Читать книгу Tlingit Moon - Katja Etzkorn - Страница 11
Eiszeit
ОглавлениеFrüh am Morgen, als Joe gerade verschlafen aus der Dusche tappte, nutzte Trisha die Gunst der Stunde, um ihre Zimmergenossin vorzuwarnen.
„Nur damit du Bescheid weißt: Gestern Abend hat die halbe Station Wetten darüber abgeschlossen, ob Gooch dich ins Bett kriegt oder nicht.“
Joe war schlagartig wach, allerdings marschierte ihre Laune ebenso schlagartig ins unterste Kellergeschoss und weigerte sich empört, aus der staubigen Ecke zu kommen.
„Du etwa auch?“, fragte sie Trisha erbost.
„Ich habe dagegen gewettet!“, verteidigte sich Trisha.
Joe zeigte sich ein wenig versöhnt. „Wie kommen die überhaupt auf so blöde Ideen? Wir haben nur getanzt!“
„Das hat nichts mit dir zu tun. Gooch hat einen gewissen Ruf, und du stehst offensichtlich ganz oben auf seiner Abschussliste“, erklärte Trisha.
„Großartig! Das bedeutet, dass ich mir diesen Mist das ganze Jahr über anhören kann! Wer hat mit der Wette angefangen?“
„Marc.“
„Der hat es gerade nötig! Marc hat sich gestern Abend als Erster mit seinem Flirt im Schlepptau verdrückt!“, erinnerte sich Joe aufgebracht.
„Beatrice?“, fragte Trisha erstaunt. „Das hätte ich nicht von ihr gedacht.“
„Ich brauche jetzt einen fünffachen Espresso mit extra Valium und Whiskey“, maulte Joe und hatte Schwierigkeiten zu entscheiden, wen sie zuerst auf den Mond schießen würde – Marc oder Gooch. Wenig später saß sie im kleinen Speisesaal der Station, trank ihren Kaffee und bedachte Marc mit giftigen Blicken, als Gooch in der Tür erschien und sie anstrahlte.
„Bist du fertig?“, fragte er ahnungslos.
Einige Leute grinsten sie blöd an.
„Ihr habt doch alle die Tabletten-Ausgabe geschwänzt!“, stellte sie deutlich hörbar fest und knallte ihre Tasse auf den Tisch. Dann rauschte sie an Gooch vorbei und ging nach draußen.
Er sah ihr verwirrt hinterher.
„Sie ist auf Blut aus“, warnte Trisha ihn unheilvoll.
Gooch runzelte die Stirn und folgte Joe. Er machte mangelndes Koffein für ihre Laune verantwortlich.
Keet begrüßte Joe freudig und hob kurzfristig ihre Stimmung. „Welches Auto?“, fragte sie knapp, als Gooch aus dem Gebäude kam.
Er ließ sich von ihrer Laune nicht beirren und strahlte sie an. „Keins. Wir laufen.“
Schlimmer konnte der Tag für Joe kaum noch werden. „Laufen?“, fragte sie entgeistert.
„Ich bin acht Meilen von Gustavus hierher gelaufen – da wirst du ja wohl das kleine Stück bis zum Anleger schaffen“, entgegnete er.
Sie hatte keine Lust, mit ihm zu diskutieren, und trabte wortlos an ihm vorbei. „Warum bist du nicht mit Ben gefahren?“
„Ich laufe jeden Morgen zehn Meilen“, erklärte er.
Als sie auf der langen Geraden waren, blickte sie ein paarmal nervös ins Unterholz.
„Was ist?“, wollte Gooch wissen.
„Ach, nichts. Ich wollte nur sehen, ob der Bär noch da ist“, sagte sie trotzig.
„Ein Bär?“
„Ja! Gestern Abend, als wir zurückgefahren sind, stand einer dort drüben im Unterholz“, erklärte Joe.
Gooch zweifelte zunächst an ihrer Beobachtung, doch Keet schnüffelte aufgeregt an der besagten Stelle und stellte die Nackenhaare auf. Er musterte sie amüsiert und stellte fest, dass mit ihr Morgens wirklich nicht gut Kirschen essen war. „Der ist bestimmt schon geflüchtet, als er deine schlechte Laune bemerkt hat.“
„Vielleicht war es ja auch ein Bigfoot auf Brautschau“, meinte sie schnippisch – wohl wissend, dass er diese Anspielung nicht verstehen konnte.
„Bigfoot ist Quatsch!“, spottete Gooch. „Wir Tlingit haben unser eigenes Monster. Hier treibt der Kooshdaakáa, der Landotter-Mann, sein Unwesen“, murmelte er finster.
Joe sah ihn mit großen Augen an und schluckte trocken. „Und wie sieht der aus?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Das kann niemand so genau sagen. Er ist ein Gestaltwandler – halb Mensch, halb Otter. Es bereitet ihm Vergnügen, die Seeleute der Tlingit auszutricksen und in den Tod zu ziehen, oder er imitiert den Schrei einer jungen Frau oder das Weinen eines Babys, um Menschen aus ihren Häusern ans Wasser zu locken. Dort reißt er sie in Stücke oder verwandelt sie in einen weiteren Kooshdaakáa und nimmt danach ihre Gestalt an, um sich neue Opfer zu suchen. Wenn du einen schrillen Schrei hörst, tief-hoch-tief, dann ist er in der Nähe“, raunte er ihr unheilvoll zu.
Joe lief es kalt über den Rücken. Gooch grinste, als er ihr ängstliches Gesicht sah, und griff in den Ausschnitt seines Shirts. Er zog eine lederne Schnur hervor, an der ein Ring aus Kupfer hing.
„Mit Kupfer kann man ihn abwehren“, meinte er beruhigend.
Doch der Anblick des Kupferrings verunsicherte Joe nur noch mehr. „Du glaubst daran?“, fragte sie entsetzt.
Gooch schüttelte lachend den Kopf. „Nein. Das ist ein Ammenmärchen, das Tlingit-Mütter ihren Kindern erzählten, damit sie nicht allein ans Wasser liefen.“
„Warum trägst du dann den Ring?“
„Ein altes Familienerbstück. Tlingit-Männer trugen früher diese Ringe durch die Nase. Ein Zeichen von Wohlstand und Ansehen“, erklärte er stolz.
Joe schmunzelte etwas bei der Vorstellung, wie Gooch mit einem Ring durch die Nase aussehen würde, verkniff sich aber eine dumme Bemerkung.
Während das Fluges vergaß Joe fast ihren Groll. Die atemberaubende Landschaft zog sie wieder in ihren Bann. Das Wetter war grau und trüb, doch das minderte nicht die Schönheit der Natur. Gooch flog recht tief, und plötzlich sah Joe mehrere Fontänen von Sprühnebel aus dem Wasser aufsteigen. „Sieh nur!“, rief sie aufgeregt. „Da sind Wale!“
Gooch warf einen Blick aus dem Seitenfenster. „Buckelwale. Die wirst du noch öfter zu sehen bekommen. Sie gehen hier gern auf Fischfang. Heringe und Krill. Bei uns gibt es ein Sprichwort: Wale sind das Gedächtnis der Erde und die Hüter der Zeit. Wenn es sie nicht mehr gibt, sind die Tage der Menschen gezählt.“
Joe lief wieder ein Schauer über den Rücken. Sprichwörter gab es wie Sand am Meer, aber die der Ureinwohner hatten immer etwas Prophetisches, das einen vernunftbegabten Menschen nachdenklich werden ließ. Die Hüter der Zeit. Treffender hätte man es nicht formulieren können, und es spornte sie an, mit aller Kraft für den Erhalt dieses Lebensraumes zu kämpfen. Betroffen und gleichzeitig fasziniert blickte sie auf das Geschehen unter ihnen, bis die Wale wieder in dem bleigrauen Wasser abtauchten.
Sie näherten sich Chichagof Island. Als Erstes fiel Icy Strait Point mit seinen roten Gebäuden ins Auge. Eine Straße führte von dort aus, am steinigen Strand entlang, zum Fähr-Terminal und zur Seaplane Base. Dahinter lag Hoonah, und Joe betrachtete interessiert das Dorf aus kunterbunten Häusern in Türkis, Hellgrün, Himmelblau, Rot und Weiß, das sich dicht an den Südhang des White Alice Mountain schmiegte. Dort befand sich auch ein kleiner Yachthafen, wo allerlei verschiedene Schiffe und Boote vertäut lagen. Vom Fischkutter über Segelboote bis hin zu Motorbooten war alles dabei.
Gooch begann mit dem Sinkflug und setzte zur Landung an. Für ihn war es nicht viel anders, als ein Auto zu fahren. Joe dagegen verspürte immer ein wohliges Kribbeln, wenn die Schwimmer auf der Wasseroberfläche aufsetzten. So eine eigentümliche Mischung aus Hilfe-Bruchlandung und Hurra-wir-leben-noch. Während Joe über die Schwimmer auf den Steg des Anlegers kletterte, sprang Keet mit einem Satz ins Wasser und schwamm ans Ufer. Dort angekommen schüttelte er sich ausgiebig und lief am Straßenrand davon.
„Wo läuft er hin?“, fragte Joe und sah dem Hund besorgt nach.
„Nach Hause – Lachse fangen. Ben hatte nur Hundefutter, und das kann Keet nicht leiden“, erwiderte Gooch gelassen und vertäute das Flugzeug.
Joe wollte sich auf den Weg machen. „Wo finde ich den Laden?“
Er wischte sich die Hände an der Hose trocken. „Ich komme mit und berate dich – sonst verkaufen sie dir den Touristenkram und der hält bestenfalls zwei Wochen“, stellte Gooch fest und stiefelte den Steg zur Straße hinauf.
Hoonah wurde gerade von einer Flut von Kreuzfahrtpassagieren überschwemmt – deutlich zu erkennen an den durchsichtigen Regencapes und den Kameras um den Hals. Die meisten von ihnen trugen halblange Cargo-Hosen und Trekking-Boots – Standard Ausrüstung für Amerikaner im Urlaub. Gern auch im „individuellen“ Partnerlook. Die Einheimischen waren genauso gut zu erkennen: nicht nur, weil die meisten Tlingit waren, sondern auch, weil Alaskaner einem eigenen Dresscode folgten: Arbeitshosen, Sweater und braune Gummistiefel. Joe beschlich das ungute Gefühl, dass sie in absehbarer Zeit ebenso ausgestattet sein würde. Sie liefen ein gutes Stück die Straße hinunter und erreichten alsbald den Laden Tideland Tackle & Marine. Auch hier waren Touristen und interessierten sich vornehmlich für Angelausrüstungen und Bärenspray. Über den Angelruten hing ein großer präparierter Königslachs an der Wand, darunter ein Schild mit der Aufschrift: Hätte ich meine Klappe gehalten, wäre ich jetzt nicht hier. Der Inhaber des Ladens kam auf sie zu, begrüßte Gooch und bedachte Joe mit einem neugierigen Blick.
„Was kann ich für euch tun?“, fragte er freundlich.
„Hallo, Charlie. Für mich nichts, aber Joe kommt von der Forschungsstation und braucht eine Komplettausrüstung für das Eisfeld und für Bootstouren“, erklärte Gooch ausführlich, um von vornherein sicherzustellen, dass die billigen Regencapes auf dem Ständer bleiben konnten.
Charlies Blick wurde nun wieder sachlich. „Alles klar! Also Carhartts, Xtratufs und Bunny Boots.“
Joe verstand nur Bahnhof und fühlte sich ein wenig wie ein Kleinkind, das beim Klamottenkauf keine eigenen Wünsche äußern durfte.
„Welche Schuhgröße hast du?“, erkundigte sich Charlie.
„Sechs“, antwortete sie.
Charlie verschwand im hinteren Teil des Ladens.
Gooch wühlte derweil in einem Stapel dick gefütterter Hoodies, auf der Suche nach der richtigen Größe. „Ha!“, verkündete er siegreich und zog einen davon aus dem Stapel. „Ich vermute mal, du besitzt nur diese Zeltpullis. Du brauchst so etwas, sonst wird es schnell zu kalt“, sagte er bestimmt, und noch bevor Joe irgendeine Art von Protest äußern konnte, hatte er ihr das Ding schon über den Kopf gestülpt.
Inzwischen war Charlie, beladen mit Stiefeln und Canvas-Hosen, aus dem hinteren Teil des Ladens zurückgekehrt.
„Sehr gut!“, kommentierte er Goochs Auswahl und hielt Joe eine Hose hin. Der Stoff war so steif, dass die Hose auch ohne menschliche Füllung in der Lage gewesen wäre zu stehen. Zu allem Übel hatte sie auch noch einen hoch geschnittenen Bund mit Trägern und sah aus wie eine Buddelhose für Erwachsene. Nicht, dass Joe jemals in den „Genuss“ einer solchen gekommen wäre, als sie noch klein war. Aber hier in Alaska hatte man offenbar vor, dieses frühkindliche Defizit auszugleichen.
Sie sah sich vergeblich nach einer Umkleidekabine um.
„Wir haben auch noch gefütterte da, dann reichen lange Unterhosen drunter“, meinte Charlie.
Joe deutete seinen Hinweis dahingehend, dass sie ihre Jeans anbehalten sollte, und schlüpfte in die Carhartt, wie dem Schild zu entnehmen war. Kaum drin, wurden ihr auch schon die Träger über die Schultern gelegt und festgezurrt, als wollte man Ladung sichern.
„Passt!“, lautete die einhellige Meinung.
Joe bezweifelte das, weil der dicke Hoodie in der Hose steckte. „Ist die nicht zu weit?“, gab sie zu bedenken.
Gooch schüttelte den Kopf. „Nein, dafür sind ja die Träger da.“
„Probier mal die Stiefel“, schlug Charlie vor und schob ihr einen Stuhl unter den Hintern.
Sie knickte an den Sollbruchstellen der Hose ein und fand sich vor einem „formschönen“ Paar weißer Stiefel wieder, die aussahen wie eine missglückte Kreuzung aus Skistiefeln und orthopädischer Sonderanfertigung. Vollgummi mit Schnürsenkeln. In mehreren Lagen gefüttert, hielten sie auch am Nordpol die Füße warm, versicherte Charlie breit grinsend. Interessanterweise waren sie nicht so unbequem, wie Joe erwartet hätte. Trotzdem beeilte sie sich, die Bunnys wieder auszuziehen. Dann folgten die eigentlichen Gummistiefel. Beim Anblick dieser braunen Treter mit dem cremefarbenen breiten Rand oberhalb der Sohle bekamen die Männer glänzende Augen wie ihre Mutter bei High Heels von Manolo Blahnik. Mit einem unhörbaren Plopp versank ihr Fuß im Neopren-Schaft, der sich fest und dennoch weich und bequem um ihr Fußgelenk schloss. Herausrutschen ausgeschlossen.
„Lauf mal ein paar Schritte damit“, forderte Gooch sie mit einem fast schon beseelten Lächeln auf.
Joe war mehr als angenehm überrascht. Das war wie Barfußlaufen mit dicker Profilsohle. Nichts drückte oder scheuerte, weil der Stiefel sich regelrecht am Fuß festsaugte.
„Wow!“, entfuhr es ihr und ließ die Männer strahlen.
„Wenn man einmal Xtratufs anhatte, trägt man nichts anderes mehr!“, verkündete Charlie mit dem überzeugenden Ton einer Fernsehwerbung. „Das sind die Sneaker Alaskas!“
„Gibt es die auch gefüttert?“, blödelte Joe herum und erntete nicht mal einen Hauch von Lachen.
„Klar!“, meinte Gooch selbstverständlich.
„Klar“, dachte Joe ernüchtert. Hier waren wahrscheinlich auch die Unterhosen warm wattiert. Zu guter Letzt hielt Gooch ihr noch einen wasserdichten Parka hin, und Joe hatte das Gefühl, gleich einem Hitzschlag zu erliegen. Nach dem Zwiebelprinzip in diverse Schichten eingehüllt, kam sie sich vor wie ein Michelin-Männchen. Sie trat vor den Spiegel und betrachtete sich. Sie sah auch aus wie ein Michelin Männchen, nur nicht weiß und dick, sondern kackbraun und dick.
„Schick! Und so figurbetont“, lästerte sie. „Gibt es das auch in anderen Farben?“, wagte sie zu fragen.
Das selige Lächeln der Männer machte blankem Unverständnis Platz. „Nein, wieso?“, kam es wie aus einem Mund zurück.
„Ich glaube, den Parka habe ich noch in Schwarz da“, räumte Charlie nach reiflicher Überlegung ein.
„Oh ja, bitte!“, sagte Joe erleichtert und begann sich aus den Klamotten zu schälen. Gooch half ihr mit sichtlichem Vergnügen.
‚Das könnte dir so passen!‘, dachte sie und erinnerte sich daran, dass ihn noch eine Reise zum Mond erwartete. Charlie kehrte mit dem schwarzen Parka zurück, legte die Klamotten zusammen und stopfte alles in Plastiktüten. Draußen hatte es wieder angefangen zu regnen.
„Die Gummistiefel behalte ich gleich an“, beschloss Joe und schlüpfte mit einem wohligen Lächeln wieder hinein.
„Willkommen in Alaska!“, sagte Charlie grinsend.
Nachdem Joe gezahlt hatte, verließen sie den Laden und gingen wieder zurück zur Seaplane Base. Dort angekommen wollte sich Gooch verabschieden, denn er hatte zwei Rundflüge auf dem Plan und musste das Flugzeug noch auftanken. Bis zur Abfahrt der Fähre nach Gustavus hatte Joe noch eine knappe Stunde Zeit. Gooch griff in seine Jackentasche und gab Joe den Plan für die anstehenden Exkursionen. „Hätte ich fast vergessen: Das soll ich dir von Ben geben. Morgen Früh geht es los.“ Er lächelte und sah ihr tief in die Augen.
Joe wich seinem Blick aus und blickte auf ihre Stiefel. „Was bekommst du für den Flug?“, fragte sie sachlich.
„Nichts – ich musste sowieso zurück“, meinte er.
Joe atmete tief durch und schaute ihn an. „Gooch, so geht das nicht! Jeder andere hätte auch bezahlen müssen.“
Er sah sie irritiert an. „Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst“, erwiderte er und lächelte unsicher.
Sie biss sich auf die Lippe und überlegte fieberhaft, wie sie ihm sagen konnte, dass er auf Abstand bleiben sollte. „Hör zu, es geht mich nichts an, was du in deiner Freizeit machst, aber lass mich da bitte raus. Wir müssen das ganze Jahr zusammenarbeiten, und ich möchte das rein beruflich und so professionell wie möglich. Auf der Station werden schon Wetten abgeschlossen, ob du mich ins Bett kriegst, und das finde ich nicht lustig. Also, bitte keinen Flirt und auch keine kostenlosen Flüge. Ich bin hier, um meine Dissertation zu schreiben, und nicht für private Abenteuer“, erklärte sie und hoffte auf sein Verständnis.
Gooch war, als hätte sie ihm einen Schlag in den Magen versetzt, aber er ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. „Wenn das so ist, dann hundertzwanzig Dollar“, sagte er kalt.
„Ich meine das nicht persönlich“, versicherte sie ihm, als sie die Scheine abzählte.
Er nahm das Geld. „Kein Problem, Miss Cunningham. Die Quittung reiche ich morgen nach!“, entgegnete er und ließ sie stehen. Er bemühte sich, möglichst gelassen den Steg zum Anleger hinunterzugehen, weil er spüren konnte, dass sie ihm noch nachblickte, und um nichts in der Welt wollte er, dass sie merken würde, wie sehr sie ihn getroffen hatte. Mehr als er selbst für möglich gehalten hätte. Das war eine völlig neue Erfahrung und wurmte ihn ganz besonders.
Joe schaute ihm tatsächlich noch hinterher und wusste, dass sie es vergeigt hatte. „Miss Cunningham“. Sie ahnte, was sie in den nächsten Wochen und Monaten erwarten würde, und trat wütend gegen einen Holzpoller. Sie dachte an den ausgestopften Lachs in Charlies Laden. Manchmal war es wirklich besser, die Klappe zu halten.
Ein älteres Paar ging an ihr vorbei und deutete auf Goochs Maschine. „Das muss es sein, Darling. Ich bin ja so aufgeregt!“, freute sich die Frau auf ihren bevorstehenden Rundflug.
Joe wendete sich ab und lief zum Fähr-Terminal. Für sie war der Tag gelaufen.
Um kurz vor elf legte die MV LeConte des Alaska Marine Highway Systems am Fähr-Terminal an. Joe zahlte einundvierzig Dollar für die einfache Fahrt nach Gustavus und suchte sich einen trockenen Platz unter Deck.
Durch das große Bullauge in der Observation Lounge konnte sie sehen, wie Goochs Beaver abhob. Kurze Zeit später legte auch das Schiff ab. Missmutig starrte sie auf das Wasser und stellte fest, dass sie kein Talent dafür hatte, sich Freunde zu machen. Offenbar gab es keinen Ort auf dieser Welt, wo sie nicht fehl am Platz war.
Das ältere Ehepaar war – trotz des Regens – völlig hingerissen von dem Flug, und ihre Begeisterung war ansteckend.
„Das ist unsere verspätete Hochzeitsreise!“, bemerkte die Frau strahlend.
„Hat sich doch gelohnt, dreißig Jahre zu warten! Und du wolltest mich anfangs nicht heiraten“, entgegnete ihr Mann lachend. „Ich musste ihr vier Anträge machen, bevor sie Ja gesagt hat“, erklärter er Gooch.
Der machte große Augen. „Vier? Das nenne ich hartnäckig!“, meinte Gooch bewundernd.
„Darauf kommt es im Leben doch an. Ein kleines Kind sagt ja auch nicht: Jetzt bin ich ein paarmal hingefallen, Laufen ist nichts für mich. Dann würden wir alle noch auf Knien rutschen. Wenn man erwachsen ist, gibt man viel zu schnell auf“, stellte der ältere Herr weise fest. Gooch musste ihm insgeheim recht geben und grübelte vor sich hin.
„Sind Sie verheiratet?“, wollte die Frau von ihm wissen.
Gooch schüttelte den Kopf und fühlte sich an seine Mutter erinnert. „Nein. Ich genieße lieber meine Freiheit. Ich würde die Richtige sowieso nicht erkennen.“
„Oh, das ist einfach! Sie kratzt und beißt, aber man bekommt sie trotzdem nicht aus dem Kopf!“, erklärte der alte Mann und erntete einen Knuff von seiner Frau.
Anderthalb Stunden später starrte Joe immer noch auf das Wasser, als Gustavus in Sicht kam. Der Regen hatte zugenommen, und sie zerrte den neuen Parka aus der Tüte und tauschte ihn gegen die dünne Jacke, die für die Sommertemperaturen in Alaska wirklich nicht geeignet war. Sie entfernte das Etikett und zog ihn an. Die neuen Sachen waren den Ausflug wert gewesen, auch wenn sie noch nie so viel Geld für einen Einkaufsbummel ausgegeben hatte wie heute.
Normalerweise boykottierte sie den Designerfimmel ihrer Mutter und bevorzugte Second-Hand-Läden, obwohl ihre Kreditkarte ein deutlich höheres Limit hatte. Sie war nicht anspruchsvoll. Die Fähre legte an, und zum Glück für Joe wurden ein paar Gäste des Hotels in Bartlett Cove von einem Van abgeholt. Der Fahrer war bereit, sie mitzunehmen, und setzte sie netterweise an der Station ab. Sie schleppte die Taschen in ihr Zimmer, kochte in der kleinen Teeküche neben ihrem Zimmer einen Kaffee und balancierte diesen mit zwei Tassen rüber zu Trisha ins Labor.
„Hey! Wie war es in Hoonah?“ Trisha strahlte und nahm dankend den Kaffee an.
„Die Kotztüten sind alle!“, erwiderte Joe.
Trisha sah sie verständnislos an. „Seekrank?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Nein! Gooch!“, knurrte Joe.
Marc saß im Hintergrund und wartete ein Analysegerät. „War er so schlecht?“, grunzte er und riskierte damit fast, eine Tasse an den Kopf zu bekommen.
Aber Joe war nicht bereit, ihren Kaffee an einen Idioten zu verschwenden. „Halt deine Klappe, und bezahle deine Wettschulden!“
Marc machte ein beleidigtes Gesicht und kümmerte sich wieder um seine Arbeit.
„Was war denn los?“, wunderte sich Trisha.
„Wegen dieser hirnlosen Wette habe ich ihm gesagt, er soll auf Abstand bleiben. Ich will hier nur in Ruhe arbeiten. Jetzt ist er sauer und nennt mich Miss Cunningham!“
„Shit!“, kommentierte Trisha die Lage trocken.
„Genau! Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen, aber ich muss es ausbaden! Fehlt nur noch ein Zelt!“, stellte Joe entnervt fest.
Trisha rollte auf ihrem Stuhl rüber zu Marc und hielt grinsend die Hand auf. „Du schuldest mir hundert“, sagte sie schadenfroh. Marc zückte widerstrebend seine Brieftasche und zog ein paar Zwanzig-Dollar-Noten heraus.
„Davon machen wir Mädels uns einen schönen Abend!“, triumphierte sie.
Später packte Joe, gemeinsam mit Ben, die Ausrüstung für die bevorstehende Probenentnahme auf dem Gletscher zusammen. Eisbohrer, Probenröhrchen, GPS-Gerät, Funkgeräte plus Ersatzbatterien, Campingausrüstung und Proviant für drei Tage. Dazu noch Schneeschuhe, um nicht im tiefen Schnee zu versinken, und zwei verschließbare leere Eimer.
„Wofür brauchen wir die?“, fragte Joe.
„Das sind Toiletten-Eimer. Ihr dürft auf dem Gletscher nichts hinterlassen“, mahnte Ben.
Joe guckte etwas unglücklich aus der Wäsche. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. „Okay!“ Sie nickte tapfer. „Das wird ein Spaß! Hoffentlich klappt er den Deckel wieder zu“, murmelte sie verdrießlich.
Dort oben gab es nur Eis. Kein Baum, kein Strauch. Nichts. Also auch nichts, hinter dem man mal eben verschwinden konnte. Sie hoffte auf aufgetürmte Eisbrocken oder Schneewehen.
Ben beobachtete sie verschmitzt und verstand langsam, warum Gooch bereit war, mehr Zeit als gewöhnlich zu investieren. Ihre schmale Statur und die schönen Augen in ihrem Puppengesicht weckten in jedem Mann den Beschützerinstinkt. Doch ihre rebellische Art und das freche Mundwerk standen in einem reizvollen Kontrast dazu.
Für Gooch war sie eine wandelnde Herausforderung auf zwei Beinen. Und was für Beine! Im Geiste ermahnte Ben sich selbst, wieder auf andere Gedanken zu kommen. „Hast du heute Morgen alles bekommen, was du brauchst?“
„Ich denke schon. Erfrieren kann ich jedenfalls nicht mehr – höchstens ersticken!“, erwiderte sie scherzhaft.
„Das wirst du alles noch brauchen. Das Wetter ist hier erbarmungslos. Regen, Schnee und die Stürme im Herbst legen manchmal alles lahm. Dann wirst du froh sein, wenn du es warm und trocken hast“, meinte Ben.
Joe grübelte kurz. „Vielleicht hätte ich mir noch eine Schwimmweste zulegen sollen.“
„Davon haben wir hier genügend“, beruhigte er sie und verfrachtete den Rest der Ausrüstung auf den Truck.
„Passt das überhaupt alles in die Maschine?“, fragte sie skeptisch. „Gooch nimmt für die Gletscherflüge ein anderes Flugzeug. Es hat einen größeren Laderaum und Hydraulik-Skier am Fahrwerk, sonst könnte er auf dem Eis gar nicht landen“, erklärte Ben und spannte noch eine Plane über die Ladefläche, damit nichts nass wurde.
„Morgen früh um sieben“, erinnerte er sie grinsend, weil er ahnte, dass Joe dann eine Extraportion Kaffee brauchen würde, um nicht handgreiflich zu werden.
Trisha, wie immer als Erste aus den Federn und gutgelaunt, versuchte eine neue Taktik, um Joe gefahrlos aus dem Bett zu bekommen. Sie stellte eine Tasse Kaffee an ihr Bett und hoffte, der Duft würde wirken. Tatsächlich rührte sich etwas.
„Wer bin ich – und warum so früh?“, quengelte es unter der Decke hervor.
„Du musst um sieben in Gustavus sein“, lautete Trishas Antwort. „Verdammt! Meine Motivation ist heute nur durch Leichenstarre zu toppen“, stellte Joe fest und schlug unwillig die Decke zurück. „Ich kenne jemanden, dem es heute genauso geht“, amüsierte sich Trisha und verschwand im Bad.
Joe richtete sich auf und begann ihren Kaffee zu schlürfen. Bei dem Gedanken an Gooch schmeckte er nur noch halb so gut. Nachdem sie die Tasse geleert hatte, packte sie ihre restlichen Sachen zusammen. Das Bad war wieder frei, und Joe verschwand unter der Dusche. Als sie gähnte, lief ihr Wasser in den Mund, sie verschluckte sich und musste husten. ‚Beim Duschen fast ertrunken, der Tag geht ja gut los‘, dachte sie und wünschte sich zurück in ihr Bett.
Gooch hatte sein morgendliches Sportprogramm längst beendet. Er hatte den steilen Waldweg gewählt, um sich abzureagieren. Nach einer heißen Dusche, einer gründlichen Rasur und dem üblichen Eiweißshake aus dem Mixer fühlte er sich deutlich besser und hatte seine gewohnte Gelassenheit wiedergefunden. Er knotete sein langes Haar mit einem Gummiband im Nacken zusammen, damit es später unter die Mütze passte. Auf dem Gletscher war es windig. Dann ging er mit Keet zum Flugplatz, wo die alte Skywagon im Hangar wartete. Er hatte schon am Vorabend alles überprüft, um sicherzugehen, dass die Maschine in Ordnung war. Gooch half seinem Hund in das Flugzeug, warf seinen Rucksack in den Fußraum und ließ sich, wie üblich, die neuesten Wetterdaten vom Tower durchgeben. Kurz danach hob er ab und nahm Kurs auf Gustavus.
Ben lebte in Gustavus und wartete nun am Flugplatz auf Joe, um den Truck später wieder zur Station zurückzufahren. Joe hatte es trotz mangelnder Ortskenntnis geschafft, die Landebahn zu finden, und entdeckte zu ihrer Erleichterung auch Ben.
„Guten Morgen!“, begrüßte er sie. „Nichts vergessen?“
„Mein Hirn liegt noch im Bett – das kommt später nach“, antwortete sie lakonisch.
Er lachte herzhaft, verkniff sich aber, nach der Anzahl der Opfer zu fragen. „Hast du deine Müdigkeit nicht mit Kaffee ertränkt?“
„Hab es versucht, aber das Biest kann schwimmen“, stellte sie mürrisch fest.
Ben schüttelte den Kopf und amüsierte sich köstlich. Über ihren Köpfen brummte der Motor von Goochs Maschine. „Wie schön. Alle pünktlich“, bemerkte Ben.
Kurz danach setzte das Flugzeug auf und rollte von der Landebahn auf sie zu. Als Gooch aus dem Cockpit kletterte, bemerkte sie, dass auch er offenbar ein frühkindliches Defizit auszugleichen hatte, denn er trug die gleichen Buddelhosen und Gummistiefel wie sie selbst.
‚Willkommen im Sandkasten‘, dachte sie und schlug die Plane vom Truck zurück.
„Hey, Gooch“, rief Ben. „Alles okay?“
„Muss ja!“, antwortete Gooch verhalten. Plötzlich sank die Stimmung merklich unter den Gefrierpunkt. Er würdigte Joe nicht eines Blicks und das höfliche ‚Guten Morgen‘, zu dem sie sich hatte durchringen wollen, blieb ihr im Halse stecken.
„Na los! Der Tag versaut sich nicht von selbst!“, murmelte sie und begann die Ausrüstung vom Truck zu laden.
Ben trug die Sachen zum Flugzeug und sah die beiden ratlos an, während Gooch die Ladung gleichmäßig im Frachtraum verstaute.
„Was, zum Teufel, ist jetzt wieder los?“, raunte Ben ihm zu, als er den Proviantbehälter vor der Maschine abstellte.
„Nichts!“, erwiderte Gooch knapp und verfrachtete den Kunststoffcontainer mit Schwung nach oben.
Mehr erfuhr Ben an diesem Morgen nicht. Zu guter Letzt trug Joe die beiden Toiletteneimer zum Flugzeug.
Keet wedelte freudig und wollte sie begrüßen, was Gooch sofort unterband. „K‘idéin ganú!“ – setz dich hin, sagte er zu seinem Hund.
Joe hatte zwar kein Wort verstanden, aber die Bedeutung wurde ihr dennoch klar, als Keet sich unverrichteter Dinge wieder setzte. Sie verspürte nun das dringende Bedürfnis, ein weiteres kindliches Defizit auszugleichen – nämlich mit einem bunten Plastikschäufelchen auf Goochs Schädel einzuhämmern. Für den Bruchteil einer Sekunde wog sie den Toiletteneimer in ihrer Hand, entschied sich aber dagegen. ‚Lohnt sich erst auf dem Rückweg‘, dachte sie verärgert.
Er nahm ihr die Eimer ab und stellte sie in den Frachtraum; dann zog er einen Zettel aus der Jackentasche und reichte ihn ihr kommentarlos. Die angekündigte Quittung: Personenbeförderung einfach, Gustavus – Hoonah, hundertzwanzig Dollar dankend erhalten, McKenzie Flight Service, T.G. McKenzie, stand auf dem Vordruck zu lesen.
Joe schluckte trocken. Es war ihm scheinbar ernst mit der angedrohten Umgangsform. Ab jetzt war sie Miss Cunningham. Verärgert stopfte sie die Quittung in ihre Jackentasche.
Gooch klappte die hintere Tür zu und setzte sich ins Cockpit.
„Der Zündschlüssel steckt“, sagte sie zu Ben.
Der nickte. „Alles klar. Ich hole dich in drei Tagen wieder hier ab.“
Joe schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. „Vielen Dank!“ Dann setzte sie sich mit einem flauen Gefühl im Magen ins Flugzeug und schloss die Tür.
Über der Bucht rang sich Gooch notgedrungen zu einer knappen Frage durch. „Wohin?“
Joe blickte kurz zu ihm hinüber. „Margerie-Gletscher, bitte“, antwortete sie ihm; dann schwiegen sie wieder. Er hatte das „bitte“ durchaus registriert, allerdings würde sie das wohl auch zu jedem Taxifahrer in New York sagen. Ihm war bei ihrer Ankunft der Gepäckanhänger aufgefallen – und ebenso, dass der Koffer ein sündhaft teures Designerstück war. Doch sein anfänglicher Verdacht, dass es sich bei ihr um eine verwöhnte kleine Prinzessin handelte, hatte sich erst nach ihrem Einkauf bestätigt, als sie mit der Platincard einer exklusiven Bank bezahlt hatte. Wahrscheinlich war sie nur hier, um sich die Zeit zu vertreiben, damit sie sich später an der Fifth Avenue darüber auslassen konnte, dass es tatsächlich noch Leute gab, die für ihr Geld arbeiten müssen. All das war ihm in der vergangenen Nacht durch den Kopf gegangen und hatte ihn vom Schlafen abgehalten. Er war offenbar nicht gut genug für sie. Das war die plausibelste Erklärung, die er finden konnte. Auch gut. Er hatte beschlossen, die Arbeit zu machen, für die er bezahlt wurde – und kein Stück darüber hinaus. Professionell und rein beruflich, wie sie es gewollt hatte. Andere Mütter hatten schließlich auch schöne Töchter.
Er schwenkte ab in den westlichen Arm der Bucht, überflog ein Kreuzfahrtschiff und musste dabei an die Trägerin des roten Höschens denken. Ihren Namen hatte er vergessen, aber einige andere Details von ihr waren in seiner Erinnerung immer noch sehr gegenwärtig. Hartnäckigkeit hatte er als eine antiquierte Tugend verworfen. Völlig überholt in der heutigen Zeit, fand er und beschloss, dass es nach der Rückkehr vom Gletscher wieder Zeit für einen Beutezug wurde.
Joe starrte währenddessen aus dem Fenster, doch es fiel ihr schwer, den atemberaubenden Anblick der Bucht und der umliegenden Berge zu genießen. Sein eisiges Schweigen ging ihr an die Nieren, und ihr wurde klar, dass die nächsten Tage kein Vergnügen werden würden. Andererseits war sie es gewöhnt, ignoriert zu werden. Ihre Eltern hatten das vierundzwanzig Jahre lang erfolgreich mit ihr geübt. Inzwischen war es ihr gleichgültig geworden, was andere von ihr dachten, solange man sie nur in Ruhe ließ. Gooch war nur einer von vielen, die auf ihrer Beurteilung ‚Miststück‘ ankreuzen würden. Joe fand sich damit ab und atmete tief durch.
Sie erreichten den Gletscher, und Gooch zog die Maschine höher, um der Umkehrthermik an der Abbruchkante zu entgehen. Die kalte Luft über dem Eis strömte nach unten und drückte die wärmere Luft über dem Wasser nach oben. Trotzdem wurde es ein wenig turbulent. Über der Eisfläche sackte die Maschine dann wieder etwas ab, weil nun keine warme Luft mehr nach oben strömte. Er fuhr die Hydraulik-Skier am Fahrgestell aus und suchte höher auf dem Gletscher eine geeignete Stelle zum Landen. Hier halfen nur Erfahrung, Ortskenntnis und ein geübtes Auge, um etwaige Gletscherspalten unter dem Schnee zu erahnen. Sie kamen dem Mount Tlingit immer näher, und Joe konnte nun zum ersten Mal einen Blick auf das gigantische Brady-Icefield werfen. Die umliegenden Gipfel der Fairweather-Kette waren alle über zehntausend Fuß hoch und ragten wie wild zerklüftete Inseln aus einem Meer von Eis. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie unbedeutend und klein ein einzelner Mensch im Vergleich dazu war, und trotzdem schaffte er es, alles zu zerstören. Wie Termiten – einzeln betrachtet harmlos, doch in Massen zerstörerisch. Und je mehr es wurden, desto schneller brachten sie ein Haus zum Einsturz.
Sie flogen immer weiter den Gletscher hinauf. Deutlich konnte man Gletscherspalten und Geröllfelder erkennen. Andere Flächen waren mit Schnee bedeckt und sahen völlig unberührt aus, doch der Schein trog; darunter verbargen sich Spalten und Risse. Etwas später hatte Gooch eine geeignete Stelle entdeckt, drosselte das Tempo und setzte zur Landung an. Das Eis knirschte unter den Kufen, und die Maschine kam schlitternd zum Stehen. Er stieg aus und sicherte das Flugzeug mit Tauen und Haken im Eis, damit der Wind es nicht wegschieben konnte. Joe begann die Ausrüstung auszuladen. Nur Keet hatte richtig Spaß und tollte begeistert im Schnee herum. Gooch schob an einer geeigneten Stelle den Schnee beiseite, um das Zelt aufzubauen; dann schleppte er die Zeltplane und die Stangen hinüber und breitete routiniert die Plane aus.
Joe beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sie hatte noch nie zuvor allein ein Zelt aufgestellt und wollte sich nicht blamieren und schon gar nicht um Hilfe bitten müssen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es gar kein zweites Zelt gab. Die anderen Taschen enthielten nur Schlafsäcke und extradicke Isomatten. Auch das noch! Ein Zelt für sie beide. Wäre sie doch nur im Bett geblieben! Zähneknirschend brachte sie Schlafsäcke und Isomatten zur Baustelle und fing an, die Zeltstangen zusammenzustecken. Eine halbe Stunde später stand ihre doch recht geräumige Behausung auf dem Eis, und Gooch schlug mit einem Hammer die Heringe ein.
Er rollte auf beiden Seiten die Isomatten aus, warf seine Tasche auf eine davon und breitete dazwischen eine Decke für Keet aus. Da sie den Hund ja ganz offensichtlich mochte, konnte ihr das nur recht sein, dachte er sich. Mit Keet in der Mitte würde es wenigstens nicht kalt werden. Damit war der Großteil seiner Arbeit erledigt. Jetzt hatte er nur noch dafür zu sorgen, dass die Prinzessin nicht irgendwo reinfiel oder anders abhanden kam. Er zog Keet neonfarbene Hundesocken über die Pfoten, damit er sich an dem scharfkantigen Eis nicht verletzte. Keet kannte das schon und versuchte nicht, die Dinger wieder loszuwerden.
In der Zwischenzeit hatte Joe versucht, ein stilles Örtchen für die fatalen Eimer zu finden, doch das schien aussichtslos. Sie lagerten auf einer sehr ebenen Stelle des Gletschers – optimal, um darauf mit einem Flugzeug zu landen, aber suboptimal für Privatsphäre. Gooch beobachtete das skurrile Schauspiel einen Moment lang und amüsierte sich schadenfroh. Er ging zum Flugzeug und begann, die Tragflächen und den Motorraum abzudecken, damit sich kein Eis bildete. Joe stellte die Eimer einfach neben die Maschine und hoffte auf die dunklen Abendstunden. Das Flugzeug würde sie auch im Dunkeln finden. Sie sah ihn kurz an und bemerkte seinen spöttischen Gesichtsausdruck. Es versetzte ihr einen Stich. Das vorwurfsvoll gezeterte ‚Josephine!‘ ihrer Mutter konnte sie deutlich leichter ertragen.
Joe wendete sich ab, zog ihre Bunny-Boots an und kontrollierte das GPS-Gerät. Mit Eisbohrer, Probenröhrchen und einer langen Metallstange zum Aufspüren von Spalten unter dem Schnee machte sie sich auf den Weg. Genaugenommen war es egal, wo sie ihre Proben entnahm. Es ging nur darum, einen Referenzwert für die Wasserstoffionenkonzentration im Eis festzulegen, um dann später alle im Wasser gesammelten Proben damit vergleichen zu können. Damit dieser Referenzwert auch aussagekräftig war, musste sie die Probenentnahme gleichmäßig streuen, um eventuell im Eis vorkommende Schwankungen zu eliminieren. Außerdem hoffte sie darauf, auch ein paar Gletschermühlen zu finden, wo Schmelzwasser auf der Oberfläche des Gletschers in einen Spalt floss und das Eis zunehmend aushöhlte. Dieses Wasser sorgte auch dafür, dass sich die Fließgeschwindigkeit der Eismassen erhöhte. Es floss bis zum Boden des Gletschers und wirkte wie eine Schmierschicht zwischen dem Eis und dem felsigen Grund. Für Joe war dieses Wasser besonders interessant, da es an der Oberfläche deutlich mehr mit CO2 belastet sein musste als die tieferliegenden Schichten des Eises, die sich schon vor der industriellen Revolution gebildet hatten. Gletscher waren wie ein Archiv für Emissionen aller Art. Ob nun die Asche eines Vulkanausbruchs oder Schadstoffe aus menschlicher Produktion – alles lagerte sich in Schichten dort ab, wurde vom Eis konserviert und konnte so in Eisbohrkernen auch exakt datiert werden.
Froh, endlich mit ihrer Arbeit beginnen zu können, stapfte sie übers Eis und beachtete Gooch nicht weiter. Der bemerkte fast zu spät, dass sie sich einfach ohne ihn auf den Weg gemacht hatte, und fluchte. Er beeilte sich, ebenfalls in seine Bunnys zu schlüpfen, und lief hinter ihr her. Auf das Gewehr verzichtete er. Auf fünftausend Fuß Höhe trieben sich gewöhnlich keine Bären herum, denn hier gab es nichts zu fressen. Missmutig lief er in ihrer Spur und bemühte sich, sie einzuholen.
Währenddessen überlegte er, ob nicht doch ein Mindestmaß an Kommunikation angebracht wäre, um zu vermeiden, dass sie sich unbemerkt selbstständig machte und er nicht wusste, wo er nach ihr suchen sollte. Für Keet war diese ganze Aktion ein riesiger Spaß, und er rannte begeistert zwischen Gooch und Joe hin und her.
„Warte!“, rief er ihr zu, als er sie fast eingeholt hatte.
Sie drehte sich zu ihm um und lächelte maliziös. „Mr. McKenzie?“, fragte sie provokativ.
Gooch stockte. So hatte ihn seit Menschengedenken niemand mehr genannt. Dann fiel ihm ein, dass es nur ihre Retourkutsche für ‚Miss Cunningham‘ war. Es hatte sie also getroffen, stellte er befriedigt fest. Doch ihr boshaftes Lächeln wollte nicht so recht dazu passen. Er konnte sie einfach nicht einschätzen. Mal wirkte sie wie ein kleines Mädchen, dann wieder wie ein berechnendes Biest.
Meistens war sie aber freundlich, musste er zugeben, wenn auch ungern. Noch ärgerlicher war, dass er ihr schon wieder erlaubt hatte, in seinem Kopf herumzugeistern. „Du kannst nicht einfach so abhauen, ohne mir was zu sagen. Mein Job ist es, für deine Sicherheit zu sorgen“, blaffte er sie an.
„Na dann!“, erwiderte sie knapp und rammte den Eismeißel in den harten Untergrund, damit der Bohrer nicht wegrutschen würde.
Wenn Frauen ‚Na dann‘ sagen, kannst du einpacken, stand in seinem Wörterbuch ‚Frau – Englisch, Englisch – Frau‘, das ihm Ben mal zum Geburtstag geschenkt hatte. Eine amüsante kleine Bettlektüre, wenn dort sonst nichts los war. Jetzt war er offenbar auf die Quelle dieses Druckerzeugnisses gestoßen. ‚Aha‘ war eine Kriegserklärung mit verschiedenen Arten der Betonung, einige davon sogar tödlich.
‚Nein‘ bedeutete Nein mit ungefähr dreihundertfünfzig Ausnahmeregelungen, variierend je nach Situation, Betonung und Hormonstatus. Da gab es das Nein, das eigentlich ein Ja mit Aufforderung zum Kompliment war. Beispiel: Möchtest du noch ein Stück Kuchen? Antwort: Nein, ich bin satt. Bedeutung: Ja, ich möchte Kuchen und die Bestätigung, dass ich eine tolle Figur habe und mir ein weiteres Stück leisten kann.
Dann gab es das geheuchelte Nein mit eingebauter Ausrede. Frage: Brauchst du diese Schuhe wirklich? Antwort: Nein, aber die waren im Angebot. Bedeutung: Ich wollte sie, egal wie teuer. Auch ganz wichtig war das hormonelle Nein. Frage: Bist du gestresst? Antwort: Nein, ich bin die Ruhe selbst! Bedeutung: Nerv mich nicht, ich kriege meine Tage.
Nur wenn es um Sex ging, war das Nein klar und deutlich. Frage: Gehen wir zu mir?
Antwort: Hau ab, du Penner! Bedeutung: Nein. Logisch, oder? Er hatte eine Zeit lang versucht, sich durch den Dschungel der Zweideutigkeiten zu kämpfen. Irgendwann hatte er es aufgegeben und wieder ein Single-Dasein geführt.
Während Frau mittlerweile damit begonnen hatte, Löcher ins Eis zu bohren, stand Mann daneben, sorgte für ihre Sicherheit und kam sich dabei reichlich bescheuert vor. Na dann …
Joe arbeitete sich indessen mäanderförmig über das Eisfeld, dokumentierte jede Bohrung mit GPS-Daten und hatte bereits zwölf Probenröhrchen gefüllt. Gooch war dazu übergegangen, aus Sicherheitsgründen den Untergrund mit der Metallstange zu sondieren. Es war später Nachmittag, und ihm hing der Magen in den Kniekehlen, aber Joe schien das gar nicht zu bemerken und schuftete wie besessen weiter. Es war ihm ein Rätsel, wo sie die Kraft dafür hernahm. Das Eis war steinhart. Langsam merkte er, dass er ihr unrecht getan hatte. Ihr Aufenthalt hier war kein Urlaub aus Langeweile. Sie nahm ihre Arbeit verdammt ernst. Nicht ein Mal hatte sie gejammert oder um Hilfe gebeten, obwohl das Bohren der Löcher anstrengend war und ihnen der kalte Wind von den Bergen erbarmungslos um die Ohren pfiff. Keet hatte sich längst ins Camp verzogen und lag im Windschatten des Zeltes, was Gooch jetzt auch lieber gewesen wäre – von einer warmen Mahlzeit ganz zu schweigen.
„Schluss für heute“, blies er zum Aufbruch, doch Joe war noch nicht fertig. Sie zog ihre Handschuhe aus und klemmte sie sich zwischen die Zähne. Mit zitternden Händen füllte sie die Eisprobe ins Röhrchen, verschloss sorgfältig den Deckel und beschriftete es mit den GPS-Daten und der Tiefe. Dann schleppte sie ihre Gerätschaften ein paar hundert Yards weiter und begann erneut, ein Loch ins Eis zu schlagen. Ihre Finger waren taub vor Kälte, und die Arme schmerzten entsetzlich, aber sie wollte fertig werden und sich nichts anmerken lassen. Schon mehrfach hatte er versucht, ihr den Bohrer aus der Hand zu nehmen, doch sie war stur. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn er sie einfach in Ruhe gelassen hätte, doch er wurde dafür bezahlt aufzupassen, dann sollte er das auch tun. Nur das!
Gooch wartete ab, bis sie auch die letzte Probe entnommen hatte. Es hatte keinen Zweck, mit ihr zu diskutieren. Der Mount Tlingit warf seinen langen Schatten auf das Eisfeld, und es wurde empfindlich kalt, als sie im Camp ankamen. Keet begrüßte sie freudig. Gooch schmolz Schnee in einem großen Topf auf dem Camping-Kocher, gab dem Hund einen getrockneten Ketalachs und füllte seinen Napf mit Wasser.
Joe verstaute die Proben und die Geräte im Flugzeug und durchstöberte hungrig den Proviant-Container. Ganz oben auf lag ein großes Glas Instantkaffee, und Joe schickte ein Dankgebet an ihren Lebensretter Ben. Alles andere war auch nach ihrem Geschmack: Bohneneintopf mit Speck in der Dose, Brot und Cracker, Instant-Nudeln in Käsesoße zum Anrühren mit heißem Wasser, Jerky-Trockenfleischriegel und tütenweise Trail Mix, eine Knabbermischung aus getrockneten Früchten, Nüssen und Schokolade. Kurz: alles, was schnell sattmachte und keine Kochkünste erforderte. In puncto Kochen war sie eine absolute Niete. Gooch lief an ihr vorbei und fischte zielsicher Trockenfleisch, Instant Nudeln und Kaffee aus der Box und verschwand damit im Zelt. Empört über den dreisten Diebstahl und bereit, ihren Kaffee bis aufs Blut zu verteidigen, schloss sie die Box und stapfte hinter ihm her. Gooch goss gerade heißes Wasser über das Kaffeepulver in zwei Tassen und reichte ihr eine. Allein der Geruch ihres Lieblingsgebräus stimmte sie milde, und nach dem ersten Schluck war sie bereit, ihm Absolution zu erteilen. Auch Gooch schlürfte behaglich seinen Kaffee und wärmte sich die Hände an der Tasse; dann kaute er sein Trockenfleisch. Joe überflog die Zubereitungsanleitung der Käsenudeln, öffnete den Aludeckel und rührte das Abendessen mit heißem Wasser an. In Goochs Gesicht war deutlich zu lesen, was er davon hielt. Unglücklich stocherte er in den Nudeln herum und wartete, bis sie aufgequollen waren. Er hasste diesen Fertigfraß. In diesem Punkt war er verwöhnt. Seine Mutter führte schließlich ein Restaurant und hatte ihm schon früh das Kochen beigebracht, weil sie der Meinung war, dass auch Männer dazu in der Lage sein sollten. Er bevorzugte frisches Fleisch, Fisch und Gemüse und liebte raffinierte Pasteten mit herzhafter Füllung. Bei der Nudelpampe konnte man nicht einmal erkennen, was man da aß.
Ganz anders Joe: Sie hatte noch nie an einem Herd gestanden. In den Hamptons hatte die Familie eine Wirtschafterin, die für das leibliche Wohl sorgte, und während ihrer Studienzeit hatte sie von Pizza, Hotdogs und Take-away-Essen gelebt. Kurz, alles, was innerhalb von fünf Gehminuten an Fastfood auf der Straße angeboten wurde. Zum Essen hatte sie ohnehin wenig Zeit gehabt, geschweige denn zum Kochen. Zufrieden schaufelte sie sich die Nudeln in den Mund. Hauptsache heiß, hieß ihre Devise.
Gooch war einigermaßen überrascht, dass sie nicht ihre kleine, vorwitzige Nase rümpfte, sondern mit sichtlichem Appetit aß. Offenbar hatte er sie wieder falsch eingeschätzt. Noch immer herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen, aber nach diesem Tag sah er in ihr nicht mehr die verwöhnte Prinzessin, für die er sie am Morgen noch gehalten hatte. Joe blieb ein Rätsel für ihn.
Nach dem Essen flitzte sie eilig aus dem Zelt, und er stellte sich vor, wie sie wieder mit dem Eimer über das Eis lief – auf der Suche nach einer Schneewehe. Gooch schmunzelte und respektierte ihre Privatsphäre, indem er im Zelt blieb. Doch als sie auch nach einer Viertelstunde noch nicht wieder zurück war, wurde er unruhig. Nun brauchten Frauen erfahrungsgemäß ja immer länger im Bad; wenn das Bad aber nur aus einem Eimer im Eis bestand, war das eher unwahrscheinlich. Er riskierte einen Blick aus dem Zelt und entdeckte sie im Flugzeug. Sie saß auf der Rückbank und hatte den Erste-Hilfe-Kasten auf dem Schoß. Besorgt verließ er das Zelt und ging zu ihr. Er war entsetzt, als er ihre Hände sah. Sie hatte große Blasen auf der Handfläche und versuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht, sie zu desinfizieren.
„Warum hast du nichts gesagt?“, fragte er mitleidig und nahm ihr den Wattetupfer aus der Hand, um sie zu verarzten.
„Geht schon! Ich kann das alleine“, wehrte sie ab.
Diesmal blieb er stur. „Halt still und hör auf zu meckern!“, entgegnete Gooch und begann behutsam, ihr die Hände zu säubern. Sie gab nach und ließ ihn machen. Als er fertig war, kramte er ein gelartiges Blasenpflaster aus dem Kasten, klebte es auf die Wunden und umwickelte ihre Hände mit einem selbstklebenden Elastikmull. Gooch hatte davon immer mehrere Päckchen dabei, weil es besser hielt und nicht verrutschte – sogar auf Hundefell.
„Besser?“, fragte er.
„Ja, danke“, meinte sie kleinlaut.
„Geh schon mal ins Zelt – ich komme gleich nach“, sagte er zu ihr, weil auch er einen gewissen Druck auf der Blase verspürte.
„Ich räume den Verbandkasten nur schnell weg“, erwiderte sie und machte keine Anstalten, das Feld zu räumen.
Er stellte sich an den Eimer und öffnete demonstrativ seine Hose. „Na dann!“, entgegnete er gleichgültig.
Joe ließ den Kasten stehen und flüchtete empört.
Nachdem sich Gooch die Hände im Schnee gewaschen hatte, räumte er den Verbandkasten weg, fischte noch eine Tüte Trail Mix aus dem Proviant und schloss das Flugzeug ab. Keet döste nach seiner Mahlzeit im Vorzelt, und Joe saß auf ihrer Isomatte und zog die Bunnys aus. Sie war wütend, weil er die Anspielungen nicht lassen konnte und sich, ohne Vorwarnung, fast vor ihr entblößt hätte. Dass sie die Nacht gemeinsam verbringen mussten, gehörte bestimmt auch zu seinem Plan, vermutete sie.
„Warum haben wir nur ein einziges Zelt?“, giftete sie ihn an, als er zurückkam.
„Weil dunkle Zelte auf dem Gletscher verboten sind und wir zur Zeit nur ein weißes und ein schwarzes auf der Station haben“, erklärte er sachlich. Natürlich hatte er sofort ihren bockigen Unterton bemerkt und ärgerte er sich, ihr geholfen zu haben. „Warum bist du so zickig? Hast du deine Tage?“, maulte er genervt.
Joe platzte jetzt endgültig der Kragen über so viel Distanzlosigkeit. „Nein! Ich kann auch ohne Hormonschwankungen pissig werden!“
Für ein paar Sekunden war es totenstill, dann brach Gooch in schallendes Gelächter aus. Das war mit Abstand das unzweideutigste ‚Nein‘, das ihm je eine Frau an den Kopf geknallt hatte. Er hielt sich den Bauch und wand sich förmlich in Krämpfen vor Lachen. Sie musste ihm keinen Stinkefinger zeigen – das konnte sie mit den Augen, stellte er fest, was ihn noch zusätzlich belustigte. Als er sich langsam beruhigt und die Tränen aus den Augen gewischt hatte, fragte er: „Warum machst du das? Was ist nur los mit dir, dass du alle Menschen um dich herum mit deiner brutalen Ehrlichkeit und deinem Sarkasmus vergraulen musst?“
„Brutal?“, stammelte sie, völlig irritiert von seiner Reaktion.
„Ja! Brutal! Jeder, der einfach nur freundlich zu dir ist oder es sogar wagt, mit dir zu flirten, bekommt prophylaktisch den Holzhammer über den Schädel gezogen. Und wenn das nicht reicht, fährst du den Stacheldrahtverhau hoch und verschanzt dich hinter deiner verbalen Selbstschussanlage. Dabei steckt hinter dem ganzen Stacheldraht doch eigentlich ein ganz nettes Mädchen. Warum lässt du nicht zu, dass dich jemand kennenlernen will? Ich rede jetzt nicht von mir. Ich habe meine Lektion gelernt – keine Sorge! Aber ich möchte gern verstehen, warum du das tust. Ich habe mir letzte Nacht den Kopf darüber zerbrochen, was ich falsch gemacht haben könnte, und kam nur zu der Erklärung, dass du eine verwöhnte Prinzessin bist, der ich nicht gut genug bin. Heute hast du mir bewiesen, dass ich damit falsch lag. Also, warum machst du das?“, fragte er sanft.
Joe war still geworden und betrachtete ihre Hände, weil sie nicht wusste, wo sie sonst hinsehen sollte. Er hatte sie durchschaut wie noch niemand vor ihm, und deshalb hatte er sich eine Erklärung verdient.
„Weil man dann nicht enttäuscht wird“, sagte sie leise. Er sah sie an und schwieg. „Als ich die Zusage von der UAS bekam, ging für mich ein Traum in Erfüllung. Aber als ich vor Freude meinen Eltern davon erzählte, bekam ich nur Vorwürfe zu hören. Da gibt es nur Ungeziefer und Wilde … Bären“, fügte sie schnell hinzu, um Gooch nicht zu beleidigen. „Das sei keine gute Reputation, meinten meine Eltern. Dabei ging es ihnen wieder einmal nur darum, was die High Society davon halten könnte. Mir hätte ein ‚Schön für dich‘ schon gereicht. Aber sie haben mir noch nie Anerkennung geschenkt. Du hattest schon recht, ich bin eine Prinzessin – aber ich mag Erbsen. Als ich klein war, hatte ich eine Nanny, später ging ich auf Internate. Dort lernst du nicht, dir Freunde zu machen; dort lernst du nur, deine Ellbogen zu benutzen – und so fing ich an, rebellisch zu werden, um wenigstens manchmal ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Besser als nichts.“ Sie lächelte traurig. „Deshalb schufte ich wie verrückt. Ich möchte dieses Projekt erfolgreich beenden und dann ein letztes Mal nach Hause fahren und sagen können: Ich habe es geschafft! Ich habe einen Doktortitel, einen Job und komme ohne euch klar! Bisher haben sie mein Studium immer nur als Laune belächelt. Umweltschutz ist ein Fremdwort für sie, das sie nicht betrifft und das man nicht ernstnehmen muss. Diese Ignoranz macht mich krank. Ich will beweisen, was ich kann, und sie danach nie wiedersehen!“
Betroffen sah Gooch sie an und begann zu begreifen, dass sie nur ein verletzliches Mädchen war, das sich verzweifelt nach ein bisschen Nestwärme sehnte.
„Das kann ich gut verstehen, aber warum vergraulst du auch Leute, die es gut mit dir meinen?“, fragte er ohne jeden Vorwurf in der Stimme.
Sie sah ihn betreten an. „Vertrauen ist für mich eine Mutprobe, der ich mich nur selten stelle. Ich habe das wirklich nicht böse gemeint, aber ich war so sauer wegen der Wette, und ich kann eine Ablenkung einfach nicht gebrauchen. Tut mir leid, dass es so unfreundlich klang“, meinte sie verlegen.
Er schüttelte den Kopf. „Du musst wirklich noch viel lernen. Das hättest du auch anders sagen können, ohne mich vor den Kopf zu stoßen. Dann hätte ich dir heute geholfenn und du hättest jetzt keine Blasen an den Händen. Aber weil du ja alles rein beruflich wolltest, tut es jetzt weh!“, lautete sein Resümee.
„Wie denn?“, fragte sie ratlos.
„Du hättest mich lediglich fragen müssen, ob wir nur Freunde sein können. Das erfordert vielleicht Mut, aber es tut nicht weh, ist völlig kostenlos und bedeutend mehr wert als ein flüchtiges Abenteuer!“, sagte er lächelnd.
Sie sah ihn verblüfft an. Konnte es wirklich so einfach sein? Er nahm vorsichtig ihre Hand. „Freunde?“
„Freunde“, sagte sie leise und nickte.
„War doch gar nicht so schwer! Wir kriegen dich schon wieder hin!“, meinte er ermutigend.
„Ich kann die Scherben allein zusammen kleben. Nicht wieder kaputtmachen – wäre schön“, sagte sie hoffnungsvoll.
Einem Impuls folgend nahm er sie wortlos in die Arme. Sie sträubte sich ein wenig, doch er hielt sie einfach nur fest. Dann ließ sie sich fallen, und die zornig gesprochenen Worte im Salon ihrer Mutter wurden Realität. Sie hockte hier mit Gooch in einer Höhle ohne Teppich und bekam von ihm das, was ihre Eltern ihr nie gegeben hatten: Wärme.
Nach einer Weile ließ er sie los. „Zeit zum Schlafen“, meinte er und schälte sich aus seinen Klamotten.
Joe stellte ihre Bunnys beiseite und schmunzelte. „Ich fand die Dinger gestern ganz grässlich, aber inzwischen gefallen sie mir richtig gut! Wenn ich wieder in New York bin, werde ich meiner Mutter den Gefallen tun und einmal ein Chanel-Kostüm dazu tragen. Dann können sie sich über die Stiefel aufregen oder lachen – ganz egal!“
Gooch grinste sie breit an. „Das ist der Unterschied zu Alaska. Hier würden alle über das Kostüm lachen!“, stellte er amüsiert fest.
Joe kicherte befreit und zog sich aus. „Dann bleibe ich lieber hier – das gefällt mir besser“, stellte sie fest, kramte einen karierten Schlafanzug aus Fleece mit Füßen und Kapuze aus ihrer Tasche und zog ihn über ihre lange Unterwäsche.
Gooch traute seinen Augen kaum. Er hatte beileibe kein Negligé erwartet – er trug selbst lange Unterwäsche – aber dieser Plüsch-Anzug war von Erotik so weit entfernt wie die Erde vom Pluto, selbst in Alaska. Fehlten nur lange Ohren an der Kapuze und ein Stummelschwanz am Hinterteil.
„Schicker Strampler!“, spottete er gutmütig.
„Nicht wahr?“, erwiderte sie und stellte sich in Positur. „Das ist mein mobiles Bett, für die Zeit zwischen Aufstehen und Wachwerden“, alberte sie und schloss den Reißverschluss.
Gooch schüttelte ungläubig den Kopf, rief den Hund rein und verschloss den Zelteingang. Keet rollte sich auf seiner Decke zusammen und gähnte herzhaft. Joe krabbelte in ihren Schlafsack, öffnete ihren Dutt und bürstete ihr langes Haar. Gooch bekam bei diesem Anblick, trotz Strampler, leuchtende Augen.
Zeitig am nächsten Morgen wurde er wach, weil Keet nach draußen wollte. Er öffnete kurz den Zelteingang, um den Hund rauszulassen, und gestattete sich noch ein paar Minuten, um Joe zu betrachten. Schlafend wirkte sie wie ein kleines Mädchen. Sie lag auf dem Bauch, ihre zerzausten Haare wurden von der Kapuze ihres Stramplers gebändigt, ihr Schmollmund war leicht geöffnet. Sie schlief tief und entspannt mit einer Hand unter dem Kinn. Am liebsten hätte er sich dazugelegt und sie wachgeküsst, aber diesen Gedanken verwarf er aus Sicherheitsgründen schnell wieder.
Stattdessen zog er sich an, schaufelte Schnee in den Topf und stellte diesen auf den Campingkocher. Wenig später war der Kaffee fertig, und er konnte es wagen, sie zu wecken. „Aufstehen!“, sagte Gooch und rüttelte sanft ihre Schulter.
Joe drehte sich murrend auf die Seite. Das süße kleine Mädchen war schlagartig verschwunden. Er versuchte noch mal sein Glück. „Die Sonne scheint! Wach auf!“
„Sehe ich aus wie Grünkohl? Ich mache keine Photosynthese!“, maulte sie.
Gooch schüttelte ungläubig den Kopf und empfand Mitleid mit Trisha.
„Dachte ich mir schon; deswegen ist auch kein Chlorophyll in deinem Kaffee“, konterte er.
Sie rappelte sich aus ihrem Schlafsack und brummelte: „Kaffee? Warum sagst du das nicht gleich?“