Читать книгу Two Moments - Katie Weber - Страница 15
Ivory
ОглавлениеEs war ein Kinderspiel, Oakley die Schlüssel zu seinem Pick-up abzunehmen und ihn damit nach Hause zu fahren, so betrunken und neben der Spur wie er gestern Abend war. Zwar hatte er es auch in diesem Zustand noch geschafft, mich mit seinem Gerede über Violet und darüber, wie er sie offenbar sah und einschätzte, meine Nerven zu strapazieren. Doch ich gab mir redlich Mühe, mich zusammenzureißen und mir nichts anmerken zu lassen. Vor allem nichts davon, dass es mich äußerst irritierte, wie er über seine kleine Schwester sprach. Als wäre sie schon immer und auch heute noch die kleine Unschuld vom Lande. Als würde sie keiner Fliege etwas zu Leide tun, schon gar keinem Menschen.
Dass er mit seiner Einschätzung von ihr zumindest meiner Meinung nach vollkommen daneben lag, das verschwieg ich ihm natürlich. Genauso wie die Tatsache, dass ich dennoch, ja trotz allem, was zwischen Violet und mir vorgefallen war, Angst um sie hatte und mir Sorgen machte.
Selbstverständlich machte ich mir Gedanken darüber, wo sie wohl sein könnte und ob sie überhaupt noch am Leben war. Selbstverständlich hatte auch ich der Polizei bei ihren Ermittlungen geholfen und hatte nach ihr gesucht, als sie verschwunden war. Selbstverständlich kümmerte es mich, weil sie mir nach wie vor wichtig war. Zumindest gewissermaßen wichtig. Schließlich vergaß man all die schönen Jahre nicht, nur weil die Freundschaft plötzlich vorbei war. Selbstverständlich wünschte ich mir, sie wäre jetzt hier statt ... wo auch immer sie war.
Ich wünschte mir, zwischen uns wäre alles wieder normal und wir könnten dort weitermachen, wo wir vor über einem Jahr aufgehört hatten. Denn Violet und ich hatten schon immer eine sehr enge Bindung zueinander, auch wenn wir so verschieden waren wie Feuer und Wasser – oder vielleicht auch gerade deswegen. Und genau deswegen wollte ich mir weder gestern noch heute Gedanken darüber machen, was mit ihr geschehen sein könnte. Ich wollte nicht mit Oakley darüber reden müssen. Nein, mit ihm am allerwenigsten.
Trotzdem wunderte es mich nicht, dass er jetzt wieder zur Tür des Diners hereinspazierte, als wäre es das Normalste und Natürlichste der Welt. Als hätte es die letzten Jahre in Afghanistan für ihn nie gegeben und als wäre er nie weg gewesen.
Ich wusste, Oakley würde hartnäckig bleiben und mich erneut um Hilfe bitten. Hilfe bei der Suche nach seiner Schwester. Anscheinend hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, das Rätsel, das selbst die örtliche Polizei bis heute nicht hatte aufklären können, zu lösen. Und ich verstand es. Ja, ich bewunderte es sogar ein bisschen. Diese Entschlossenheit in seinem Blick, mit dem er mich jetzt ansah, das feine, aber traurige Lächeln auf seinen Lippen, weil er in mir so etwas wie eine Art Hoffnung sah, die ich jedoch niemals sein würde.
»Du hast nicht zufällig deine Meinung über Nacht geändert, oder, Cinnamon?«
Ich zog überrascht die Luft ein, als ich meinen alten Spitznamen aus seinem Mund hörte. Wieso er mich schon damals immer wieder Cinnamon, also Zimt, genannt hatte, verstand ich bis heute nicht. Und dass er es noch immer – oder schon wieder – tat, bedeutete etwas. Oder aber ich bildete mir nur ein, es würde etwas bedeuten. Etwas, das mein Herz höher schlagen ließ und meine alten Gefühle wieder zum Flattern brachte.
»Du hättest nicht extra herkommen müssen, nur um mir diese Frage zu stellen«, entgegnete ich, so kühl ich nur konnte, um ihm keine weiteren Hoffnungen zu machen. »Ich bin sicher, du kennst die Antwort auch so schon.«
Oakleys Blick verfinsterte sich für einen kurzen Moment, bevor er ein paar Schritte näher kam und sich dicht vor mir zu seiner vollen Größe aufbaute. Wie so oft verfluchte ich die Tatsache, dass er mich einen vollen Kopf überragte, und betete, meine Knie würden nicht wieder weich werden, nicht schon wieder und nicht wie damals, als sie wahrlich zu Wackelpudding mutierten, sobald Oakley in meiner Nähe war.
»Du willst mich ernsthaft bei dieser Sache im Stich lassen, Banks? Ausgerechnet jetzt, wenn es um Violet geht? Sie war deine beste Freundin, verdammt! Keine Ahnung, wie viele Jahre lang. Das kannst du doch nicht mit deinem Gewissen vereinbaren«, presste er ruhig, aber mit hörbarer Spannung hervor, und seine Stimme klang dabei so dunkel und warm, dass sie mir etliche Schauerregen über den Rücken jagte.
Einen winzigen Augenblick dachte ich, er würde mich an den Schultern packen und mich kräftig durchschütteln, damit ich zur Besinnung kam, doch er tat es nicht. Im Grunde tat er absolut gar nichts, außer mich mit einem erwartungsvollen, aber auch verärgerten und fassungslosen Blick anzustarren. Vermutlich, weil er nicht mehr weiterwusste.
Seine Verzweiflung über das plötzliche Verschwinden seiner kleinen Schwester erkannte man in jeder noch so feinen Regung in seinem hübschen Gesicht. An den tiefen, von einer schweren Last zeugenden Falten auf seiner Stirn wie auch an der leicht gekräuselten Nase und den zu zwei Schlitzen zusammengepressten, sonst so wundervoll geschwungenen Lippen.
Oakley sah verändert aus. Anders als der Junge von damals, der unbeschwert und sorgenfrei schien. Zumindest hatte er auf mich immer diesen Eindruck gemacht. Ob es wirklich so war, wusste ich nicht. Denn Oakley und ich hatten nie wirklich ernsthaft oder tiefgründig miteinander gesprochen. Jedenfalls nicht über uns selbst oder so.
»Meinem Gewissen geht es gut, vielen Dank der Nachfrage«, sagte ich mit einem Schwung Sarkasmus, den er früher zumindest ganz gerne mochte. »Trotzdem kann und werde ich dir bei der Suche nach deiner Schwester nicht helfen können. Ich habe weder die nötige Zeit dazu noch das Interesse daran, um ehrlich zu sein«, log ich, ohne rot zu werden. Etwas, das ich damals noch nicht konnte und erst im Laufe der letzten Jahre bitter erlernen musste. Es stimmte durchaus, dass ich keine Zeit dazu hatte, ihm bei der Suche nach Violet zu helfen. Doch die Sache mit dem Desinteresse ...
»Ich glaube dir kein Wort, Ivory Banks«, erwiderte Oakley plötzlich voller Überzeugung. Sein Blick bohrte sich tief in mich hinein, als würde er versuchen, meiner Lüge auf die Spur zu kommen und sie zu entlarven. »Mag sein, dass du wenig Zeit hast ...« Er sah sich einen kurzen Moment in dem recht gut besuchten Diner um, bevor sein Blick mich erneut aufspießte und mein Herz zum Hämmern brachte. »Trotzdem bin ich sicher, dass dir Violet nicht egal ist und dass auch du unbedingt herausfinden möchtest, wo sie ist oder was mit ihr geschehen ist.«
Oakley besaß eine bemerkenswerte Menschenkenntnis – und das schon immer. Darum beneidete ich ihn manchmal. Nur ... ausgerechnet bei seiner eigenen Schwester versagte sie offenbar. Und ich würde ganz sicher nicht die Person sein, die ihn darüber aufklärte. Hinterher würde er mich noch dafür hassen oder sich wünschen, mir nie begegnet zu sein. Und das würde mich nicht nur zutiefst treffen und verletzen. Es würde mein Herz entzweien. Schon wieder.
»Tut mir leid, Oak. Ich fürchte, du täuschst dich in mir«, sagte ich hart schluckend und hoffte, er enttarnte nicht auch noch diese Lüge. Bevor er es überhaupt versuchen konnte, drehte ich mich von ihm weg und widmete mich dem alten Jerry – einem grimmigen seltsamen Kauz, der gefühlt seit einem Jahrhundert tagtäglich in Tammys Diner war, um hier zu Mittag zu essen, und später noch einmal, um sein Feierabendbierchen zu trinken. Ich mochte ihn trotz seiner komischen Art. Denn anders als die meisten älteren Männer, die herkamen, um zu trinken, gab er mir jedes Mal ein ehrenwertes Trinkgeld. Und er beschwerte sich nie, wenn ich für seine Verhältnisse einmal zu langsam oder zu ungeschickt war.
»Und ich fürchte, du wirst mich so lange nicht mehr los, bis ...«
»Lass das arme Mädchen in Ruhe, Junge. Du siehst doch, dass sie kein Interesse hat«, fuhr Jerry plötzlich dazwischen, als Oakley mir gefolgt war und sich erneut dicht vor mir aufbauen wollte.
Der alte Kauz starrte Violets Bruder finster und warnend an und entlockte mir damit unfreiwillig ein überraschtes und berührtes Lächeln. Wer hätte gedacht, dass mich ausgerecht er einmal vor Oakley beschützen müsste? Nun ja ... musste er im Grunde zwar nicht, aber ich war ihm dennoch dankbar dafür, dass er zumindest Abstand zwischen Oak und mich brachte.
Verdutzt und mit leicht aufgerissenen Augen starrte Oakley zurück und wusste nicht, was er sagen sollte. Jerry hatte ihn schlicht überrumpelt und sprachlos gemacht. All seine Gedanken schienen verflogen, all die Verzweiflung und auch die Wut über meine Weigerung, ihm helfen zu wollen. Für einen winzigen Moment sah Oakley tatsächlich aus wie der Junge von damals. Der Junge, in den ich mich schon mit zwölf Jahren, also beinahe noch als Kind, unsterblich verliebt hatte.
»Ich ... Ich wollte gar nicht ...« Er setze, noch sichtlich irritiert, an, um sich vor Jerry zu rechtfertigen, doch dieser schnitt ihm wieder das Wort ab.
»Ganz egal, was du wolltest oder nicht«, raunzte der alte Mann grimmig, bevor sein Blick auf die Kette fiel, die um Oakleys Hals an seiner Brust baumelte. Vermutlich seine Erkennungsmarke der US-Army. »Wir bedrängen keine wehrlosen Mädchen. So wurde uns das nicht beigebracht. Wenn sie also ablehnt, ganz egal, um was es geht, hast du das zu respektieren.« Sein Blick war streng auf Oakley gerichtet. »Hast du das verstanden, Kadett?«
Oakley stand auf der Stelle stramm und nickte gehorsam. »Verstanden, Colonel.«
Mir klappte unweigerlich der Mund auf, als er plötzlich auch noch vor dem alten Mann salutierte, als wäre es ein Befehl. Vermutlich war es das sogar und ich hatte nur keine Ahnung davon. Ich hatte mich nie zuvor mit der Armee, dem Militär und schon gar nicht mit irgendwelchen Kriegen befasst, die nicht unser Land betrafen. Doch seitdem Oakley der US-Army beigetreten war, hatte ich mich im Internet zumindest ein wenig darüber informiert. Nur um eine grobe Vorstellung davon zu haben, was ihn dort erwartete oder was von ihm abverlangt wurde. Und das war offensichtlich mehr, als ich bisher geglaubt hatte. Augenscheinlich mehr.
Jerry drehte sich zu mir um und erlöste mich aus meiner kleinen Schockstarre, indem er plötzlich unvermittelt zu lächeln begann. Großer Gott, ich hatte diesen Mann hier schon so oft gesehen, doch niemals lächelnd! »Würdest du mir bitte noch einen Kaffee bringen, Kleines?«, fragte er mich – und das Kleines klang aus seinem Mund vollkommen anders, als wenn es die anderen Männer hier benutzten. Es hatte keinen negativen oder gar anzüglichen Unterton und mir schien eher, als würde er selbst mit seinen Enkeln so reden – liebevoll und sanft.
Noch etwas verwundert darüber, dass mir diese Seite des meist grimmigen Mannes bisher verborgen geblieben war, nickte ich stumm und verschwand hinter die Theke, wo die große Kaffeemaschine stand, die mindestens genauso alt sein musste wie Jerry. Ich befüllte seine Tasse noch einmal randvoll mit dem frisch durchgelaufenen Kaffee und brachte sie ihm zurück an den Tisch, an dem noch immer Oakley stand, reglos und anscheinend darauf wartend, abtreten zu dürfen oder zumindest einen weiteren Befehl zu erhalten.
Jerry schenkte mir noch einmal ein sanftes Lächeln, bevor er wieder zu Oak sah und ihn von oben bis unten nachdenklich musterte. »Du bist erst seit Kurzem zurück, nicht wahr, Junge?«
Oakley nickte hart schluckend. »Seit ein paar Tagen.«
»Irak?«, fragte Jerry tief seufzend.
»Afghanistan.« Oakley fing für einen kurzen Moment meinen Blick auf und wunderte sich anscheinend, dass ich noch immer bei ihnen stand, statt abzuhauen und ihm aus dem Weg zu gehen, so wie es gerade noch vorgehabt hatte.
»Du bist noch sehr jung«, stellte Jerry noch einmal schwer seufzend fest. »Ich nehme an, du wurdest vorzeitig nach Hause geschickt?«
»Verwundet«, sagte Oakley mit Verbitterung in der Stimme. »Bei einem Einsatz vor einigen Wochen.«
Mein Herz setzte augenblicklich ein paar Schläge aus und ich schnappte erschrocken nach Luft. Er war also doch verwundet? Wieso hatte er nichts gesagt, als er hier gestern aufgetaucht war? Selbst dann nicht, als er betrunken mit mir in seinem Wagen gesessen und mir permanent etwas aus der Vergangenheit erzählt hatte – irgendwelche Anekdoten von sich und seiner Schwester, an die er sich erinnerte. Doch er hatte nicht auch nur ein einziges Wort darüber verloren, weshalb er wieder zurück war. Und schon gar nichts darüber, dass er bei einem Einsatz in Afghanistan verletzt oder verwundet wurde. Anscheinend so sehr, dass sie ihn aus der Army entlassen hatten.
Betroffen starrte ich ihn stumm an, während der alte Jerry unerwartet den Stuhl vorzog, der an seinem Tisch ihm gegenüberstand, und Oakley den Platz anbot. Erst jetzt bemerkte ich, dass er zitterte. Nur ganz leicht und doch kaum zu übersehen. Dieser Anblick zerriss mir das Herz. Und es gab nichts, absolut nichts auf dieser Welt, das ich Oakley in diesem Augenblick ausgeschlagen hätte.