italien für ein paar Tage nach München gekommen! Um den musste er sich jetzt auch noch kümmern. Und die Nachbarn drei Häuser weiter waren im Urlaub und hatten auch so viele Blumen. Enzo tat sich selbst ziemlich leid, freute sich aber Jule und Vero wieder zu sehen, und holte irgendwann doch wieder seine Gießkanne.
„Jule, ich glaub, wir machen erstmal ein Päuschen hier auf der Terrasse. Es ist so schön friedlich hier und sogar noch ein bisschen hell. Komm, wir rücken diese Liegestühle mal ein bisschen rüber. Lass uns etwas ausruhen, dann probieren wir Mamas Dirndl-Sammlung aus und köpfen den Prosecco, den ich mitgebracht habe – hab ich den eigentlich in den Kühlschrank gestellt? Ach ja, richtig.“
„Den ersten Italiener haben wir schon mal an deinem berüchtigten Italiener-Wochenende“, kicherte Jule.
„Ich will mal hoffen, dass das nicht der letzte war!“
„Ach, Enzo hat doch gesagt, sein Neffe wäre für ein paar Tage hier…“
„Den treffen wir bestimmt auch noch, das werden wir wahrscheinlich gar nicht verhindern können. Lassen wir uns überraschen!“
Ja, diese Überraschung stand Jule noch bevor. Enzo hatte nur von einem Neffen gesprochen, aber soweit sie sich erinnerte, hatte Enzo eine unübersichtlich große Zahl von Nichten und Neffen. Mit ein bisschen Glück war es nicht Lorenzo.
Vero steckte sich die Kopfhörer ins Ohr und beschallte sich mit Musik und Jule beschloss, ein paar Minuten lang ihre Ruhe zu genießen. Schön, hier in der Münchner Septembersonne zu liegen, alles war ganz ruhig, nur Enzo scharrte im Nachbargarten mit seinem Unkraut herum. Obwohl sie sich ganz etwas anderes vorgenommen hatte, wanderten ihre Gedanken doch wieder zu Christines Erzählungen und Erklärungen.
Tante Christine war immer noch ziemlich aufgelöst gewesen, als Jule unter der Woche nochmal mit ihr telefoniert hatte, vor allem, weil es ja nicht nur die Neunzigjährigen traf, sondern auch junge Menschen. Der dritte unter 50 im letzten halben Jahr! Alle drei Männer, denen ihr stressiger Job einen tödlichen Herzinfarkt beschert hatte. Zwei davon etwa in Jules Alter, eine gruselige Vorstellung … Aber wie war das mit den Naturheilmitteln gewesen? Nein, Aufputschmittel. Nicht alles Natürliche war offenbar harmlos.
***
Da war eine Stimme. Sie kam näher, dann entfernte sie sich wieder. Sie sprach unverständliche Worte. Was für ein komischer Traum. War sie etwa eingeschlafen? Träumte sie überhaupt noch?
Die Stimme war jetzt wieder da. Und irgendwie hysterisch, obwohl eindeutig männlich. Wer brüllte denn da so herum? Richtig ja, die vielen Leute auf dem Oktoberfest. War sie schon da? Jule riskierte einen Blick aus einem halbgeöffneten Auge. Langsam kam ihr Gehirn wieder in Schwung. Nein, sie waren gar nicht im Bierzelt, sondern im Garten bei Tante Christine. Und Vero saß mit geschlossenen Augen neben ihr und wippte zu irgendeiner unhörbaren Melodie mit den Füßen. Das Geschrei kam aber nicht von ihr.
Jule setzte sich auf. Da war er wieder, der Nachbar Enzo. Er stand nebenan auf seiner Terrasse und rief etwas. Auch er war nicht derjenige, der da so hektisch herumschrie, denn er winkte und gestikulierte woanders hin. Dann lief er los, rief wieder, lief schneller. Auf einen anderen Mann zu weiter hinten im Garten, der aufgeregt hin und her lief und ebenfalls laut redete. Italienisch vermutlich, denn Jule verstand kein Wort.
Der fremde Mann wütete durch den Garten, lief hierhin und dorthin, sprach mit den Bäumen, schimpfte zu Tante Christines Blumenbeet hin, schüttelte Enzo ab, der ihn immer wieder versuchte festzuhalten. Aber Enzo selbst wurde immer aufgeregter, er bekam den Kerl einfach nicht in den Griff. Inzwischen war das Getöse so laut geworden, dass selbst Veronika nun den Kopfhörer beiseitegelegt hatte und Enzos Kampf mit dem Fremden beobachtete.
„Was ist denn mit dem los?“ überlegte Jule laut. Wer war das, was wollte er und vor allem, warum machte er so einen Lärm? War etwas passiert? Unfall? Erdbeben? Hausfriedensbruch? Ob man vielleicht eingreifen und Enzo zu Hilfe kommen müsste? Die Polizei rufen? Der Mann redete unaufhörlich und unverständlich weiter. Inzwischen hatten in den umliegenden Häusern bereits interessierte Rentner an ihren Fenstern Platz genommen.
Der Mann benahm sich nicht normal, so viel war klar. Betrunken vielleicht, er torkelte ein bisschen, nichts Ungewöhnliches zur Oktoberfestzeit. Oder ein Junkie, der versucht hatte einzubrechen und irgendetwas zu klauen. Aber dann wäre er weggerannt und würde nicht Enzos Bäume anschreien. Außerdem sah er nicht unbedingt so aus, als würde er in Bahnhofsnähe campieren, er war zwar barfuß, trug aber eine Anzughose und ein Businesshemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Irgendwie, überlegte Jule, sah er sogar ziemlich gut aus! Schlank, braune Haare, dunkle Augen … Allerdings mit irrem Blick und definitiv nicht klaren Geistes.
Jetzt endlich schien er auf Enzo zu hören, denn er blieb stehen. Doch er starrte Enzo mit stierem Blick an und übergab sich dann keine fünf Meter neben Jule in ein Blumenbeet.
„Vielleicht ein paar Bier zu viel gehabt?“ orakelte Vero, die nun auch die Augen offen hatte.
„Schade, er sah eigentlich ganz nett aus.“
„Was macht der hier? Sag mal, das wird doch nicht etwa Enzos …“ Vero stand blitzartig auf. „Du, er hat jetzt Schaum vor dem Mund, das ist aber nicht mehr lustig. Da müssen wir was machen! Der hat was!“
„Wieso? Ist er nicht bloß besoffen? Müssen wir was tun?“
„Rede du mit Enzo und ich rufe den Rettungswagen. Der Giftnotruf hilft uns jetzt auch nicht mehr weiter …“
Da hatte Vero offenbar doch von der inzwischen beendeten Beziehung zu einem gewissen Konstantin profitiert, der während seiner sieben Jahre Wartezeit auf einen Medizin-Studienplatz als Rettungssanitäter gearbeitet hatte. „Wenn du mich fragst, ist das hier entweder eine Vergiftung oder der steht kurz vor einem allergischen Schock. Vielleicht auch beides.“
Während Vero das Heft in die Hand genommen hatte und nun telefonierte, stand Jule, nachdem sie mit Enzo ein paar Worte gewechselt hatte, ein wenig unschlüssig im Garten herum. Um wenigstens irgendetwas halbwegs Sinnvolles zu tun, räumte sie schon mal die Liegestühle vor das Haus, so waren sie vor weiteren Ausbrüchen geschützt.
Vero dagegen war in ihrem Element, wie immer, wenn es irgendetwas zu organisieren gab. Dankenswerterweise hatte der Mann sich beruhigt und sich kurz hingesetzt. Vero sah ihn forschend an und sprach mit Enzo, der vollkommen aufgelöst schien.
Der Typ kam Jule bekannt vor. Auch sie musste sich mal kurz hinsetzen, als Enzo erklärte: „Iste Lorenzo, meine Neffe. Hatte gehabte eine paar Termine hier in München wegene Arbeit, dann komme Freund und wolle zur Wiesn zusamme …“
Jule starrte erst Enzo an, dann den Neffen. Lorenzo. Tatsache. So hatte sie sich ihre Begegnung nicht vorstellt. Er sah ganz anders aus als vor fünfzehn Jahren. Keine Dreadlocks mehr, sondern kurze dunkelbraune Locken und statt Mountainbike-Shorts und bunten T-Shirts trug er jetzt schicke Businesskleidung. Er sah wirklich gut aus. Und sie hatte sich selbst ja auch schon eingestanden, dass sie ihn bereits damals attraktiv gefunden hatte. Einen Moment lang wurde Jules Kreislauf ein wenig in Wallung gebracht, als sie an die Sommerferien damals dachte.
Aber sie konnte wohl davon ausgehen, dass dieser heute wirklich attraktive Lorenzo immer noch alle denkbar schlechten Charaktereigenschaften in sich vereinte. Sehr wahrscheinlich war er eitel, arrogant, egozentrisch und darüber hinaus mit Sicherheit ebenso verheiratet wie untreu.
Und er erkannte sie offenbar auch. Aber er war irgendwie nicht imstande, verständlich oder auch nur Deutsch zu sprechen. Er sah sie an und schien zu schimpfen, wollte irgendetwas von ihr wegzerren, aber Vero drückte ihn wieder in seinen Stuhl, woraufhin er Enzo mit einem Schwall italienischer Tiraden überschüttete. Das war gespenstisch, Lorenzo schien geistig ganz woanders zu sein. Jedenfalls benahm er sich nicht so, als ob er an einem sonnigen Herbstnachmittag bei seinem Onkel im Garten säße und eine alte Bekannte, eine … nun ja, eine Art Ex-Freundin wiederträfe. Sondern ziemlich genau so, wie Jule es mal vor Jahren in einem Club erlebt hatte, als ein paar Leute zu viele Pillen eingeworfen hatten.
Als der Notarztwagen eintraf, hatte Lorenzo wieder Schaum vor dem Mund und veranstaltete erneut ein wildes Getöse.
„War, eh, normale vorher, il ragazzo“, beeilte sich Enzo immer wieder den Sanitätern zu versichern und berichtete, sein Neffe sei beruflich in der Stadt gewesen, habe dann hier etwas gegessen, als er dann in den Garten kam, war er nicht mehr zu bändigen gewesen, habe geschrien und sei durch den Garten gerannt. Die Sanitäter aber waren mehr an Veros Schilderungen interessiert. Interessant, dass es gleich nach einer ernstzunehmenden medizinischen Diagnose klang, wenn man nicht von wildem Rumrennen und irrem Geschrei redete, sondern sich ausdrückte wie sie: Erweiterte Pupillen, Desorientiertheit, Hautreaktionen, optische Halluzinationen und unklare Ursache.
Man verfrachtete Lorenzo in den Krankenwagen und fuhr ihn mit Blaulicht und Martinshorn ins Krankenhaus. Enzo wurde nicht mitgenommen, die Sanitäter hatten ihm aufgetragen, sich etwas überzuziehen und dann mit Lorenzos Ausweispapieren ins Krankenhaus nachzukommen.
Enzo war erstmal vollkommen fertig und sackte förmlich in sich zusammen. Vero stürmte ins Haus, suchte und fand als erste Hilfe eine Flasche Obstler von ihrem Vater. Damit kam sie wieder in den Garten und schütte Enzo ein kleines Glas voll. Nur Bruchteile von Sekunden späterer hielt ihr das leere Glas hin. Vero war recht großzügig und tatsächlich erholte sich der Nachbar sichtlich. So gut, dass er nach einem dritten Pinnchen Jules Auto ausborgen und zu Lorenzo ins Krankenhaus fahren wollte. Dafür erntete er ein müdes Lächeln von Vero, die ihn erst einmal ins Haus schickte, damit er endlich den Ausweis seines Neffen holte.
Für Vero war es vollkommen klar, dass sie Enzo zu seinem Neffen fahren würden. Jule war das nicht ganz so klar gewesen, sie hätte ihm eine Fahrt im Taxi durchaus alleine zugetraut. Und eigentlich hatten sie ja auch etwas vor, wobei die Planungen für den heutigen Abend eigentlich nicht einschlossen, einen alten Italiener ins Krankenhaus zu begleiten, damit dieser seinen Neffen besuchen konnte.
Was mochte Lorenzo angestellt haben? Wahrscheinlich hatte er sich nur äußerlich verändert und war derselbe Kindskopf geblieben wie mit achtzehn. Da hatte er auch allen möglichen Blödsinn gemacht. Womöglich hatte er irgendetwas gegessen, was diesen allergischen Schock ausgelöst hatte, wie Vero vermutete.
Ihre Cousine damit alleine zu lassen, war aber auch keine Option. Es würde ja wohl nicht ewig dauern, Enzo mal eben zum Krankenhaus zu fahren. Und wenn sie schon einmal unterwegs waren, würden sie wahrscheinlich auch irgendwo eine Pizza auftreiben können, für den Biergarten war es dann nämlich zu kalt.