Читать книгу Noir & Blanc - Kathrin Sereße - Страница 7

5. Kapitel

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Morgen zwischen Herbst und Sommer. –

Die Hitze war längst vergangen und Paris atmete auf, wandte sich seiner Arbeit zu, die schönen Träume von den Sommerabenden bald nur ferne Erinnerung, die Bilder von tiefgrünen Bäumen rasch von anderen ersetzt.

Es roch nach Herbstlaub und die ersten Blätter färbten sich allmählich, doch kein andrer nahm es wahr, die Zeit war rar, die Hetze nötig, bald zur Arbeit, bald nach Hause, und nur ich stand da und richtete die Nase in den Himmel. –

„Sie sind etwas wunderlich, habe ich Recht?“, fragte mich Bradford und berührte mich von hinten an der Schulter.

„Riechen Sie!“

Er schnupperte. „Ihr Haar riecht nach herbem Parfum…“

„Wie wäre es, wenn wir ein Stück des Wegs gemeinsam gehen würden?“

„Mit Vergnügen.“

Kurz darauf erklärte ich: „Riechen Sie nicht, dass der Herbst kommt und die Veränderung herbeiruft? Ganz Paris ist in Bewegung.“

„In Paris? Sie scherzen wohl. Ein jeder Tag ist gleich in dieser öden Stadt und jede Woche, jedes Jahr. Die Einsamkeit verschlingt uns kriechend und wir können uns nicht wehren.“

„Aber schauen Sie, die Blätter…“

„Werden rot und fallen ab. Der Frühling wird daraufhin kommen“, meinte er. Dann schüttelte er seinen Kopf. „Ja, Sie sind wunderlich, tatsächlich. Aus Paris kommen Sie nicht.“

„Mit diesem Wort bin ich wohl sehr rasch abgefertigt?“

„Nehmen Sie es mir nicht übel, darum bitte ich Sie sehr...“

„Auf keinen Fall.“

„Es ist doch nett, gemeinsam einen Teil des Weges zu erleben, Mademoiselle.“

„Und was, Bradford, erleben Sie?“

„An jedem Tag des Jahrs dasselbe, Mademoiselle.“ –

Wir stiegen nun die Treppen zur Metrostation hinab, um unsre Tickets dort rasch einzulösen, zweimal hörte man das Klicken in der Still, nein, still war es nicht, es redete nur keiner.

„Wie gefällt Ihnen Paris? Sind auch Sie einsam, Mademoiselle?“

„Nun, wissen Sie…“

„Verzeihen Sie, die Bahn ist da! Ich muss hinfort, bis heute Abend!“

Er ließ mich an seinem Wege teilhaben. –

„Sie sehen sehr glücklich aus“, stellte sie fest, als ich an diesem Morgen Noir & Blanc betrat. Sie stand hoch oben auf der Leiter, die an einem Regal lehnte.

„Finden Sie? – Ich freue mich, hierher zu kommen und zu helfen und zu lernen. Es gefällt mir…“

„Und ich freue mich, dass Sie da sind, Bleuenn, denn vom Quartier Latin ist der Weg nach Montmartre doch recht weit und man ist oft versucht, sich gründlich zu verfahren.“

„Wissen Sie, kein Mensch vergisst die Orte, die ihm viel bedeuten.“

Sie hielt inne. „Viele Kunden sprechen davon, dass sie sich bei uns wohl fühlen, dabei haben wir nicht mehr als alte Bücher. Heute will man Stimmung schaffen, die zum Bleiben überredet und die einlullt, mit Musik oder Design, doch in Buchhandlungen hört man sie von alleine, die Musik, denn nur das Herz kann sie wahrnehmen.“

„Denkbar ist es doch der Frieden, den sie schätzen.“

„Ja, durchaus. Denn all die Kämpfe zwischen den tausenden Seiten sind unhörbar, wenn sie nicht gelesen werden. Um zu tönen brauchen sie erst einen Leser.“ Mühsam stieg sie von der Leiter und ihr Blick suchte den meinen. „Mademoiselle, man muss los- und sich einlassen, sonst wird es immerdar still bleiben.“

Noir & Blanc hüllte sich gern in tiefe Stummheit, denn die Kunden schwiegen stets voller Respekt, sie streiften langsam durch die Reihen und verloren sich in Blicken, die die Buchrücken erfassten. Nur mit Zeit konnte man kommen und begreifen, was man sah, und nur mit Zeit konnte man spüren, was die Bücher einem sagten und auch jedes kleine Wort darin ergründen. Viele kamen, weil sie nach Ruhe suchten, doch sie fanden mehr als das; zwar keine Ruhe, aber eine ruhige Wahrnehmung der Umwelt.

Ich beschäftigte mich viel mit all den Büchern, sprich, ich wusste, wo sie standen und was sie den meisten sagten; doch entdeckte auch ich unablässig Neues, an den merkwürdigsten Orten, auf den wunderlichsten Seiten, und so manches blieb ganz und gar im Verborgenen, entzog sich meinen Kräften. Das sei kein Grund, aufzugeben, riet mir Madame Blanc daraufhin, abwarten sei eine wohlbekannte Lösung. Hin und wieder wusste ich nur schwer zu schätzen, was die Bücher wiegen mochten, sodass ich beinahe stürzte, wenn ich sie auf meine Arme legen wollte. –

„Keine Bange“, sagte Madame Blanc zu mir und hob sie auf, „Sie sollten sich nicht versuchen, die Lasten zu tragen, die zu schwer sind, Mademoiselle. Lesen Sie es aufmerksam und kritisch. Wer weiß, ob danach nicht vieles leichter ist.“

Ich kaufte ein neues Notizbuch, damit mir all die Gedanken, die mich fanden, nicht entkamen, damit sie nicht zwischen Leder und Papier verendeten und sich entfernten und mir nichts zur Hilfe blieb. Mit meinen eignen Worten schuf ich eine eigene Buchhandlung, deren Ausmaß stetig wuchs und die mir Kraft gab, die ich kannte wie mich selbst und die mich selber überraschte. Es war meine Quintessenz von jenen Werken, die ich las. –

So kam es, dass ich manche Ecken fürchtete und tunlichst mied, andre dagegen gern besuchte; und sie wanderten, die Ecken, und ich konnte nicht in jeglichen zugleich sein, doch ein jeder Ort veränderte mein Herz. Buchhandlungen, Bibliotheken, das war Leben, das war Fortschritt und Debatte. –

Ständig war etwas zu tun, denn Madame Blanc wurde nicht müde und auch ich nicht, erst zu lesen, dann zu denken und zu reden, zu beraten, zu entstauben und zu schauen, ob nun alles seiner Wege richtig ging. Es war ein anspruchsvoller Job, an jedem Tag, und diesen kunstvoll zu gestalten war die Fertigkeit, die Madame Blanc mich lehrte.

Leidenschaftlich unterhielt sie sich mit Kunden, klärte Zweifel, sie gab Rat, und auch Zurechtweisung war hierbei zu entdecken, denn mochte der Kunde über seine Ängste und Beschwerden bei seiner Lektüre klagen, konnte Madame Blanc ihm klar und voller Ehrlichkeit erläutern, was zu tun war, sie verstand, wo das Problem lag. Keiner kannte Prosa, Sachwerke und Lyrik so wie sie, wusste sie besser einzuschätzen. Ihre Kunden ahnten das und hegten achtungsvolle Ehrfurcht, kamen häufig ganz allein oder zu zweit, sie nickten höflich und verstanden manche Dinge. Was waren das nur für Menschen, die nach alten Büchern suchten, deren Schritte niemals in moderne Buchhandlungen fanden, und was ließen sie uns hier? – Je länger ich beobachtete, wie sie lebten, wie sie dachten, desto rätselhafter wurde mir ihr Schicksal, doch verband uns etwas Tiefes. Was tut ihr anderentags, fragte ich mich, wenn ihr nicht gerade Bücher lest? Ist der Staub fort, sobald ihr auf die Straße tretet? –

Ich liebte Bücher und ich liebte es zu lesen, ohne wahrhaft zu begreifen, was es war und wie es ging; ein unsichtbarer Raum von urmächtigen Worten, der sich füllte und der immer existent war, und ich konnte es nicht lassen, einzutreten und mich selbst erfüllt zu sehen von der Sprache, den Gedanken und den Bildern, die die ganze Welt umfassten! So vielfältig, gegensätzlich und unfassbar war die Liebe, dass es beinah falsch erschien, sie so zu nennen. Doch wie sonst? Was gab es anderes, das derart impulsiv und ohne Ende meine Seele füllen und kräftigen konnte? War die Liebe möglich, wenn ich doch nicht alle Bücher kannte und sie niemals kennen würde…? Es war nicht nur eine Welt, es war ein ganzes Universum, wenn nicht mehr, das sich der menschlichen Kontrolle wohl entzog. –

Bücher gehörten niemandem und gleichsam allen, ihre Worte waren unendlich genug, dass man sie ohne weiteres verleihen konnte, und ich vergaß hin und wieder, dass sie nicht nur mir gehörten und notierte mir Gedanken auf den Seiten, warum nicht, denn schließlich war es kein Konsumgut, sondern durchaus in der Lage, zu verändern, und mit Aussicht auf Entwicklung noch dazu, aus diesem Grunde las ich Bücher für die Seele. Wenn sie mir Impulse gaben, musste auch ich ihnen zeigen, dass ich da war, dass ich las und dass ich sah, und wenn schon Menschen eine allzu große Scheu verspüren mochten, anderen von ihren flüchtigen Gedanken zu erzählen, sollten doch zumindest Bücher still bewahren und vielleicht auf diese Weise weitergeben, dass man war.

Ich schrieb sehr oft, da ich nicht wusste, wer meine Worte verstand.

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