Читать книгу Bis zum letzten Atemzug - Katica Fischer - Страница 9
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ОглавлениеSobald Luisas Wecker rappelte, sprang sie aus dem Bett, um sich nach einem kurzen Frühstück ihren täglichen Pflichten zu widmen. Von klein auf zur peniblen Ordnung und Sauberkeit erzogen, brachte sie nun die kleine Dreizimmerwohnung fast täglich auf Hochglanz, damit es die Mutter nicht tun musste, wenn sie von der Arbeit kam. Allein das Zimmer ihres Bruders sah trotzdem immer so aus, als hause darin ein Höhlenmensch, der weder die Funktion von Schränken noch die Notwendigkeit des Wäsche-Sortierens kannte. Also machte sie nun schon zum x-ten Mal daran, das Chaos zu beseitigen.
Bereits getragene und noch saubere Kleidung voneinander trennend, um sie entsprechend behandeln zu können, schüttelte sie gleichzeitig den Kopf über die Schulsachen, die kreuz und quer über dem Bett und dem Schreibtisch des Jungen verteilt lagen. Dabei konnte er auch anders, stellte sie bei Anblick der umfangreichen Sammlung seiner Comichefte fest, die fein säuberlich in Zeitschriften-Boxen einsortiert auf einem Regal stand.
„Ein Tornado könnte nicht schlimmer wüten“, grollte sie, während sie die sauberen Kleidungsstücke zusammen faltete, mit der Absicht, sie später in den Kleiderschrank legen zu wollen. Als sie jedoch ein paar Minuten später die Türen des Möbelstückes öffnete, blieb sie wie vom Blitz getroffen stehen und starrte für einen Moment völlig fassungslos auf den Inhalt. Allerdings bekam sie nicht genügend Zeit, alle Einzelheiten zu erkennen, weil man sie unverhofft von der Seite her attackierte und durch einen rücksichtslosen Knuff vom Schrank wegschubste.
„Seit wann spionierst du in meinen Sachen herum?“ Die Stimme des Dreizehnjährigen kippte vor Aufregung. „Es geht dich gar nichts an, was ich hier drin hab’! Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram!“ Die Türen des Möbelstückes mit einem lauten Knall schließend, drückte er sich gleich darauf mit dem Rücken dagegen, um so zusätzlich deutlich zu machen, dass er keine weitere Einsicht erlauben wollte. „Was willst du überhaupt in meinem Zimmer, hä? Wohl noch nie was von Privatsphäre geh …“ Weiter kam er nicht, weil ihm in diesem Moment der Handrücken seiner Schwester schmerzhaft auf den Mund klatschte.
Luisa hatte nicht mitbekommen, wann genau der Bruder ins Zimmer gekommen war. Doch sein eindeutig schuldbewusstes Verhalten und seine unverschämte Redeweise hatten sogleich einen Verdacht geweckt, der so ungeheuerlich war, dass es ihr für einen Atemzug lang die Sprache verschlug. Und so packte sie ihn nach dem Schlag am Frontteil seines T-Shirts, um ihn ein wenig näher zu sich heranzuziehen, damit sie ihm in die Augen schauen konnte.
„Du verdammtes kleines Aas“, zischte sie böse. „Wo hast du die Sachen her?“ Weil er nicht gleich antwortete, setzte sie zornig nach: „Aus welchem Laden hast du sie?“ Sie schüttelte ihn einmal mehr, um ihn dann angewidert von sich zu stoßen. Dabei war es ihr völlig egal, dass er haltlos zurücktaumelte und am Ende sehr unsanft gegen seinen Schreibtisch knallte. Gleich darauf baute sie sich breitbeinig vor ihm auf, um ihn aus zusammengekniffenen Augenlidern anzusehen. „Du bist ein nichtsnutziger kleiner Tagedieb, genau wie dein Vater!“ Außer sich vor Wut, musste sie nun auch noch gegen die Tränen der Enttäuschung ankämpfen, die ihr in den Augen brannten. „Ihr nehmt euch einfach alles, was ihr haben wollt, ohne dafür zu bezahlen!“ Sie schluckte hart. „Was glaubst du, wird Mama dazu sagen? Vaters Schandtaten sind wohl nicht genug? Jetzt zerrst du uns auch noch in den Dreck! Du … Sind dir Spiele wirklich wichtiger als unser Ansehen?“
Dem anklagenden Blick der Schwester tunlichst ausweichend, was gar nicht so leicht war, wo sie doch fast ihre Nase an die seine drückte, stand Tim mit hängenden Armen da und ließ ihre Vorwürfe einfach über sich ergehen. Als ihm jedoch klar wurde, was genau sie ihm da unterstellte, straffte sich seine schmächtige Statur.
„Ich hab’ die Sachen nicht geklaut“, stieß er trotzig hervor.
„Versuch bloß nicht, dich mit irgendeiner Lüge herauswinden zu wollen“, herrschte sie ihn aufgebracht an. „Das Zeug ist garantiert nicht durch übernatürliche Kräfte in deinen Schrank geschafft worden! Also? Wo hast du’s her?“
„Ich hab’s nicht geklaut!“ Er war weder ein Lügner, noch war er ein Dieb! Aber um das zu beweisen, musste er jetzt endlich die Karten auf den Tisch legen, gestand er sich ein. „Eddy hat mir die Spiele geschenkt, weil er sie selbst nicht mehr braucht! Ist das denn so schlimm?“
„Wer ist Eddy?“, wollte sie sogleich wissen.
„Er ist mein Freund.“ Der erste Schock, angesichts der schwesterlichen Unterstellung, war mittlerweile überwunden. Dafür lebte nun so etwas wie Stolz in ihm auf, weil er endlich eine erfreuliche Nachricht zu verkünden hatte. „Er ist schon erwachsen, weißt du. Aber er ist trotzdem mein Freund.“
Bei dem Wort „erwachsen“ meinte Luisa, jemand würde ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Dass der Bruder bezüglich der Spielkonsole und dem Zubehör die Wahrheit sagte, glaubte sie ihm, denn er hatte sie bisher noch nie bewusst belogen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber der Verdacht, der nun in ihrem Kopf kreiste, ließ eine angstvolle Gänsehaut an ihrem Rücken hinauf kriechen.
„Und er fährt einen super schicken Sportwagen“, plapperte Tim unterdessen weiter. „Er hat mich ein paar Mal von der Schule abgeholt und heimgefahren. Aber das braucht er jetzt nicht mehr. Ich hab’ nämlich ein Rennrad von ihm bekommen. Mit dem bin in fünf Minuten zu Hause. Ich hab’ nur bisher nichts gesagt, weil du ihn erst kennenlernen solltest, bevor ich von den Sachen anfange. Eddy ist schwer in Ordnung. Wirklich! Ist ’n ganz cooler Typ.“
Luisa hörte sich das alles schweigend an, nicht wissend, was sie sagen sollte. Sie war beileibe nicht weltfremd, denn dafür hatte sie schon zu viel gesehen und erlebt. Sie war auch nicht voreingenommen, wenn es um Sexualität ging, weil ihrer Meinung nach jeder selbst entscheiden musste, was ihn glücklich machte. Dass sich aber ein erwachsener Mann an ein Kind heranmachte und dieses mit Geschenken gefügig machen wollte, fand sie ganz und gar nicht in Ordnung! Allerdings verzichtete sie in diesem Augenblick darauf, ihre Gedanken laut auszusprechen oder gar klar definierte Beschuldigungen gegen den Mann zu äußern, wohl wissend, dass sie damit bloß den Trotz des Jungen und schlimmstenfalls genau das Gegenteil von dem erreichen würde, was sie eigentlich wollte.
„Was hat er dafür verlangt?“, fragte sie stattdessen mit belegter Stimme, krampfhaft darum bemüht, sich so zu geben, als hätte sie nicht gerade eine furchtbare Entdeckung gemacht.
„Gar nichts!“ Tim war ehrlich empört, weil man an der Selbstlosigkeit seines Freundes zweifelte. Als ihm jedoch die Frage in ihrer gesamten Tragweite verständlich wurde, starrte er die Schwester für einen Augenblick lang vollkommen ungläubig an. „Das … Ich … Du glaubst doch nicht …“, stammelte er schließlich völlig fassungslos. „Das kannst du nicht … Also das ist …“ Momentan nicht fähig, die richtigen Worte zu finden, um seine Empörung auszudrücken, ging er im nächsten auf sie los. Seine Fäuste trafen ihre Oberarme und ihren Bauch, bevor seine Hände auf ihre Wange und den Kopf klatschten. „Du bist widerlich!“, schrie er sie dabei an. „Wie kannst du nur so was denken? Er ist mein Freund! Verstehst du? Mein Freund! Ohne Hintergedanken oder Bedingungen! Er schenkt mir Sachen, weil er mich mag! Aber nicht so, wie du denkst!“
Luisa hatte Mühe, den aufgebrachten Jungen abzuwehren. Dann, endlich, bekam sie seine Hände zu fassen. Gleich darauf schleuderte sie ihn anhand einer geübten Bewegung herum, sodass er anschließend mit dem Rücken zu ihr zum Stehen kam. Und bevor er erkennen konnte, was sie vorhatte, unterband sie durch eine unnachgiebige Umklammerung jeden weiteren Angriff seinerseits.
Tim indes wollte sich partout nicht festhalten lassen und wehrte sich aus Leibeskräften.
„Ich finde es gemein von dir“, keuchte er dabei, „dass du so was überhaupt denken kannst. Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ein Junge und ein Mann befreundet sein können, ohne dass da sonst was läuft?“ Endlich hatte er sich befreit und stand der Schwester nun vor Zorn bebend gegenüber.
„Weil die Umstände in diesem Fall sehr verdächtig sind.“ Sie atmete ein paar Mal tief durch, um so ihre innere Ruhe wiederzuerlangen. „In der heutigen Zeit verschenkt niemand etwas ohne einen Hintergedanken.“ Sich selbst zur Geduld und einer gemäßigten Wortwahl ermahnend, packte sie den Arm des Bruders und dirigierte ihn zu seinem Bett, um ihn dort mit einer unmissverständlichen Geste niederzudrücken. „Also“, begann sie ernst. „Was ist der wirkliche Grund? Wenn du mir nicht alles erzählst, muss ich wirklich denken, die Geschenke deines Freundes sollen einem bestimmten Zweck dienen.“
„Eddy ist kein Kinderf …“ Tim beendete das Wort bewusst nicht, weil er plötzlich das Gefühl hatte, das laute Aussprechen der obszönen Benennung würde die Unterstellung der Schwester nur noch bestärken. „Er ist sauber“, stellte er wütend fest, indem er ihre Hand abschüttelte. „Er hat mir bisher nur geholfen, verstehst du! Und das will er auch weiterhin machen. Er hat mir nämlich einen Job versprochen. Dafür bekomme ich sogar einen Lohn. Dann kann ich euch endlich helfen!“ Er schluckte sichtlich. „Glaub nur nicht, dass ich nicht weiß, was hier abgeht“, fuhr er ein wenig ruhiger fort. „Ich bin ja kein kleines Kind mehr. Ich seh’ doch, wie ihr euch abschuftet, und dass dabei kaum was übrig bleibt. Ich will doch nur helfen, damit ihr nicht alles allein machen müsst. Ich will auch einen Teil tun, damit Mama ein bisschen zur Ruhe kommt. Ich hör’ sie ja jede Nacht weinen, wenn du auf der Arbeit bist. Aber so kann es doch nicht weitergehen!“ Obwohl er sonst peinlichst darauf achtete, ja kein zärtliches Gefühl für sie zu zeigen, zog er die Schwester nun doch zu sich herunter und schlang die Arme um sie. „Ich hab’ doch nur euch“, wisperte er. „Wenn Mama was passiert, würde ich mir immer Vorwürfe machen, weil ich nichts unternommen hab, obwohl ich die Möglichkeit gehabt hätte. Und mit dir ist es genauso.“
Ohne die Umarmung des Bruders zu erwidern – hätte sie es getan, er wäre sicherlich sofort wieder von ihr abgerückt! – saß Luisa eine geraume Weile einfach nur da. Sie wusste, es hatte ihn sehr viel Überwindung gekostet, so offen über seine Gefühle und Ängste zu sprechen. Sie wusste auch, dass sie ungemein vorsichtig vorgehen musste, wollte sie noch mehr über die Hintergründe dieser ungewöhnlichen Freundschaft erfahren.
„Was soll denn das für ein Job sein?“, fragte sie endlich.
„Ich soll als Kurier arbeiten“, antwortete Tim bereitwillig, indem er sie losließ, um sich gerade hinsetzen zu können. „Deshalb auch das Rennrad, das im Keller steht. In der Kunsthandlung, wo Eddy arbeitet, fällt nämlich unheimlich viel Papierkram an. Also hat er mich gefragt, ob ich nicht ab und zu für ihn durch die Stadt düsen würde. Ist wirklich keine schwere Arbeit“, versicherte er, als er ihren skeptischen Blick auffing. „Schaff’ ich mit links. Außerdem werde ich durch das Radfahren richtig fit! Merk ich jetzt schon. Dabei hab’ ich ’s erst vorige Woche bekommen. Macht richtig Spaß.“ Und wenn er so weitermachte, bekam er bestimmt auch mehr körperliche Kraft! Dann konnte er sich allein gegen Tobi und dessen Gang wehren!
„Und der Lohn?“, fragte Luisa scheinbar interessiert.
„Ein Zehner pro Auftrag“, erklärte er. „Ist doch gut, nicht!“
„Und wieso schickt er seine Sachen nicht mit der Post?“, wollte sie wissen.
„Na, weil die zu langsam ist“, reagierte Tim unwirsch. „Sind meist eilige Terminsachen, die noch am selben Tag beim Empfänger ankommen sollen!“
Luisa nickte bloß, wobei sie gleichzeitig aufstand, um ihre ursprüngliche Arbeit wieder aufzunehmen. Möglich, dass die ganze Sache wirklich so harmlos war, wie sie sich anhörte. Und doch … Irgendetwas war da faul! Sie hätte zwar nicht auf Anhieb sagen können, was genau sie störte, aber sie spürte immer noch dieses ungute Gefühl in der Magengegend. … Na ja, jetzt war sie ja vorgewarnt. Sollte sie herausfinden, dass Tim für irgendeine krumme Sache missbraucht wurde, konnte dieser vermeintliche Menschenfreund namens Eddy was erleben!
Weil Tim nur wenig über seinen geheimnisvollen Gönner zu wissen schien – oder einfach nicht über ihn sprechen wollte! –, erkannte Luisa, dass sie selbst recherchieren musste, um mehr Informationen zu bekommen. Zum einen wollte sie genau wissen, mit was für einem Menschen es der Bruder zu tun hatte, damit sie beizeiten eingreifen konnte, falls es sich doch um einen Pädophilen handelte, der mit seinen Geschenken ein bestimmtes Ziel verfolgte. Zum anderen hielt sie es für wichtig, für alle Fälle beweisbare Fakten in der Hand zu haben, damit man sie nicht als Lügnerin bezeichnen konnte, die sich anhand gemeiner Gerüchte wichtigmachen wollte.
„Kennst du einen Eddy Kessler?“ Luisa war extra ein wenig früher gekommen, um ein paar Minuten mit Chris unter vier Augen sprechen zu können.
„Kennen wäre zu viel gesagt“, antwortete der Gefragte mit einem verwunderten Stirnrunzeln. „Ich seh’ ihn jeden Abend hier und hab’ ihn schon ein paar Mal zur Räson bringen müssen. Außerdem hab’ ich mich mal über ihn schlau gemacht, als er mir mit Anwalt und Klage wegen Beleidigung und Körperverletzung gedroht hat. Wieso?“
Damit man ihre Neugierde verstehen konnte, umriss Luisa nun in groben Zügen die Situation zu Hause, was die Miene ihres Freundes immer finsterer werden ließ.
„So ein verfluchter Bastard!“ Der Anzug tragende Muskelmann hatte sichtlich Mühe, Ruhe zu bewahren. „Dass er ein egoistisches Arschloch ist, wusste ich ja schon seit dem ersten Abend, als er hier aufgeschlagen ist und sich wie ein Prinz benommen hat. Aber das ist jetzt wirklich der Gipfel!“
„Du weißt also, wer das ist und wie er aussieht?“, fragte sie.
„Jap“, quetschte Chris böse hervor. „Das ist nämlich kein anderer als Nadjas hartnäckigster Verehrer!“
„Ne! Oder?“ Luisa konnte nicht fassen, dass es sich bei Tims Freund um den gleichen Mann handeln sollte. … Hatte der Kerl sich womöglich aus purer Berechnung an ihren Bruder herangemacht? Wollte er sich jetzt über den Jungen die gewünschten Informationen beschaffen? … Nun, wenn das der Fall sein sollte, dann ließ er sich sehr viel Zeit mit der Ausführung seines Planes. Ihr Bruder kannte Eddy jetzt schon eine geraume Weile, hatte aber noch nicht ein einziges Mal nach Nadja gefragt. Zumindest war von Tims Seite aus nie so etwas laut geworden. … Nein, Geduld war mit Sicherheit keine von Eddys Stärken! Es sah vielmehr danach aus, als hätte er Tim tatsächlich nur per Zufall kennengelernt und wollte gar nichts über die Familie seines jugendlichen Freundes wissen, weil ihm diese egal war. Und das bedeutete, dass der Junge für irgendetwas anderes benutzt werden sollte!
„Leider ja“, bekräftigte Chris unterdessen. „Edzard Kessler Junior ist der einzige Spross eines allseits geachteten, aber schon sehr früh verwitweten Kunsthändlers und politisch aktiven Bürgers. Außerdem heißt es, er habe nicht nur eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz, sondern auch Kohle zum Fressen. Na ja, sein Vater verdient nicht schlecht. Und seine Mutter stammte auch aus reichem Haus. …“
Dann waren seine Geschäfte also nur Zeitvertreib, schoss es Luisa durch den Sinn. Die Frage war bloß, womit genau er sich befasste. Nun, allein der Gedanke an ihn ließ ihre Fingerspitzen kribbeln. Ach, wie gerne hätte sie ihn ihre Nägel spüren lassen.
„… Er taucht wohl ab und an mal in der Galerie seines Vaters auf und tut so, als würde er dort arbeiten“, erzählte Chris unterdessen weiter. „Aber anstrengen muss er sich da bestimmt nicht. Wenn du’s genau wissen willst, musst du Tim fragen. Vielleicht weiß er mehr.“
„Das möchte ich bezweifeln“, winkte sie ab. „In den Augen meines Bruders ist der Kerl ein Held ohne Furcht und Tadel. Schon deshalb käme er nie auf die Idee, Eddy könnte Dreck am Stecken haben. Aber ich kann’s ja mal versuchen.“
Am Nachmittag des folgenden Tages bereitete Luisa einen süßen Nudelauflauf zu, wohl wissend, dass dieser von Tim nicht verschmäht werden würde. Als er schließlich so satt war, dass er keinen Bissen mehr herunterbekam, beschloss sie, dass die Gelegenheit nun günstig sei, um ihn ein wenig auszuhorchen.
„Was hast du denn heute so gemacht?“, fragte sie, indem sie das gebrauchte Geschirr zur Spüle trug, wo es später abgewaschen werden sollte.
„Ich hab’ einen Job für Eddy erledigt“, antwortete der Junge bereitwillig. „Guck mal!“ Er wedelte mit einem Geldschein vor ihrer Nase herum. „Hab’ ich heute verdient“, verkündete er stolz. „Musste dafür aber durch die halbe Stadt fahren, um das Päckchen abzuliefern.“
Luisa griff eher reflexartig als bewusst nach der Banknote und sog gleich darauf hörbar den Atem ein.
„So viel?“, fragte sie fassungslos. „Was hast du denn weggebracht?“
„Denkst du denn, ich guck in die Päckchen rein?“, reagierte er mit einer empörten Gegenfrage. „Geht mich doch gar nichts an! Außerdem ist es doch ganz egal, was darin war. Wichtig ist doch nur, dass es rechtzeitig am Ziel angekommen ist.“
Mit der Diskretion mochte er recht haben, stellte sie daraufhin fest. Dennoch hätte ihm klar sein müssen, dass man nicht mit einem Fünfziger entlohnt wurde, nur weil man sich als Bote betätigt hatte. Ja, da war irgendetwas verdammt faul! Aber das konnte sie dem Bruder schlecht begreiflich machen. Nein, ohne Beweise durfte nichts gegen Eddy vorgebracht werden, denn das würde bloß dazu führen, dass er hinterher auch noch mit dem Glorienschein eines Engels geschmückt wurde, den man aus reiner Boshaftigkeit verunglimpfte!
„Hier, nimm“, unterbrach Tim die Überlegungen der Schwester.
„Nein“, lehnte sie entschieden ab. „Es ist dein Geld.“ Allein das Wissen, dass der Euroschein in Eddys Hand gewesen war, erfüllte sie mit Widerwillen.
„Sei doch nicht so blöd!“, fuhr Tim auf. „Ich hab’ doch gesagt, dass ich euch helfen will. Und jetzt ist es endlich so weit. Eddy sagt, ich kann dreimal die Woche für sein Geschäft arbeiten. Also wird da ein stolzes Sümmchen zusammen kommen. Und weil ich schon alles hab, was ich brauche, tun wir das Geld in die Dose für die Bank. Was anderes kommt gar nicht infrage.“
Luisa gab sich scheinbar geschlagen, denn sie wollte dem Bruder die Genugtuung nicht nehmen, auch einen Beitrag geleistet zu haben, damit die Schulden der Familie weniger wurden. Also nahm sie den Fünfziger mit spitzen Fingern entgegen und deponierte ihn anschließend in der erwähnten Dose, die stets im hintersten Winkel des Küchenschrankes stand. Doch sollte das Geld keineswegs zur Schuldentilgung verwendet werden. Vielmehr wollte sie es auf das Sparbuch des Bruders einzahlen, von dem er erst am Tag seines Schulabschlusses erfahren sollte.
Sie war mit dem Abwasch fast fertig, da hielt Luisa mitten in der Bewegung inne. Musste sie die Mutter nicht einweihen? Sicherlich hatte diese ein Recht darauf, von den Vorgängen zu wissen. Andererseits. Sie würde sich wahrscheinlich nur noch mehr Sorgen um den Sohn machen und dann noch härter arbeiten, damit der Junge diesen Job aufgab. … Nein, sie würde nichts sagen, entschied Luisa nach reiflicher Überlegung. Zumindest so lange nicht, bis sie genau wusste, was zwischen Tim und Eddy ablief.
Sobald ihr Bruder aufbrach, um eine weitere Runde mit seinem Rennrad zu machen, durchsuchte Luisa sein Zimmer. Ein schlechtes Gewissen hatte sie dabei nicht, denn sie tat es ja aus reiner Sorge um ihn. Als sie dann tatsächlich einen kleinen Karton in seinem Schrank entdeckte, der weder Adresse noch Absender aufwies, dafür aber mit einer seltsamen Markierung versehen war, wusste sie nicht gleich, wie sie ihren Fund einordnen sollte. Das durchsichtige Klebeband betrachtend, mit welchem das Behältnis verschlossen war, überlegte sie einen Augenblick. Dann ging sie kurz entschlossen in die Küche, um sich zu vergewissern, dass dort identisches Klebeband vorhanden war. Erst danach öffnete sie vorsichtig das Päckchen, um neugierig hineinzuschauen.
„Bingo.“ Da waren mehrere kleine Beutel mit verschiedenfarbigen Pillen, aber keine, die Pulver enthalten hätten. Doch das musste nichts heißen. Das hier war nur eine Sendung, die Tim noch nicht weggebracht hatte. Wer wusste denn, ob die bereits ausgelieferten Kartons nicht einen anderen Inhalt gehabt hatten? Selbst wenn da auch nur Tabletten drin gewesen waren, war die ganze Sache kriminell. … Nun, jetzt wusste sie, womit sich Eddy sein Taschengeld aufbesserte. Aber helfen tat ihr das momentan herzlich wenig. Sie konnte ja noch nicht einmal beweisen, dass die Tabletten, die von den Konsumenten allgemein nur als Glücksbonbons bezeichnet wurden, tatsächlich rezeptpflichtige oder verbotene Substanzen enthielten, denn dafür hätte sie sie in einem Labor untersuchen lassen müssen. Und das ging gar nicht. Zum einen wären dafür Proben erforderlich, die sie sich aber nicht so einfach herausnehmen konnte, weil das bestimmt gleich auffallen würde, sobald der Käufer seine abgezählte Ware erhielt. Zum anderen müsste sie bestimmt nicht nur den Test bezahlen, sondern auch den Labor-Leuten erklären, woher sie die Pillen hatte. Das wiederum würde die Polizei auf den Plan rufen, was dann auch für Tim gefährlich werden könnte. Er wäre nicht der Erste, an dem man ein Exempel statuierte, um den anderen Kurieren vor Augen zu führen, was ihnen blühte, wenn sie nicht das taten, was von ihnen verlangt wurde. Und die Polizei … Die würde ihr auch nicht glauben, dass sie das Zeug auf der Straße gefunden hatte. … Nein, entschied sie frustriert. Momentan waren ihr einfach die Hände gebunden. Sie würde den Karton wieder so verschließen, dass ihre Schnüffelei nicht bemerkt werden konnte. Danach sollte er in seinem ursprünglichen Versteck darauf warten, von Tim weggebracht zu werden. Vielleicht ergab sich ja später eine Möglichkeit, irgendetwas zu tun.