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6. Kapitel

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In den mittäglichen Pausen ging ich gerne durch Montmartre und erkundete die Gassen und die Straßen um den Laden, deren Treppen und Laternen eine wehmütige Nostalgie in mir heraufbeschworen. Als ich Sacré-Cœur besuchte, lag die ganze Stadt sehr ruhig, beinahe lieblich unter mir, obwohl die Menschenscharen um mich herum flossen, einen letzten schönen Sonnentag genießend und sich munter unterhaltend. Ihre Worte klangen wie sanftes Geplätscher. Ja, Montmartre hatte Flair und zugleich Charme, das Leben pur, bei Tag und Nacht. –

Ich freute mich über die Orte in Paris, an denen mir kein Misstrauen entgegenschlug.

Dabei stand jeder Mensch in stetem Wechselspiel zu der Umgebung, sodass wir allmählich zu den Orten wurden, die wir kannten, und man dachte später andere Gedanken, war ein ganz anderer Mensch, als antwortete man in derselben Sprache, die zu wandeln und sich anzupassen wusste. Welch ein wunderbares Leben in Paris, seufzte ich oft, wenn es Gestank, Gewalt und Armut nur nicht gäbe und sich niemand vor dem Morgen fürchten müsste. Unser Weg dorthin war weit, doch hielt ich mir das Ziel in vagen Träumen nah vor meinen Augen, man verfiel mit leichter Sehnsucht in den Zustand der Visionen, denn wenn ich Montmartre sah, erblickte ich die hübschen Straßen voller Duft von Rosenblüten, ahnte ich die alten Maler konzentriert an ihren Leinwänden mit Pinseln und Paletten, tönten schwingende Folklore, lachten Menschen in den Parks. Auch Bradford Seamon träumte manchmal von Montmartre, doch sah er es nie bei Tag. Das Licht, das er sah, schimmerte in andren Farben. Wenn ein jeder seine eignen Träume träumte, wen verwunderten es dann, wie Paris war?

Auf einem Platz suchte ich mir ein Restaurant, bestellte eine warme Mahlzeit und genoss das schöne Wetter, das die bunten Blätter kraftvoll leuchten ließ. Die Zeit schien stillzustehen, und der Tag bestand aus Müßiggang allein, aus Nichts. –

„Es freut mich, dass es Ihnen gut geht“, sagte er zuallererst.

Als ich den Kopf umwandte, sah ich einen Herrn im lichtgesprenkelten Halbschatten einer Linde, dessen Arme auf die Lehnen eines dunkelgrünen Stuhles ruhend lagen. Er sah mich unverwandt an und ich war sehr erstaunt, in einer fremden Stadt von einem fremden Menschen Worte zu empfangen.

„Wenn Ihnen einen Frage kommt, stellen Sie ruhig“, sagte er noch.

Daraufhin lächelte er freundlich, nahm mit einer eleganten Handbewegung seine Kaffeetasse auf und führte sie langsam zum Mund. Was hatte ihn zu mir geführt? Ich war verblüfft, dass er mich ansah, doch vielleicht waren es nur die anderen, die überhaupt nichts mehr ansahen. –

„Essen Sie“, sagte er, „ich störe Sie nicht.“

Dann zündete er sich eine Zigarre an und ließ den Blick munter von mir, doch seine Anwesenheit war weiter zu spüren. Ich verwunderte mich ob der Sprachlosigkeit, die mich rasch befallen hatte, und ich wollte eine Frage stellen, eine von den vielen, aber als ich den Kopf hob war er verschwunden.

Zurück blieb nur eine alte, melancholische Musik, die vielleicht einem Karussell entstammen mochte, welches sich bereits seit Jahren und Jahrzehnten nur im Kreise und im selben Rhythmus drehte. Ich hörte sie öfter noch, wenn ich dort saß, und immer wollte ich sie stoppen, wollte zeigen, dass das Leben weiterging, sobald man ein neues Lied spielte. –

„Sie mögen Madame Blanc sein“, sagte ich später, „aber wer ist Monsieur Noir?“

Sie sah mich an und ihr Blick war gänzlich unlesbar. „Noir & Blanc. – Die Welt ist nicht schwarz-weiß, auch wenn viele es denken, doch ein Buch besteht aus schwarzen Buchstaben auf weißem Grund… wie paradox.“

„So glauben Sie, Madame, wohl nicht an Gegensätze?“

„Mademoiselle, es mag wohl Gegen-Teile geben, und sie formen eine Einheit. Tinte schwarz, Papier schneeweiß. Wären sie beide von derselben Farbe, würde man das Buch nicht lesen können. Sie ergänzen sich.“

„Doch wer möchte entscheiden, welches ein Gegensatz ist? Entstammt nicht alles ein und demselben Prinzip?“

„Solange Weisheit existiert, wird die Welt niemals schwarz-weiß sein.“ Sie lächelte. „Obwohl uns das leichter erscheint; so könnten wir doch alles rasch verurteilen und auf das eigene Recht pochen.“

„Vielleicht können unsre Gegenteile zeigen, wer wir sind.“

„Gewiss, sie spiegeln unsre Stärken und auch Schwächen.“

„Dennoch fürchten wir sie sehr und möchten sie nur geradebiegen, ganz als wollten wir uns selbst damit verzerren.“

Sie schwieg lange, dachte nach. „Monsieur Noir mag existiert haben, doch ich war es, die ihn nicht recht verstand. Ich konnte ihn nicht mal betrachten… es braucht Mut, Bleuenn, dafür. Die Bücher können flüsternd einen Hinweis geben.“

Und ich wusste, was sie meinte, denn auch ich erlebte es, dass Bücher wie beseelt erschienen, fast als spräche ihr Verfasser durch die Seite an mein Herz, als werde, was er schrieb, erst wahr, wenn ich es las.

„Für diese Worte lebe ich“, sagte sie da. „Dies ist die Quintessenz des Dienstes, den ich tue.“

„Und doch kann ich nicht begreifen“, warf ich ein, dass niemand außer mir wahrnimmt, dass Bücher flüstern. Wen ich frage in Paris, keiner hört sie.“

„Man muss die Sprache sprechen können, und dafür muss jeder Lesende sie erst erlernen wollen, muss er alle eignen Wünsche und Gedanken ganz vergessen und nur hören und bereit sein, aufzunehmen. Keiner kann nämlich die Bücher flüstern lassen, Mademoiselle, Sie nicht und ich nicht, dabei mögen sie es doch unentwegt tun, auch wenn das menschliche Ohr taub ist, taub sein will.“

„Warum nur das? Ich bin so glücklich, wenn sie sprechen, so vollkommen… als gäben sie mir die Kraft zu neuem Leben, neuer Freiheit.“

Schmunzelnd nickte sie. „Bleuenn, Sie haben Recht.“

„Was soll ich tun, wenn man mich fragt? Wie helfe ich denjenigen, die noch nichts hören?“

„Haben Sie zunächst Vertrauen und Geduld, da ist kein Grund, der aufrichtig suchenden Seele diese Worte zu versagen. Im Vertrauen werden wir sie alle finden.“

Und es schien mir, dass die Welt in Worten fortbestehen musste, um zu sein.

Ich bemühte mich, an jedem Tag zu leben und zu kämpfen gegen Zweifel jeder Art, und später sah ich voller Klarheit auf die Zeit zurück, die still vergangen war. In der Erinnerung sah ich alles erneut und dachte nach über die Dinge, die geschahen.

Eines Abends hatte Juliette gekocht, das tat sie gerne, denn es war auch eine Kunst, und ich verstand, dass der Herr Recht gehabt hatte, dass wir uns näher kamen, als einem Menschen lieb sein, als er jemals kontrollieren konnte, und doch waren ihre Herzen mir so fern.

Lance Leprince saß mir gegenüber. –

„Hat nicht jeder Mensch auf Erden das Recht auf ein gutes Leben?“, fragte Bradford.

„Rechte sind nur Illusionen“, sagte Lance, „hohe Maßstäbe, die wir miteinander setzen.“

Es sei einfach niemand da, der uns verurteile dafür, dass wir gnadenlos scheiterten. –

„Das tun wir wohl“, äußerte Bradford. Er prostete Juliette mit dem Weinglas zu. „Es deprimiert mich, all die grauenhaften Nachrichten zu hören.“

„Sie sind gut“, erklärte Lance, „zeigen sie doch die wahre Welt, die wir nur so begreifen können. Wenn wir Angst haben, machen wir keine Fehler. Wenn wir wissen, dass das Glück vergänglich ist, genießen wir es umso mehr. Zwischen den beiden, Glück und Unglück, steht nur Zufall und ihm sind wir ausgeliefert.“

„Das klingt furchtbar…“

„Das hängt von der Reaktion ab. Deprimiert man? Oder schreit und tobt man wild? Das tun wir nicht! Wir schauen, schreiten seufzend fort. Kommt Ihnen jemals in den Sinn, dass man Sie braucht?“

„Wäre ich fort, es würde niemandem auffallen“, meinte Bradford.

Juliette fuhr hoch. „Was redest du nur da!“

„Was tun denn Sie?“, fragte ich Lance. „Was sehen Sie, wenn Sie Zeitungsartikel lesen?“

„Ich kann lediglich erkennen, was ein anderer mir zeigt, und mein Vertrauen in die Medien ist schwach. Jeder Bericht ist subjektiv und das Geschehnis längst vergangen, und was ändert es, dass wir Tote und Verletzte in Beträgen wiedergeben? Würden wir wirklich begreifen, herrschte bald eine globale Depression. Wir halten Wissen für Kontrolle, doch das stimmt nicht! Keine sorgsam strukturierten Meldungen, sondern die Wahrheit brauchen wir, um dann gemeinsam das Problem lösen zu können.“

„Welches Problem? Ist es das unsre?“, fragte Bradford.

„Wessen dann?“

„Man lernt doch viel“, meinte Juliette, „über die eigene Nation, indem man sich mit den Problemen anderer und eigenen Krisen beschäftigt. Das möchte ich gar nicht missen.“

„Sind wir also auf das Leid vor unsren Augen angewiesen?“, sagte Lance.

„Lesen Sie Bücher“, sagte ich, „sie sind vertrauenswürdiger als jede Zeitung.“

Er warf mir einen Blick zu. „Glauben Sie das? Wird über wahre Dinge überhaupt geschrieben oder sind wir nur dabei, von den Fiktionen irrer Schreibender zu zehren, deren Welten fern der Realität taumeln?“

„Sie sind besser, diese Welten“, meinte Bradford, „das gereicht mir.“ Er nahm einen tiefen Schluck. –

„Es kommt mir vor, als sei unsere Nation tot, der ganze Staat“, murmelte Lance. „Was wir noch leben, ist vollends ohne Belang, nicht existent.“

„Womit begründen Sie die These?“, wollte Juliette skeptisch wissen.

„Ist sie haltbar? Oder sind letztlich Sie es, der schon tot ist?“, warf ich ein und sah Lance an.

„Wie könnt’ ich tot sein, wenn ich das Leid doch noch sehe? Heißt es nicht, dass es im Himmel schöner sei.“ Er war ironisch und verbittert, Himmel sagte sich sehr leicht.

Lance sprach nicht viel, er war nicht Bradford, dessen Seele wie ein simples und recht groß gedrucktes Buch war, Lance war anders, dick, mit zahlreichen Kapiteln, deren Inhalt sich mir selten ganz erschloss. Er war nicht schüchtern, nicht begrenzt, doch dachte er, so schien es mir, und in mir wuchs der tiefe Wunsch, in dieses Werk ganz einzutauchen. Täglich sah ich ihn, beim Essen, auf dem Flur, er grüßte freundlich, distanziert, wir setzten alle unsre Grenzen, doch der seinen waren mehr und es gab zudem keine Tür. Vermutlich hatte er sie selbst noch nicht entdeckt, vielleicht suchte er sie verzweifelter, als ich es eben tat. Zuweilen kam mir der Gedanke, dass ich eine Brücke bräuchte. –

„Es gibt Gutes in der Welt“, sagte ich dann. „Wir haben einen starken Rechtsstaat, Menschenrechte und Gesetze, genug Nahrung und Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn weltweit jeder versuchte, nur zehn Regeln einzuhalten, wäre vielen sehr geholfen. Zehn Gebote, sagt man auch.“

Ich erntete erstaunte Blicke.

„Mir bedeuten sie gar nichts, ich halte Regeln bloß, wenn sie mich überzeugen aus“, sagte Lance Leprince. „Kein unsichtbarer Gott kann mir vorschreiben, was zu tun und was zu lassen ist, er weiß es weniger als ich tue.“

„Doch der Sinn dieser Gebote ist gut sichtbar.“

„Nein, Bleuenn, es geht vielmehr um die Erziehung. Jedes Kind braucht die Gesetze, die ihm sagen, was erlaubt ist und was schlechte Folgen hat, denn es begreift nicht und besitzt keine Erfahrung. Aber später ist der Mensch mit dem Verstand wohl in der Lage, zu erkennen, was uns Segen und was Leid bringt. Das Gesetz ist keine Vorschrift, sondern lediglich die Stütze, die uns allezeit als Konsens und als Absicherung dient. Es macht uns greifbar, wer wir sind. Wir brauchen dafür keinen Gott! Wir sind intelligente Menschen! Was wir brauchen, das sind selbst erdachte Regeln und die stete Überzeugung, dass sie gut und aktuell sind, was umfassendere Leidenschaft und mehr Einsatz erfordert, als sie jetzt vorhanden sind. Wir müssen diesen Staat ununterbrochen wollen, um ihn auch zu unterstützen, und darin liegt unser Scheitern wohl begründet, daran gehen wir zugrunde, denn die Krankheit ist schon da, Gleichgültigkeit zerfrisst uns und unsere Zukunft. Was da ist, es scheint gegeben, doch das ist es keinesfalls. Wir müssen denken und nicht stöhnen.“

Ich konnte nicht recht erklären, ob mir er sympathisch war oder ich seine Art als abstoßend empfand; es war mir ein Mysterium, denn Lance Leprince war mir ein Rätsel, und er schien auch nicht gewillt, es mir zum Lösen hinzureichen. –

Juliette und Bradford schienen unzufrieden.

„Was können wir denn verstehen?“, fragte ich. „Doch nichts, solange wir es nicht mit ganzem Herzen nachempfinden. Uns ist ungewiss, was gut ist und was schlecht, und deswegen ist jedes Urteil, das wir fällen, bald ein falsches. Und nur Gottes Meinung zählt, doch müssen wir Ihm erst vertrauen.“

„Aber Sie trauen nur denen, die behaupten, dass ein Gott ihnen Gesetze offenbart hat!“ Spöttisch neigte er den Kopf.

„Es sind durchaus keine Gesetze in dem Sinn, dass Er befiehlt, was der Mensch tun soll. Trotz und Auflehnung sind letztlich albern, weil absurd, denn Gott möchte uns damit dienen, wenn Er uns so offensichtlich offenbart, was Ihm gefällt und was Ihn uns verdammen lässt…“

Lance schüttelte brüsk seinen Kopf, und sogleich klingelte es an der Wohnungstür. „Das ist für mich“, sagte er da, „euch allen eine gute Nacht.“

Und fort war er. –

Konnte der Staat schließlich mit all seinen Facetten jene Werte widerspiegeln, auf die er sich gründete, oder blieben dies leere Worte auf Papier, konnten sie gar verloren gehen und versanden? Welch Enttäuschung, und das Blut so vieler Menschen, die für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft und gesiegt hatten, doch die Zeit lief einfach weiter, stumpf und gleichförmig, und die Entwicklung stand, bis wir begriffen, dass wir längst verloren hatten, weil wir an nichts mehr glaubten.

Aufgegeben hatten wir!

Wir wussten durchaus, was recht war, es hatte sich deutlich gezeigt, und es gab Fakten, es gab Regeln, es gab Ungerechtigkeit, dagegen anzugehen jedoch war so anders, es war fordernd, und wir waren so alleine. Wer schenkte uns Unterstützung? Wer versicherte uns vollends, dass wir gute Dinge taten und nicht irrten?

Es war einfacher, zu lächeln und zu spielen. Beinah wünschte man sich Unglück, das doch wenigstens die Menschen hätte wachrütteln können!

„Ja, es jeder hat ein Recht auf Leben“, warf Juliette nun wieder ein. „Denn danach sehnen wir uns, und was gälte Sehnsucht, gäbe es keinerlei Hoffnung auf Erfüllung? Zwar ist noch sehr viel zu tun, das weiß ich wohl, doch wer behauptet, dass wir schon am Ende sind?“ Sie lächelte.

Lance hätte sicher insistiert: Juliette, verraten Sie mir doch, was Sie bis dahin tun, auf dass das Ende gut wird, irgendwann? – Ich aber schwieg, denn meine Meinung unterschied sich von der ihren, es war anders und komplexer, als sie dachte. Wer konnte das Urteil sprechen? Ich gewiss nicht.

Fing nicht hier das Kämpfen an?

Wir waren uneins, was das Ziel war, stritten uns über die Fehler, die wir machten, wie sollten wir so nur helfen und erreichen, was wir brauchten? Die Menschen kapitulierten und der Egoismus siegte, wozu streiten, wenn ein nettes Leben möglich war, indem man schlichtweg alles akzeptierte, doch nichts tat? Wie lange war ich dem Konzept gefolgt, wie oft hatte ich nachgiebig geschwiegen und gedacht, es sei egal, denn es war fern, es störte meine Werte nicht und ohnehin war es unmöglich, gegen eine solche Übermacht zu reden. Doch was tat ich in Paris, wenn ich so passiv reagierte? Lieber Krieg als solch ein Frieden, der zum Schein nur einer war! Denn auch ein Krieg konnte zum guten Ende führen.

War es denn die Religion, um die es ging? Wie sollten wir nur weiter leben, wenn wir schwiegen und den anderen heimlich verachteten, wo war ein Konsens? –

„Bleuenn“, sagte Juliette später am Abend. „Lance wollte Sie sicherlich nicht konfrontieren.“

„Das sollte er gerne tun“, meinte ich, hieße das doch schließlich, dass er auf der Suche war und dass zudem zwischen uns menschliche Beziehung existierte, was bis dahin nicht der Fall gewesen war, so schien es mir. Vielleicht hatten wir im Gefecht beide vergessen, dass wir passiv bleiben mussten, dass der Einsatz sich nicht lohnte, dass der andere uns fremd war.

„Er hat sehr schwierige Seiten“, fuhr sie fort, während sie sorgfältig die Zehnägel lackierte. „Lance Leprince ist nicht gewöhnlich.“

„Inwiefern? Was ist das für Sie?“

Sie sah auf. „Ich spüre oft, was meine Mitmenschen empfinden. In seinem Kopf ist es fürchterlich am Toben, und er selbst sorgt nicht für Ruhe wie wir anderen es pflegen. Er wartet ab, was passiert. Es wird ihn töten, glaube ich, denn er ist unfähig, sich andren mitzuteilen, wenn es um die Seele geht. Die Bruchstücke, die wir empfangen, reichen nicht, um ihm zu helfen.“

Ich zweifelte schlagartig an meinem Urteil über Menschen. –

„Wo ist er so ungewöhnlich?“, fragte ich. „In seinem Sein, in seinem Handeln, seinem Fühlen?“

„Ich bin mir da gar nicht sicher, doch ich wünsche ihm nur Gutes. Er ist freundlich, er ist höflich, ein zuverlässiger Mann. Ich wollte Ihnen dies versichern, keine Feindschaft ist geboten, sondern Nachsicht. Doch ich sehe, meine Sorge war nicht nötig. – Wissen Sie, ich denke, dass Sie sich sehr gut verstehen würden.“

„Ach.“

„Durchaus“, bejahte sie. –

Ich wollte gerne etwas schreiben über ihn, aber es ließ sich kein Wort finden oder gar zu Papier bringen, denn ich kannte ihn ja nicht, solange wir uns distanziert beobachteten und nichts wagten. Es war selbstsüchtig von mir, meine Gedanken zu behalten und zu fürchten, dass die Nähe jene attraktive Mystik der Entfernung auf enttäuschend bittre Art als Illusion entlarven würde. Ich wartete ein paar Wochen höchst zurückhaltend und fast zerrissen ab. –

Nun aber weckten Juliettes Worte meinen Ehrgeiz! Sie selbst wollte Lance aus seinen Zweifeln retten, wollte helfen? Sie sah mehr, als ich es tat? Das geht nicht an, sagte mein Stolz, Lance Leprince verlangt nach viel mehr und zwar nach dir. – Was meine Furcht noch steigerte! Ich gab zurück: Ich kann nur demjenigen helfen, der die Hilfe wirklich möchte, der zumindest seine Hand hebt, der die Hoffnung auf Erlösung in sich spürt. –

War dies nun falsch? Was wusste ich schon!

Und selbst wenn er beide Hände in die Luft gerissen hätte – hätte ich ihm helfen können, ich, Bleuenn?

Noir & Blanc

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