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4. Kapitel

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Der Sonntag war besonders, schon am Morgen, wenn das Haus und ganz Paris den letzten Rausch und die Erschöpfung der zurückliegenden Woche selig ausschliefen, sodass selbst der Verkehr beinah erlag. Durchs Küchenfenster fielen Streifen klaren Lichtes und ich saß alleine da und spürte es auf meiner Haut.

Der Morgen versprach einen neuen Tag, Erlebnis und Begegnung, er gab Kraft und Mut und zeigte uns das Ende dieser Nacht, und ich wusste, ja ich glaubte, dass er wiederkehren würde, dieser Morgen, immer wieder. –

Ich war glücklich in Paris ohne Paris, denn ich war glücklich über Arbeit, über Menschen, über Frieden in der Wohnung, der mein Herz zutiefst berührte und es springen ließ vor Freude. Ich alleine in der Sonne – aber in der Sonne war ich, und das war für mich genügend. Die nun frische Luft ließ mich viel tiefer atmen, als man es in einer Stadt ansonsten tat, der Duft nach Kaffee mischte sich mit dem nach Pain au chocolat. Kein Mensch bemerkte meine sonntägliche Stille, und ich sorgte mich für kurze Zeit, was war, wenn niemand mich bemerken würde, heute nicht und morgen nicht und vielleicht nie? – Aber wenn sie mich suchen würden, könnten sie mich auch entdecken, dachte ich, das wird gelingen.

Die Sonne lächelte sanft über Paris, und ich lag dieser Stadt nicht mehr länger zu den Füßen, sondern reichte ihr versöhnlich meine Hand. Wenn sie still war, war sie durchaus zu ertragen, gab sie Zuversicht und zeigte ihre längst vergangne Schönheit, die im Alltag bald verschwand.

Leer war es nicht auf diesen Straßen, doch die Menschen, die man traf, waren besondere, denn sie hatten begriffen, dass es diesen Morgen gab und dass er weit mehr Leben schenkte als die Zeiten, die man oft „lebendig“ nannte. Freundlich grüßte ich den Straßenkehrer, der geduldig seiner Arbeit nachging. Sonntagmorgens hatte man denselben Blick, wen man auch traf.

Der Sonntag rief mir die Mission strikt ins Gedächtnis, verlor sie sich doch so schnell, war sie doch groß, die Stille jedoch zeigte sie, indem sie Platz schuf, Platz für mich und das, wofür ich leben wollte. Sie machte mich demütig, denn sie war machtvoll. –

Eine Kirche lag nicht weit von meiner Wohnung und so ging ich gern zu Fuß, ich näherte mich ihr aus eignem Willen und eigener Kraft, voller Erwartung.

Mit dem Rücken an dem historischen Bau und tief im Schatten jener Steinmauern und Schmuckwerke und unter hohen Fenstern, deren Glas bunt schimmerte, saß stets der Obdachlose, zerfurcht und verlottert und mit einer leichten Anklage im Blick.

„Die Nacht war klar, doch über dieser Stadt scheint lange kein Stern mehr“, sagte er deutlich und sah mich unverwandt an. –

Ganz wie der Pastor der Gemeinde, jener ungläubig, verblüfft, erschien es mir, als rechne er mit niemandem. Von vornherein fühlte ich mich beheimatet, denn uns verband etwas, das in Paris nicht oft zu finden war. Sie waren kalt und abweisend, viele Pariser, aber hier war man willkommen und das herzlich, ohne Zutun, ohne Mühe. Wir mussten uns nicht vorstellen, denn wir kannten uns bereits, wir mussten nichts erklären, da wir es schon wussten. Dennoch wuchsen wir gemeinsam, denn es war eine Gemeinschaft und der Christ brauchte den anderen, der ihn freundlich ermahnte.

Ich saß in der letzten Bank, von der aus ich die ganze Kirche sehen und erfassen konnte, sowohl die anderen Leute als auch mich und meine Begegnung mit Gott, es war ein Wechselspiel mit beidem, und ganz selbstverständlich geschah es und wir waren dabei, denn um uns ging es und durch uns lebte die Kirche.

Wir sollten mehr einladen, so dachte ich, und uns für viel mehr Menschen öffnen. –

Ihr seid das Licht dieser Welt. –

Ihr seid es, sagte er, ihr müsst es nicht noch werden.

Und dennoch war es ein Auftrag! Oh ihr Lichter dieser Welt, wo seid ihr denn, ja, ihr mögt sein, aber nicht hier, nicht in Paris! Die meisten Lichter der Pariser waren inzwischen erloschen, während meines danach strebte, endlich aufleuchten zu können. Das Wort traf mein Herz und gab mir darin Ruhe, denn ich war es, und ich würde noch mehr leuchten. Meine Karte und mein Kompass waren sie in dieser Stadt, von Gott geschenkt, die Er mir mitgab, auf dass ich mich nicht verfuhr.

Wenn jemand eingetreten wäre in die Kirche, hätte er dann auch gesehen, dass der Raum von Licht erfüllt war und nicht nur von milden Strahlen, die die Buntglasfenster wärmten? –

Ich suchte den Diskurs, denn er war da, in meinem Kopf, warum nicht äußern, wozu Glas sein anstelle von einem Spiegel?

„Paris ist tüchtig verdorben“, meinte er und lachte mich ein wenig aus, der Pfarrer. „Das hier ist kein Licht, so hübsch das Bild auch scheinen mag. Wo sehen Sie es zwischen diesen altern Mauern, die verschandelt sind vom allerersten Tag an? – Selbst sogar im Sommer ist es finster, furchtbar finster in Paris.“

„Dabei fühle ich mich recht wohl in dieser Stadt, zuweilen bin ich fast vergnügt. – Soll dies nun heißen, dass ich nicht dazugehöre, dass ich selbst kein Kind des Lichts bin?“

Beinah leer war es inzwischen in der Kirche, nur der Pfarrer sah mich voller Ruhe an.

„Die wahre Finsternis wird nicht allzu rasch sichtbar, Mademoiselle. Sie wissen doch, wir sehnen uns nach Licht und es gibt viele Dinge, die auch leuchten. Nur ist dieses Licht ein anderes als das, was Sie und ich erkennen und erhalten dürfen. Oberflächlich mag es reichen, doch wir sollten tiefer bohren Mademoiselle. Doch voller Vorsicht!“

Bedächtig deckte er den Altar und dann die Bibel ab. Er blies die Kerzen aus. „Voll Vorsicht, denn darunter ist es schwarz.“

„Sie leben lange in Paris?“

„Zu lange schon. Es hat sich dennoch nichts verändert. – Weswegen sind Sie nun hier?“

„Weil man mich rief. Vielleicht, Monsieur, um das zu sehen und zu handeln.“

„Das hat man Ihnen gesagt?“

Ich lächelte. „Der Wille unsres Herrn ist unergründlich, aber doch unfehlbar. Ich bin voller Lob für Ihn an diesem Morgen, denn ich glaube, dass die Hoffnung noch besteht, solange wir sind. – Denn wir sind das Licht der Welt, das sagten Sie.“

„Wir sind verborgen…“

„Und Sie unternehmen nichts, um ihn zu lüften, diesen Scheffel?“

„Wer hat denn die Kraft dazu? Ich nicht, auch Sie nicht, das ist wahr. Die, die wir retten wollen sind es, die ihn halten und verdichten.“

„Warum tun sie’s?“

Wir waren nun an der Tür und ordneten die Liederbücher, und der Pfarrer schloss die Kordel zu den Bänken, nahm das Geld aus der Kollekte. Ein Wort nur noch, nur ein Ratschlag für mein Leben. –

„Seien Sie weise, besonnen, aufmerksam“, sagte er, „lassen Sie Gott Zeit! Sie sind gewiss, was auf uns nach unserem Tod und allem Leide warten mag. – Was leuchtet, das sind Kerzen, wir sind Kerzen, und wir brennen erst, wenn der Geist unser Herz entzündet hat. Der Schein wächst an, je mehr er uns berührt, je mehr von unsrer Seele wir ihm zum Entfachen geben, bis dass wir schließlich andere anstecken mit diesem Feuer tief in uns, sodass andere Kerzen es empfangen können. Denn ein unverbrannter Docht trägt keine Frucht, und das Wachs schmilzt nicht und ist zu gar nichts nütze. Die ihr Feuer offenbaren, werden dagegen um sich ein Meer von Licht erzeugen können. – Der uns angezündet hat, war selbst ein Arzt, der für die Kranken und nicht die Gesunden da war, und wenn wir ihm nachfolgen, so wissen wir, wohin der Weg führt. Es gibt ausreichend Kranke in dieser Stadt, Abgötterei, Wollust und Gier. Ja, in Paris strahlt keine Hoffnung, sondern sie verströmt nur Dunkelheit und Tod. Was bleibt uns übrig, das ist die mühsame Arbeit, Brücken zu den längst Erloschenen zu bauen.“

Ich wollte es gern enthüllen, dieses Licht, das meines war, aber wie denn den Scheffel heben, wenn man ihn vor lauter Dunkelheit nicht sah? –

„Vielleicht sind sie noch da, doch unbeachtet.“ Draußen hatte der Clochard sich nicht bewegt.

Sie war so abgrundtief, die Weltlichkeit Juliettes, dass sie schon wieder etwas Attraktives hatte. Wir unterschieden uns wie Tag und Nacht, sowohl im Geiste und als auch Wesen, und es war darum erstaunlich, dass man dennoch Tür an Tür verbringen konnte, ohne Streit und ohne Hass, wir waren beide tolerant, doch keinen Schritt konnten wir in dieselbe Richtung auch nur wagen. Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas lernen von dem Leben, das sie führte, mehr erfahren über ihre Ideale und Ideen, und gleichsam hoffte ich, dass sie bereit war, zuzuhören, was ich als Fremde zu sagen hatte.

„Sagen Sie“, meinte ich an dem schmalen Tisch, wir saßen Seit’ an Seit’ und Bein an Bein mit anderen Parisern, es war eng und laut in diesem Restaurant, und über uns sammelten sich träge Rauchschwaden, „wie würden Sie die Welt beschreiben?“

„Als sehr gegensätzlich“, antwortete sie, „es gibt viel Armut und daneben großen Reichtum, Schönheit und furchtbares Elend. Wie sollte man sie da einheitlich benennen?“

Sie nippte an ihrem Wein. –

„Würden Sie irgendwas entdecken, das vereinend existiert? – Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen nun sage, dass es eine Kreatur gibt, die das Böse schürt und die omnipräsent ist, die sich Teufel oder Satan oder wie auch immer nennt?“

„Das klingt tatsächlich interessant…“

„Interessant? – So haben Sie wohl keine Furcht?“

„Oh doch, vor vielem, Mademoiselle. – Und sei es nur ein falsches Outfit, doch auch Gier und Neid verachte ich zutiefst.“

„Können Sie sagen, was gut und was böse ist?“

Nun schien sie etwas irritiert. „Ich bin ein Mensch und jeder Mensch besitzt Moral, welche da sagt, was gut und schlecht sei und die prüft, was auch geschieht. An Wertvorstellungen mangelt es uns gewiss nicht.“

„Aber woher stammen diese? Woher kommt Ihre Gewissheit, dass Sie nicht auch böse?“

„Nun machen Sie mir durchaus Angst“, sagte sie da, doch war ihr alles viel zu fremd, als dass sie es ernst meinen konnte. –

„Was tun Sie gegen die Angst? Wie handeln Sie, wenn jenes Böse Ihren Weg kreuzt?“

„Nun, ich ignoriere es, denn ein jeder ist verantwortlich für seine Taten, und meine Moral ist nicht allgemein gültig. Sicherlich gibt es Richtlinien und Fakten, manche Rechte, die doch unumstößlich sind…“

„Und wer hat diese fest gelegt?“

„Herrje, es gibt eine Verfassung, Mademoiselle, und es ist nicht nötig, sie jetzt zu hinterfragen.“

Kokett lächelte sie einem Kellner zu, nippte erneut und dankte ihm charmant, als er das Essen brachte. Sie schien offen und direkt mit andren Menschen umzugehen, denn sie war gekonnt im Flirten und genauso machte sie sehr gerne deutlich, dass nur ihre Meinung stimmte. Ihre Contenance war heilig und distanziert elegant, nicht egoistisch, sondern vielmehr unschuldig. –

Eine gekonnte Spielerin, Juliette Luxanche, der ihre Rolle perfekt auf dem Leibe saß, man konnte beinah neidisch werden auf ihre Textsicherheit. Doch wer sein Leben spielte, mochte es verfehlen. –

Ich wollte nicht spielen wie all die Leute in diesem Café, dessen Geplauder uns stetig benebelte. –

„Und wovor fürchten Sie sich, Bleuenn?“, wollte sie kurz darauf wissen.

„Nun, vor vielem, doch ich habe einen Retter, einen Helfer, dessen schützende Gestalt von meiner Seite niemals weicht.“

Sie lächelte und nickte lange. „Welch ein Ort Paris doch ist!“, stellte sie fest. „Man trifft die wunderlichsten Menschen.“

„Kennen Sie, Mademoiselle, Jesus?“

Ihre Rolle schlug Alarm. „Ich möchte Ihnen jede Mühe abnehmen und gleich klar stellen, dass jegliche Missionierung ohne Sinn ist, da ich sehr agnostisch bin und keine Zeit habe, daran etwas zu ändern. So verzeihen Sie mir, denn ich akzeptiere Ihren Glauben, doch ich appelliere tunlichst, Ihre Zeit nicht zu vergeuden.“

Mir bleibt noch die Ewigkeit, dachte ich, aber sie hat Recht. Es ist frustrierend. –

„Nun, Sie bleiben mir ein Rätsel“, sagte ich stattdessen nur, „denn ich stelle es mir überaus herausfordernd und hart vor, in Paris zu überleben ohne sich im Klaren zu sein über Gott.“

Welch Gleichgültigkeit und welch abweisende Worte, ehe ich die meinen überhaupt ganz ausgesprochen hatte! Ja, verdorben waren sie alle zusammen, und sie klammerten sich ängstlich ans Verderben, ungewillt, nur einen Finger loszulassen, da sie glaubten, dass danach nur Leere kam, ein Fall ins Nichts. Wie unglaubwürdig, dass in ihnen die Befürchtung überwog, den eignen Unglauben womöglich zu verlieren.

Zeitverschwendung! Ja, die Suche nach dem Glück war sicher drängender, als dass man auch nur kurz die Richtung prüfte, die man einschlug. –

„Meine Klarheit besteht darin, zu erkennen, dass es letztlich gleichsam ist, ob man sein Leben im Glauben oder im Unglauben verbringt. Ich lebe gut, dass können Sie gewiss nicht leugnen, und andere tun es auch, ob sie nun glauben oder nicht. Wer möchte urteilen, wer Recht hat? Wie wollen Sie uns denn zwingen, uns zu ändern?“

„Das möchte ich keineswegs. Die Frage ist, ob Sie bereit sind, dass ein anderer dies tut. – Und wer sagt Ihnen, was ein gutes Leben ausmacht?“

„Das ist unsere Gesellschaft, Mademoiselle. Ich weiß genau, dass Geld entscheidend ist, und was gibt es auch sonst?“

„Die Religion ist nicht ans Geld gebunden“, erwiderte ich, „ein fester Glaube lebt ganz unabhängig und der Glaube macht das Leben wertvoll.“

Doch selbst in mir keimten Zweifel, denn ich kannte noch kein Leid und lebte frei von Angst und jeglicher Bedrohung. Vielleicht suchte ich an diesem schönen Sonntag im Café nach meinen Grenzen, meinem Halt, wie fest ich stand, und war erschüttert, wie bald mich die Furcht vor Anfechtung einholte. –

„Haben Sie denn, meine Liebe, Interesse an Parfum?“, fragte Juliette nun triumphierend. „Wohl nicht sehr, so würden Sie mitnichten denken, dass es Zeit sei, dies zu ändern, bloß weil ich Ihnen davon wärmstens vorschwärme. Warum also sollte ich Ihren Versuchen Folge leisten und an einen Gott und einen Jesus glauben, der mich dann in meinen Freiheiten bloß einschränkt?“

Juliette Luxanche war angestellt bei einem wohl berühmten Parfumier. Sie glaubte, dass ihr Job bedeutend sei, für sie gemacht. –

Ich gab es auf, gegen die Mauer anzurennen, die sich um ihr Herz befand und deren Steine man ihr großzügig gereicht und verbaut hatte. Für sie zählten nur Profit und eine Schönheit dieser Welt, die all den Schmutz verbarg und die sich letztlich auf dem Nichts befand. Daher die Angst, sie anzuheben! Doch wer akzeptierte dies? Ich grübelte; warum stießen sie ohne Zögern einen liebenden Gott fort, der ihnen Seine starke Hand gnädig hinreichte?

Gescheitert gab ich es auf und überlegte, ob es wahr war, dass ich nichts tat, als mein Leben zu verschwenden. Kein Mensch würde es bemerken, wenn ich fort war, wenn ich ging, Paris würde die Schultern zucken und sich weiterhin mit seinem Würgen, Krämpfen, seinem Leid beschäftigen. Warum auch nicht? –

Doch als ich später durch die Straßen ging und rote Abendsonne an den Fensterscheiben reflektierte, als man mir an einem Stand nahe der Seine ein altes Taschenbuch anbot, als ich in unsre stille Wohnung trat und sogleich riechen konnte, dass es Abendessen gab, fragte ich mich, ob ich nicht vorschnell meinen eignen Plänen traute statt den Seinen.

Ich hatte eine Aufgabe und mein Dasein einen Sinn.

Kein kluger Mensch würde versuchen, eine Mauer mit Gewalt niederzuzwingen.

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