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7. Kapitel

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So kam der Herbst, eine zunächst willkommene Veränderung, der doch die Wehmut nach dem Sommer inne war. Es heulte und stürmte tosend durch Paris, was der Stadt zutiefst widerstrebte. Die noch sommergrünen Blätter zerrte man mit beinahe roher Gewalt, obwohl sie nicht bereit waren, schon fort zu gehen, von den Ästen, und sie klatschten gegen Fenster, Stöcke schabten über nasse Trottoirs sowie der Müll, der aus den dunklen Straßenecken geweht wurde. Der Himmel war in ein dichtes Grau gehüllt und Nieselregen schwebte bleiern in der Luft, durchnässte Kleider, nahm die Sicht. Die Welt steckte in schmerzhafter Metamorphose. –

„Ich finde bei dem Wetter keinen Antrieb“, sagte Bradford und er schüttelte den Kopf, sobald er diesen Richtung Fensterscheibe hob. „Ich habe wahrlich keine Lust, voll Schmutz und Regen bei der Arbeit zu erscheinen.“

„Ja, es ist seltsam verpönt, sich den Naturkräften unbeschränkt auszusetzen“, meinte ich.

„Naturkräfte? Sie scherzen wohl.“ Er warf sich seine Jacke über. „Das ist größter Euphemismus, Mademoiselle.“

„Ach, wissen Sie, Monsieur, es kommt nur auf die Herzenshaltung an.“

„Das mag wohl sein, doch ändert es überhaupt gar nichts an der meinen. Diese Welt ist für mich Menschen nicht geschaffen.“

Ausgehbereit standen wir im Schummerlicht unserer Wohnung und betrachteten einander.

„Pflicht vor Leidenschaft?“

„Herrje!“ Er rieb sich unschlüssig die Stirn. „Ich habe weder Leidenschaft noch eine Pflicht, ich habe nichts als einen Job, von dem ich selbst nicht weiß, warum ich ihn einst wählte. Wen schert es, ob ich erscheine oder nicht? Die Leere rückt mir auf den Leib, ich sehe keine Freude mehr, da ist nur Schwärze! Wozu ausgehen, wenn selbst der Gott des Wetters mich nun hasst?“ Schwer atmend riss er seinen Hut vom Kleiderständer. „Wir müssen uns nun beeilen, Mademoiselle, denn es ist spät.“

Ich stimmte zu, es war sehr spät, doch nicht verloren. –

Voller Liebe war ich für den wilden Sturm, denn unter seiner groben Kraft fand sich die Freiheit, fand sich Neues, fand sich Leben! Meine Hände zitterten vor Angst vor ihm, und Bradford fürchtete sich mehr, als ich es tat. Er sah ihn, ja, er sah ihn an, doch war es ihm lieber zu flüchten, als zu sehen, was er barg. Ich verstand ihn, denn es gab immer ein Zurück in diesem Leben, nur im allmächtigen Sturm war dies unmöglich. Ich war von der Klippe mutig abgesprungen, hatte selbst erleben dürfen, dass der Wind mich tragen konnte, aber immer wieder gab es neue Sprünge, und bei jedem kam die Angst.

Pflicht oder Leidenschaft, ich tat es wohl für beide, wollte springen, wollte Bradford fest an seinen Händen nehmen und ihm zeigen, dass es ging, dass weder Alltag noch die Leere unsren Geist vom Leben trennten, dass man Gleichgültigkeit widerstehen konnte. Es war mir gleich, was er gestern getan hatte und was er morgen tun würde, wer er war, ich wollte zeigen, dass es mehr gab und das Mehr so fern nicht war.

„Was halten Sie von einem Ausflug?“, fragte ich. „Sie sagten, dass man Sie durchaus entbehren könne.“

„Oh, Sie scherzen, Mademoiselle. Das ist undenkbar, rechnen Sie mit allerschlimmsten Konsequenzen.“

„Ihre Meinung ändert sich beinah minütlich. Kommen Sie, vergessen Sie die Konsequenzen. Was ist wichtiger, der Job oder Ihr Leben? Heute brauchen wir Ihr Leben. Kommen Sie.“

Er biss sich auf die Unterlippe, trommelte mit seinen Fingern auf der Wand. –

„Gut“, sagte er und hielt mir seine rechte Hand hin, „einen Ausflug, Sie und ich.“

Ich war so aufgeregt wie er. –

Vor der Tür war es kalt und düster, wir hasteten über feuchtes Kopfsteinpflaster, während Böen an uns rissen. In den Läden brannte Licht, man meinte Duft aus einer Bäckerei zu riechen, doch der Wind verschluckte ihn. Es war so furchtbar und großartig gleichermaßen; Flügel bräuchte man, um über diese grauen Dächer von Paris zu gleiten, dachte ich. Ganz ohne Worte von Worten allein getragen, diese kleine Welt umfassend und beschützend, wie ein warmer Sonnenkranz. –

Er stöhnte klagend, doch dann gab Bradford es auf und musste grinsen, wie absurd dies alles war!

An der Station reihten wir uns in eine Schlange, sahen in gehetzte Mienen, passierten die Ticketsperre, und schon schluckte die Untergrundwelt uns ganz; ein schrilles Kreischen, Bahnen sausten, Menschen drängten sich in überfüllte Wagen, ausblendend, auf sich alleine fokussiert, doch ich musste es alles sehen, musste hören, viel zu schnell und viel zu viel, all diese Dinge, die ich niemals wissen würde. –

Bradford fragte: „Wohin geht es?“, doch das war die falsche Frage, denn kein Mensch stieg in die Metro, wenn er sich dieselbe stellte.

Kurz entschlossen winkte ich, wir stiegen ein und waren plötzlich mittendrin in dem Gedränge, und die Bahn schoss bereits los, tief in die Dunkelheit des runden, breiten Tunnels. Es ging schnell und Stille folgte auf dem Fuß, man redete nicht miteinander, über welches Thema auch, man kannte sich ja nicht einmal, sondern vertiefte sich in Bücher oder Zeitungen und wollte ganz vergessen, dass man sich mit fremden Menschen in intimster Nähe fand, die zufällig alle denselben Zielort hatten wie man selbst, und diesen dennoch Welten entfernt aufsuchten. Man gab sich auf und wurde unsichtbar, entbehrlich, wie ein Schatten. –

„Ich weiß nicht…“, murmelte Bradford in das Rattern vieler Räder, während farbige Graffitis in der Finsternis aufblitzten, Worte, Bilder, Schreie, Augen. Sein Gesicht lag tief im Schatten und er sah auf mich hinunter, denn wir waren uns so nahe wie noch nie.

„Vergessen Sie es“, antwortete ich, „vergessen Sie, woran Sie gestern dachten!“

„Das ist einfach“, meinte er, „es war nur Unerfreuliches.“

„Schauen Sie jetzt“, fügte ich an.

Er schüttelte verwirrt den Kopf, er ließ die Blicke schweifen, sah nichts, wollte nichts sehen, auf dass man ihn nicht sah. –

„Wer kann es sich denn bitte leisten, zu vergessen?“, fragte er. Und leise: „Sie etwa?“

Fremd und fraglich erschien ihm diese Reise, da er nicht erahnen konnte, was sie war. Er gab, was er Kontrolle nannte, an mich ab, und ich an den, dem ich vertraute.

Hierin lag der Unterschied. –

Die Leute kamen und sie gingen, austauschbar, nur graue Schatten. Ich betrachtete sie alle, suchte Farben, fand nur Trübung, fahlen Nebel fernen Lebens. Es war die unterste Ebene der Stadt,, die deren wahren Kern entblößte, die in nackte Seelen schaute, und es gruselte mich so! Ich würde sie nie wiedersehen; oder doch? Konnten sie sprechen, konnte jeder hier ein Wort des Leides sprechen? Und der Hoffnung? –

Bradford Seamon sah nun aus, als sei ihm übel. Sehr verloren war er, elender als sonst, dabei hatten wir uns nur von den trauten Pfaden unsres Alltags abgewandt.

Austauschbar waren auch wir hier, wollten es sein, und so sprangen wir aus dem Wagen und erklommen eine Treppe, helles Tageslicht umspielte unsre Augen. Ringsherum brauste Verkehr in stetem Maße, es stank unerträglich nach Autoabgasen, Paris war es.

„Wie leer es doch vor dem Automobil war, und dennoch stelle ich es mir viel voller vor“, rief ich ihm zu.

„Nun, sicherlich…“, war seine Antwort.

„Wie sehr sie doch Menschen voneinander trennen, so ganz anders als dort unten, wo nur Wände aus Gedanken zwischen uns sind. In der Metro ist es schwer, aber hier draußen halten wir die anderen auf weitem Abstand. Haben Sie darüber einmal nachgedacht? Der Fortschritt macht uns furchtbar einsam.“

„Ich begrüße die Distanz.“

„Ja, in Paris erscheint sie sinnvoll“, gab ich zu. „Haben auch Sie sich schon gefragt, wer all die unzähligen Bilder an die Wände dieser Tunnel gesprayt hat? Er muss verrückt gewesen sein!“

„Das war er wohl.“

Es war ein merkwürdiger Tag und ich sah Dinge, die ich sonst nur selten wahrnahm, ein Stück Wäsche, nass im Wind, am Vorabend an einer Leine vergessen oder absichtlich dort gelassen, eine leere Whiskeyflasche mitten auf dem Trottoir und ein Plakat: So kommen Sie zu unsrer großartigen Show, seien Sie Teil des Spektakels! Längst vorbei und lang verjährt…

„Und hinter allem, was wir sehen, steht ein Mensch, jedes Detail in dieser Welt hat zwei Seiten, nämlich zum einen die Geschichte, die erzählt, wie man es schuf, und schließlich jene, die erst dann entsteht, wenn ein andrer es sieht. Sofern er sieht“, mutmaßte ich.

„Ich muss bekennen, dass ich Sie erneut als wunderlich betrachte, Mademoiselle“, bemerkte Bradford.

„Gar so wunderlich nun auch nicht“, sagte ich. „Sie müssen hinschauen.“

Und denken, ja, was denken Sie hierzu, was finden Sie? Was ist das, eine Avenue, und wozu dient sie, wohin führt sie? – Denn wir stehen auf der Straße, in Paris, und was bedeutet das für Sie? Ist es Paris? Oder auch nicht? Wer weiß es schon, Monsieur... Und eine Mauer sehen wir, sie steht hier vor uns, hoch ist sie, und was dahinter? Nur nichts Neues auf der Welt? Vielleicht denkt man das auf der andren Seite auch, wozu die Mühe, wozu suchen, was nicht offenkundig ist? Und wären Sie nicht ohne mich strikt an der Wand vorbeigegangen? –

Wir konnten niemals die ganze Welt regieren, doch regieren war so einfach, und der Alltag war die Manifestation unsrer Regentschaft. Angepasst und dennoch unabhängig – frei? Wer waren wir, wenn wir sie nur für eine kurze Zeit aufgaben und versuchten, weiterhin zu existieren, nicht im Nichtsein zu verschwinden? Wer waren wir, wenn wir die Mauern betrachteten und uns verzweifelt fragten, ob wir selber sie vor langer Zeit erbauten? –

Wir standen vor einer Friedhofsmauer und es regnete inzwischen nicht mehr, doch es wehte noch konstant und roch nach Herbst, so stark, dass einem schwindlig wurde.

„Weswegen bauen wir um Friedhöfe Mauern?“, fragte ich.

„Weil der Tod uns widerstrebt, er macht uns Angst. Wir ziehen Grenzen mit der Absicht, uns zu schützen. Dabei ist es paradox, denn auf dem Friedhof liegen wir und unsre Lieben“, sagte er. „Nach Ihnen….“

Père Lachaise.

Die wohl berühmteste Begräbnisstätte von Paris. War sie berühmt oder die Menschen, die hier lagen? Sie waren es über ihren Tod hinaus, das garantierten die verwitterten Steinmale, die erinnerten, an Leben, das längst fort war und doch Spuren hinterließ.

Wir wanderten durch eine Steinwüste von Toten, die sich ohne Ende an den Horizont erstrecken mochte. Außer uns, Bradford und mir, erschien sie leer und längst verlassen. Unser Atem ging im Gleichklang. Obwohl Père Lachaise so wüst war, war es dennoch eine Stadt, in der ein jeder seine Wohnung, seine Gruft oder sein Grab, erhalten hatte, doch der Unterschied zur Stadt da draußen lag in der Erstarrtheit, es bewegte sich nichts mehr, man war verdammt zu einer unendlichen Rast. Es gab zwar Bäume, Treppen, Wege, trotzdem führten sie von einem Grab zum nächsten, immer wieder, endgültig. Wer kam in diese Totenstadt, wen sehnte es, sie zu besuchen? Warum staunten wir darüber, unbegreifbar fasziniert und abgestoßen? So durfte es doch nicht enden, es war nichts, es existierten weder Leben noch der Tod. –

Der Mensch war fort und jeder Körper hatte seinen Zweck erfüllt, es war zu Ende, und so war ein Friedhof nichts als eine Aufbewahrungsstätte toter Leiber, dachte ich, und nicht von Menschen. Sie ruhten nicht wirklich hier, denn die Vergänglichkeit war irdisch und nur sie lag unter Steinplatten begraben. Was noch blieb, das waren Namen oder Zahlen.

Aber machten sie es möglich, zu erinnern? Waren sie die Quintessenz des Menschenlebens, ein paar Laute oder Zeichen, ein Sandkorn in dieser Wüste?

Ich verstand und verstand nicht zur selben Zeit. –

Wenn ich sie nun gekannt hätte, all diese Menschen, wenn ich an die Gräber treten und die Namen lesen könnte und der Worte und Gesichter mich erinnerte? Weil ich sie geliebt hatte, als sie lebten? –

Die Figuren auf den Gräbern lächelten uns spöttisch zu, sie waren furchteinflößend groß und in die Totenstadt gesperrt, zu sitzen auf faulen Gebeinen, um im Wandel der Zeit wie sie zu verkommen; Moos und Flechten, Unkraut, Rost, das alles wucherte zuhauf und verschlang Frisches. Friedhöfe, das waren Orte ohne Zeit, doch sah man diese überall an ihrem Körper; und es war die Zeit, die uns einst sterben ließ, die uns zu neuem Leben führte, indem sie uns erst zerstörte. Tod begleitete sie schleichend, er verwischte alle Spuren, selbst die Meisterwerke hielten einen Künstler nicht am Leben, sie bewahrten nur, manifestierten einen Teil des Lebens für die Nachwelt, und auch sie würden zugrunde mit der Zeit… Vergänglich waren wir, der eine wie der andere auf Erden.

Und ich weinte etwas über diesen Friedhof und die Pferchung in Gestein, warum Gestein, weil es so lange blieb, doch war es kalt, nur Würmer und Insekten lebten hier. Man spekulierte von vornherein aufs Vergessen, denn kein Mensch kam gerne her, zumindest nicht für lange Zeit. Die Grenze war gezogen worden, tief und scharf. Die Toten hatten zu Lebzeiten jene, die nun neben ihnen liegen mochten, nicht gekannt. Vielleicht war man sich einmal flüchtig in der Metro aufgefallen oder hatte sich in einem Traum geliebt. Auch Bradford weinte, sodass wir beide still standen, ganz als seien auch wir Statuen aus Stein, betrachteten die flachen Stufen voller Gräber unter uns, während am Horizont das andre Paris lag.

„Ist es nicht traurig“, sagte Bradford, „dass ich mich Zuhause fühle? Hier ist Leere, nur Fassade, keine Seele mehr, die einen lieben kann. Es ist egal, ob man ein Grab oder nicht, es wird ja doch alles vergehen ohne Wirkung.“

„Sie sollten sich nicht so sorgen“, sagte ich und langsam schlenderten wir zu der grünen Holzbank, setzten uns. „Das hier ist sicher nicht das Ende unsres Lebens, sondern lediglich das Ende einer kurzen Leidensphase. Möchten Sie, Bradford, auf dieser Erde bleiben?“

„Wenn sie eine andre wäre, dann sehr gerne“, seufzte er. „Wenn ich noch mehr entdecken könnte, als ich sehe. Aber sterben möchte ich genauso wenig, denn ich weiß nicht, was danach kommt, ob man mich bestrafen wird und ob nicht all die ungenutzten Möglichkeiten schwer auf meinem Herzen liegen. – Ich bin feige, Mademoiselle.“

„Nein, Sie sind menschlich.“

Und wir schwiegen.

„Wissen Sie, der Tag, an dem ich annähernd begriffen habe, dass ich für eine heilige Ewigkeit geschaffen bin, verwandelte mein ganzes Fühlen und Empfinden. Die Erkenntnis ändert alles und die Angst vor der Vergänglichkeit nimmt ab, was ist sie schon, verglichen mit dem Guten, das noch kommen wird! Was habe ich von Ruhm, Geld, Luxus auf der Erde, was von Macht oder Erfolg? Ich brauche weder eine Leistung zu erbringen noch mich selbst anzupreisen, denn ich bin reich und werde unendlich geliebt. Die Zeit ist kurz, die Ewigkeit dagegen länger. Und doch ist die Zeit ein kostbares Geschenk, ich bin ein Mensch und ich kann wirken. Ich kann werden. – Bradford, auch Sie sind geschaffen mit der Fähigkeit, zu leben und zu lieben. Und beim Anblick dieser Steine sollten wir uns vielmehr freuen, da sie uns so deutlich zeigen, dass wir einst nach Hause kommen.“

Er erwiderte kein Wort und schaute nur und dachte nach, und es war still. Ich musste schmunzeln angesichts all jener Menschen, die schon dort waren und ob des Paradoxons, dass Verlust gleichsam Gewinn des Himmelreiches prophezeite. Freud und Leid waren folglich kein Gegensatz, sondern viel enger noch verknüpft, als wir es dachten. Denn der Tod mochte Erlösung sein, das Tor zur Brücke, die hin zu Gott führte, und nur Christi Leid konnte uns Leben geben. Ja, ich liebte diese Erde, doch ich liebte sie als Anfang und als Werk, das nicht missraten, sondern neu errettet war.

Ich glaubte an den Himmel und nicht an die Hölle.

Bradford nickte und er senkte seinen Kopf, und alle Steine schienen es ihm nachzutun, verneigten sich, als wir mit nachdenklichen Schritten Père Lachaise den Rücken wandten und ihn in der tiefen, transzendenten Stille ruhen ließen.

Wie einfach es doch war zu fliehen, auszubrechen, es genügte, einen Schritt abseits des Weges zu riskieren und zu schauen, was geschah: Die Welt zerbrach nicht, sie veränderte sich nur. –

Ein jedem Menschen, den wir trafen, schauten wir grad ins Gesicht, und keiner von ihnen schien glücklich; ihre Mienen waren dunkel und verloren, neben ihnen lagen alte und verrammelte Gebäude, etwas Müll am Straßenrand, wilde Graffitis, nass und unschön war es hier. Ich konnte nicht begreifen, wo ich war oder gar wer die Menschen waren, die wir sahen, und viel weniger begriff ich, warum wir allesamt konsequent entlang der Mauer liefen ohne unsren Blick zu heben, da er auf den eignen Füßen oder auch auf den Auslagen der Geschäfte haftete.

„Paris ist immer gleich, tagtäglich“, sagte Bradford. „Jeden Tag ist es dasselbe, Mademoiselle.“

„Wir sind es nicht und sie ist groß, die Stadt, man könnte sie überall neu erleben.“

„Sie sind immer noch der Meinung, dass Leben schön sein kann“, bemerkte er.

„Auch Sie sind fähig, dies zu glauben, nur versuchen Sie es nicht, denn es ist einfacher, zu denken, es sei furchtbar und zu leiden und die Hoffnung aufzugeben. Tief im Herzen sind Sie einfach nur enttäuscht von Ihrem eigenen Versagen und es fällt Ihnen nicht leicht, die Rolle aufzugeben, die Sie so gut kennen. Aber wissen Sie, das Leben kommt nicht, wenn Sie es nicht suchen. Was ist das für Sie, das Leben? Was haben Sie schon entdeckt?“

„Es wartet auf mich, aber es ist nur ein Schatten“, sagte er, „der immer forthuscht, wenn ich komme. Alle anderen sind schneller, besser, hübscher. Reden Sie von schönen Dingen, ja, und sie mögen existieren, jedoch nur in weiter Ferne. Nicht für mich.“

„Seien Sie leise, es ist Unsinn, was Sie reden!“ Ich blieb stehen. „Lieber Bradford, Ihre Mutlosigkeit wird Sie einst zerstören und so sollten Sie sie schleunigst überwinden.“

„Lieber mutlos als so fürchterlich naiv wie Sie es sind. Ich glaube an den Realismus…“

„Ich an Hoffnung! Realismus ist ein Märchen und liegt viel zu sehr im Auge des Betrachters. Doch Ihr Herz gehört nur Ihnen, es kann frei sein von den Ansprüchen der andren.“

Bradford runzelte die Stirn und überlegte. „Das klingt gut“, sagte er dann. „Sie haben Recht. – Ich kenne einen Ort in dieser bösen Stadt, der anders ist und Hoffnung gibt. Wollen Sie mich dorthin begleiten?“

„Mit Vergnügen“, sagte ich. –

Die Hektik in der Metro war inzwischen fort, die Menschen arbeiteten längst. Es war lediglich eine Bahn, die gleichförmig durch einen langen Tunnel sauste, unaufhörlich, jede Stunde. Das Gewissen von Paris kam nie zur Ruhe.

Man vergaß, dass jemand vorne hinter Schaltern, Knöpfen saß und sie mit Eigengeschick lenkte, der Verantwortung besaß für diese Fahrt und der sie uns ermöglichte. Wir ignorierten diese Fahrer und wir wollten ignorieren, dass sie eines Tages vielleicht nicht mehr nach dem Fahrplan fuhren. Die Untergrundbahn war das Eingeweide, Magen von Paris, das es durchzog, unsichtbar, furchtbar, durchgetaktet, ungeduldig, sie war praktisch und wir konnten selbst entscheiden, wo wir sie verlassen wollten, während unzählige andere aus Schichten und Kulturen sich uns anschlossen, denselben Ausstieg nahmen und ihn längst genommen hatten. Wir wussten auch nicht, dass ständig Bahnen fuhren, selbst wenn wir nicht darin saßen, dass minütlich unser Weg in neue Freiheit und in Abenteuer abfuhr, ohne dass wir ihn benutzten. Die Welt, die wir lebten, drehte sich nach unsren eignen Wünschen und wir waren überrascht, wenn etwas doch ganz anders war, als wir es wollten und wir schlussendlich begriffen, dass nicht alles unsrer Herrschaft unterlag. Kontrolle war erstaunlich endlich, und nichts anderes als Furcht und Vorurteile sorgten dafür, dass wir sie beidhändig packten.

Sie trug uns sehr weit, die Metro, in Paris, doch weiter nicht. Kein andres Ziel erschien der Stadt erstrebenswert.

Ich wollte sie gerne entdecken, diese Metro, die mich kannte und die wusste, wo das Ziel lag, das ich suchte, die mir Löcher in der Mauer um Paris aufzeigen konnte. –

„Hier ist es, vermute ich“, äußerte Bradford.

Man sah nichts; man traute lediglich den Schildern.

Unweit des berühmten Eiffelturms lag in der Seine ein Eiland, lang gestreckt und künstlich aufgeschüttet, wie ein schmaler Strich, auf dem es nur eine Allee gab, von der aus man die grau-weißen Häuser links und rechts des Flusses sehen konnte. Das Blattwerk der Bäume war bereits verfärbt, sodass es schien, als sei die Insel eine leuchtende Sternschnuppe inmitten des dunklen Wassers, mindestens aber ein Landstrich voller Ruhe in der Stadt.

„Es gibt beschaulichere Plätze“, meinte Bradford, wir spazierten unter gelbem Blätterdach. „Und doch empfinde ich die Insel stets als magisch, es ist merkwürdig, auf diesem Weg zu gehen, der so hingepinselt wirkt in dieses Wasser, fast absurd, mitten im Nichts. Man glaubt, man könne jeden Augenblick abstürzen, da man sich die Insel lediglich erträumt hat. Doch bin ich noch nie erwacht, der Traum ist endlos. Das gibt Kraft, wenn man verzweifelt. Oft marschiere ich nur dieses kurze Stück, das eine Brücke mit der anderen verbindet, doch es bringt mich Meilen fort. – Auch ich bin wunderlich, Verzeihung!“

Schweigend schritten wir unter dem Baldachin aus nassem Laub, umschauert und zwei kleine Punkte auf dem Fluss.

„Ich finde es bemerkenswert, dass sie nur dem Vergnügen der Pariser dient. Dabei wird uns doch stets vermittelt, dass alleine Fortschritt, Wirtschaftskraft und Leistung Legitimation aussprechen. Alles andere ist letztlich unbrauchbar, das Alte muss dem Neuen weichen, das viel lauter und viel evidenter ist. Die Stille ängstigt.“

„Auch Sie?“

„Ja, auch mich manchmal. Ich fürchte oftmals, dass sie Dinge offenbart, die ich nicht gerne sehen möchte. Dass sie Hoffnung nährt, die letztlich nur enttäuscht, und dass sie meine Wünsche tötet und verurteilt…Und, viel mehr, dass sie nicht wahr ist, dass sie nichts als Stille ist.“

„Und wie empfinden Sie den Lärm?“

„Er ist lebendig und er akzeptiert mich, ganz so, wie ich bin. Im Rausch der Nacht sind alle Zweifel fort, da ist man stark, die Suche nach dem Sinn bedeutet nichts mehr. Wenn ich keine Fragen stelle, kann ich den Konflikt verhindern, mit mir und mit anderen. Es ist die Welt der Schatten und des bitter-süßen Glücksgefühles…“

„Aber ohne jede Zukunft, fürchte ich.“ Ich sah ihn an und spürte in mir die Verzweiflung, die er fühlte. „Sie nehmen das, was man kriegt, habe ich Recht?“

Er zögerte. „So ist Paris, Alternativen gibt es nicht.“

„Sie suchen nicht…“

„Da auch kein anderer es tut! Ich wäre schneller tot, als Sie es glauben mögen, Mademoiselle. Oder im Irrenhaus gelandet, was weiß ich! Konflikt ist unnütz, da vergeblich, falscher Frieden verspricht Ruhe.“

„Ich verstehe. Man läuft gegen eine Wand.“

Er lächelte. „Wenn man so dumm ist, dies zu wagen.“

Vor uns breiteten sich Häuserfluten aus, während davor die kleine Freiheitsstatue einsam und beharrlich ihnen Fackel und Gesicht entgegenreckte.

„Ich erwarte noch den Kampf“, murmelte ich. „Noch suche ich den Weg, der durch die Mauer führt und die Berufung, ihn zu nehmen.“

Bradford lachte über mich. „Daher Ihr Frieden und Ihr positives Weltbild! Sie warten auf eine passende Berufung, meine Liebe, da werden Sie lange warten und bis dahin längst verrückt, frustriert, verzweifelt! Nur solange Sie der Wahrheit nicht begegnen, scheint die Welt Ihnen noch hübsch.“

„Ich werde nicht so bald aufgeben“, sagte ich, „denn kämpfen wird ein andrer für mich und er wird gewinnen, da er bereits gesiegte.“

Aber hatte er nicht Recht? Sollte ich endlich zur Tat schreiten, um Erfolge einzuheimsen? Wovor fürchtete ich mich? – War ich überhaupt denn geeignet, war ich richtig, wie ich war?

„Sonst wäre ich nicht in Paris“, fuhr ich nun fort und stemmte mich gegen die Zweifel. „Es muss einen Sinn geben und ich werde weiter warten, anstatt vorschnell umzukehren.“

„Woher kommen Sie, Bleuenn?“, fragte er leise. „Und warum wollen Sie Krieg?“

Jetzt war ich es, die lachen musste. „Keinen Krieg, wie Sie es denken, wahrlich nicht. Ich werde ihn mit keinen herkömmlichen Waffen bestreiten. Ganz anderes verleiht uns Kraft, und da ich denjenigen kenne, der über dem Bösen steht, vertraue ich darauf, dass er mir Anteil gibt an seinen Waffen, ja, er selbst soll in mir kämpfen!“

Bradford schüttelte den Kopf. „Ich dachte keinesfalls an Kampf, als ich herkam. Ich dachte eher an Befriedigung und Glück, an das, wonach ich mich schon immer gesehnt habe. Alles schien Paris mir schmeichelnd hinzureichen und es winkt damit noch immer, jeden Tag. Aber je näher ich ihm komme, desto ferner scheint es mir und desto leerer. Wenn man dieses akzeptiert, wenn man es aufgibt, seinen irrealen Traum finden zu wollen, löst man wenigstens den inneren Konflikt. Beiweilen fühlt man sich verstanden von den Leuten, die man trifft und versteht selbst, wie sie sich fühlen. Nicht bei Ihnen, Mademoiselle. Nicht in Paris.“

„Mein lieber Bradford“, sagte ich mit leiser Stimme. –

Ein Kind war ich, ja, ein Kind von meinem Gott, während die Menschen in Paris auf eignen Füßen stehen wollten, wie Erwachsene es taten, und nicht wussten, dass sie Kinder werden mussten und auch wollten. Ich befürchtete, dass ich in meiner Seele sehr viel mehr davon verstand, als Bradford von mir glauben mochte, aber wie einen Kampf kämpfen, wenn der Feind sich mir nicht stellte, da er sein Elend schon kannte? –

War er Feind? Das war er nicht, er war der Freund, den es zu retten galt vor einem Feind, der feige war und dennoch viel zu mächtig.

Ich bin da, betete ich. Der Kampf kann anfangen.

„Wo wart ihr nur?“, fragte Juliette am Abend.

Ich antwortete: „Wir waren in Paris.“ Bradford blieb still, er sah sie an und nickte kurz. Lance Leprince hob den Blick, sodass er meinen traf.

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