Читать книгу Tlingit Moon - Katja Etzkorn - Страница 9
Kleider machen Leute
ОглавлениеFrüh am Morgen warf Gooch die Pumpe an, die Wasser aus dem Felsbassin in den Boiler im Badezimmer beförderte, setzte Kaffee auf und zog seine Laufschuhe an. Die Eroberung des vergangenen Abends hatte er spät in der Nacht noch zurück zum Schiff gefahren und sich mit einem Kuss für immer von ihr verabschiedet. Nach der ersten Tasse Kaffee startete Gooch sein übliches Morgenprogramm: zehn Meilen laufen. Keet wartete schon auf der Veranda und trabte begeistert mit. Als die beiden zurückkehrten, ging Keet schwimmen, während Gooch noch Liegestützen und Situps machte. Das Wasser im Boiler war inzwischen heiß genug zum Duschen. Es war einer der seltenen sonnigen Tage, und der Wetterbericht im Radio versprach geradezu sensationelle zweiundzwanzig Grad. Das kam selten genug vor und bewegte die Bewohner der Küste für gewöhnlich dazu, fast alle Hüllen fallen zu lassen, um ja keinen Sonnenstrahl zu verpassen. Hier nahm gewöhnlich warme und wasserdichte Kleidung ganze Schränke ein, während sommerliche Bekleidung gerade einmal eine Schublade füllte.
Gooch war da keine Ausnahme. Nach dem Duschen schlüpfte er in die einzige kurze Hose, die er besaß, eine übergroße Basketballshorts, die ein ganzes Stück unter dem Knie endete, ein dazu passendes Tanktop und Badelatschen. Er hatte heute nur einen Frachttransport nach Juneau auf dem Plan, sollte dort einen weiteren Studenten auflesen und zur Forschungsstation nach Bartlett Cove fliegen. So blieb ihm genügend Zeit, um in Ruhe zu frühstücken. Er warf Keet einen getrockneten Ketalachs zu, die traditionelle Hundenahrung. Diese Fischart war sehr fett und dementsprechend energiereich, schmeckte aber nicht so gut wie Königs- oder Silberlachs. Deswegen bekamen ihn die Hunde. Keet war das egal, und er verzog sich zufrieden mit seinem Fisch hinters Haus.
Joe hatte am Morgen das Haus verlassen, ohne sich von ihren Eltern zu verabschieden. Nathaniel hatte sie zum JFK Airport gefahren, und nun war sie auf dem Weg nach Seattle. Nach allem, was in der letzten Zeit vorgefallen war, fiel es ihr nicht schwer, New York den Rücken zu kehren. Es war für alle besser so. Sollte sich die Schickimicki-Horde ihrer Mutter doch das Maul über sie zerreißen und „wilde“ Spekulationen anstellen. Es war ihr egal. Genaugenommen war es ihr sogar recht, denn der Tratsch würde ihre Mutter an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treiben. Joe wollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Sie hoffte auf ein paar nette Kollegen und freute sich auf ihre zukünftige Arbeit. Der gesamte Flug, inklusiv Zwischenstopp in Seattle, dauerte fast zehn Stunden. Die Zeitverschiebung abgerechnet würde sie am Nachmittag Ortszeit in Juneau ankommen. Wie es dann weitergehen sollte, wusste sie noch nicht; man hatte ihr nur mitgeteilt, dass sie dort jemand abholen würde. Joe stellte die Rückenlehne etwas zurück, sah aus dem Fenster und gab sich ihren Tagträumen hin. Endlich frei!
Gooch genoss seinen Flug nach Juneau. Die Sonne schien, und mit der Fracht, die er an Bord hatte, musste er sich nicht unterhalten. Obwohl er schon unzählige Male das Gebiet der Inside Passage überflogen hatte, konnte er sich nie sattsehen an dieser Landschaft, die schon seit Jahrtausenden die Heimat seines Stammes war. Inzwischen hatte er nicht mehr das Bedürfnis, diesen Teil der Welt zu verlassen. Warum auch? Die Zeit lief hier langsamer, Lärm und Hektik einer Großstadt brauchte er nicht. Nicht einmal in Juneau war es besonders hektisch. Nur wenn die Passagiere der Kreuzfahrtschiffe die Innenstadt bevölkerten, wurde es manchmal etwas voll. Aber genau das sicherte sein Einkommen und sorgte für ein gut gefülltes Auftragsbuch. Er konnte sich keinen besseren Job vorstellen.
Wenig später kontaktierte er den Tower von Juneau und bat um Landeerlaubnis. Aufgrund des hohen Flugaufkommens verwies man ihn zum Wasserlandeplatz. Er bestätigte die Angaben des Towers und schwenkte in Richtung Wasser ab. Der Tower erteilte die Freigabe zur Landung, und kurz danach setzten die Schwimmer der Beaver auf der Wasseroberfläche auf. Nachdem er den Anleger erreicht und seine Maschine vertäut hatte, begann er die Ladung aus der Kabine zu räumen und baute danach die Sitze wieder richtig ein. Ein kleiner Transporter fuhr auf den Anleger zu, um die Fracht aufzuladen. Der Wagen hielt, der Fahrer stieg aus und grüßte.
„Hey, George!“, grüßte Gooch zurück. „Kannst du mich gleich am Terminal absetzen? Ich muss einen Passagier abholen.“
„Klar! Kein Problem“, erwiderte der Fahrer und wuchtete die letzte Kiste in den Wagen. Gooch fischte noch seine Notizen aus dem Cockpit, bevor er sich ins Auto setzte. Auf dem Weg zum Terminal suchte er die Flugnummer und den Namen seines Passagiers aus den Notizen. Er sollte um kurz nach drei mit der Maschine aus Seattle landen. Er schaute auf seine Uhr und beschloss, sich die Wartezeit mit einem Kaffee zu versüßen.
Joe war in Seattle umgestiegen und befand sich kurz vor Juneau. Aufgeregt blickte sie aus dem Fenster. Die Coast Mountains kamen immer näher, und bald konnte man nichts anderes mehr sehen. Der Meeresarm war auf der anderen Seite der Kabine und blieb vorerst unsichtbar für sie. Zwanzig Minuten später zog sie ihren Koffer vom Laufband an der Gepäckausgabe, schulterte ihre Tasche und machte sich auf den Weg in die Halle des Terminals. Dort angekommen hielt sie Ausschau nach der Person, die sie abholen sollte.
Etwas gelangweilt hob Gooch das kleine Pappschild mit dem Namen seines Passagiers hoch und hielt nach den üblichen Verdächtigen Ausschau. Junger Mann mit Brille, Flanellhemd und Computertasche unter dem Arm. Mit ein paar kleinen Abweichungen kam das für gewöhnlich hin. Dann erregte der Anblick einer jungen Frau seine volle Aufmerksamkeit. Sie war schlank und zierlich, steckte in einer Röhrenjeans und einem grobgestrickten Oversize Pulli mit tiefem V-Ausschnitt. Ihr schmales, mädchenhaftes Gesicht wurde von zimtfarbenen Haarsträhnen umrahmt, die sich aus dem gewollt unordentlichen Knoten gelöst hatten. Sie trug kein Make-up – trotzdem wurde ihr Gesicht von ihren ausdrucksvollen Katzenaugen beherrscht. Lange, dunkle Wimpern und gerade, volle Brauen ließen sie noch größer erscheinen. Sie hielt kurz inne und schaute sich um. Gooch vergaß für einen Moment alles um sich herum, und seine Kinnlade sackte leicht nach unten, als sie ihn ansah.
„Sportaffe“, dachte Joe, als sie den dümmlich dreinblickenden Mann im Basketball-Outfit entdeckte, der ein Schild mit ihrem Namen hochhielt. Während sie auf ihn zu ging, musterte sie ihn genauer. Vom leicht beschränkt wirkenden Gesichtsausdruck einmal abgesehen – oder vielleicht gerade deswegen – wirkte er sehr maskulin. Groß, schlank, durchtrainiert, mit einem schönen Gesicht und den breiten Schultern war er in der Schule gewiss der Schwarm aller Mädchen gewesen. Auch das Tanktop und die Tattoos fand sie noch recht attraktiv, aber von der Taille an abwärts wurde es dann kriminell. Nun hieß es zwar: Einen schönen Menschen entstellt nichts, aber das stimmte nicht ganz. Wer war nur auf die Idee gekommen, Männer in kurze Hosen zu stecken? Die sackförmigen Basketballshorts, die seine Waden umspielten, gaben den Blick auf haarige Kalkstelzen preis und konnten damit auch die riesigen, mit Badelatschen verzierten Füße nicht kaschieren. Offensichtlich brauchten auch Ureinwohner gelegentlich Sonne, um braun zu werden. Joe schmunzelte bei dem Gedanken, was wohl ihre Mutter täte, wenn dieser junge Mann auf dem heiligen Teppich im kaiserlichen Salon stehen würde. Die Nationalgarde rufen oder gleich tot umfallen?
Dieser Engel schwebte weiterhin auf Gooch zu, und als er bemerkte, dass sie ihn musterte, verfluchte er zum ersten Mal in seinem Leben das schöne Sommerwetter. Seine Traumfrau stand vor ihm, und er sah aus wie ein Idiot! ‚Verdammter Mist!‘, stöhnte er im Geiste und verwünschte gleichzeitig auch die Sekretärin der Forschungsstation, die ihm offensichtlich einen unvollständigen Namen gegeben hatte, denn das hinreißende Geschöpf blieb vor ihm stehen und lächelte ihn an.
„Hi, ich bin Joe Cunningham. Bringen sie mich nach Barlett Cove?“, fragte sie und hielt Gooch die Hand hin.
Noch nie hatte er solche Augen gesehen. Helles Eisgrün. Wie die Farbe des Wassers, wenn es Eisbrocken umspülte, oder Grünspan auf Kupfer. Einen Moment lang starrte er wie paralysiert in ihr Gesicht; dann riss er sich zusammen, ergriff ihre Hand und räusperte sich, um ein halbwegs vernünftiges Wort herauszubringen. „Hi, ich bin Gooch McKenzie. Die Station hat mich geschickt. Kann ich dir den Koffer abnehmen? Es ist ein weiter Weg zum Anleger.“ Er versuchte ein charmantes Lächeln aufzusetzen. Doch er stand immer noch neben sich, und all seine sonst üblichen Strategien versagten kläglich.
Seine dunkle, rauchige Stimme brachte eine Saite in Joe zum Schwingen, als er wie selbstverständlich ihren Koffer ergriff.
„Danke schön“, sagte sie und schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln.
Wieder versank er in diesen großen, grünen Katzenaugen und brachte kein Wort heraus. Draußen ließ die Sonne Joes zimtbraunes Haar rötlich schimmern. Ein paar Sommersprossen tummelten sich auf ihrer frechen Stupsnase, und der Schmollmund ließ Gooch nur noch ans Küssen denken.
Während sie zum Anleger gingen, wollte er etwas Nettes sagen, aber sein Sprachzentrum hatte immer noch Ladehemmung. „Du verursachst also den Klimawandel?“, hörte er sich sagen und biss sich direkt danach auf die Zunge, als er ihre Reaktion bemerkte.
Die schwingende Saite in Joe riss mit einem Knall und verursachte ebenfalls einen Wandel – einen Stimmungswandel. Er wanderte von der Schublade, die sich Sport- und Lackaffen teilten, eine Etage tiefer in die unterste Macho-Schublade, und im Geiste drehte Joe noch den Schlüssel um und warf ihn weg.
Eigentlich hatte er vorgehabt, etwas zu sagen wie: Du hast gutes Wetter mitgebracht. Aber sie war heiß. In seinem momentanen Geisteszustand hatte er Wetter mit Klima assoziiert, und Sigmund Freud hatte ihm prompt ein Bein gestellt. Er konnte nicht ahnen, dass er eine Punktlandung im Fettnapf gemacht hatte.
„Ich erforsche die Auswirkungen des Klimawandels!“, erwiderte sie scharf.
Jetzt war er sich des Fettnapfes deutlich bewusst und beschloss, bis Barlett Cove die Klappe zu halten, um ja keine Wellen zu machen. Falls das überhaupt möglich war. Den Rest des Weges schwiegen sie.
Als sie den Anleger erreichten, staunte Joe nicht schlecht. Sie hatte mit einem Boot gerechnet, nicht mit einem Wasserflugzeug. Schneeweiß und rot lackiert dümpelte die Maschine am Steg und glänzte in der Sonne.
„Cool!“, rutschte es ihr heraus. Sie bereute es gleich, als sie merkte, dass diese Äußerung seine Macho-Mühlsteine erneut in Gang gesetzt hatte.
Nach dem Bauchklatscher hatte Gooch sich wieder im Griff und lächelte souverän, während er ihren Koffer auf die hinteren Sitze verfrachtete, damit nur noch der Platz neben ihm frei war. Er lief auf dem Schwimmer entlang, tauchte unter dem Flügel durch und öffnete ihr galant die Tür. Joe kletterte hinein und setzte sich. Gooch löste die Taue und verstaute sie im Fußraum, dann kletterte er auf der anderen Seite ins Cockpit.
Während er die Checkliste abarbeitete, sah sie sich um und bemerkte erst jetzt, dass es sich gar nicht um ein natürliches Gewässer handelte. Es war vielmehr ein riesiges Bassin direkt neben der asphaltierten Landebahn.
„Schnall‘ dich bitte an und setz die Kopfhörer auf“, sagte er zu ihr. Dann rief er den Tower über Funk. Er startete den Motor, nachdem er die Startfreigabe erhalten hatte, und brachte die Maschine in Position.
„Beaver November Sierra Zulu. Ready for take off. Over“, meldete Gooch dem Tower.
Einen Moment später erhielt er die Startgenehmigung. „Approved. Beaver November Sierra Zulu. Over and out“, kam es über die Kopfhörer.
Gooch gab Gas. Immer schneller glitt die Maschine übers Wasser und hob kurz danach ab. Er schwenkte nach links und zog die Beaver hoch, nachdem er die Einflugschneise verlassen hatte. Vor ihnen lagen nun offenes Wasser und die Nordspitze von Admirality Island. Joe stand vor Begeisterung der Mund offen, dann strahlte sie über das ganze Gesicht. Der Anblick, der sich ihr bot, war atemberaubend schön. Unter ihnen funkelte das Wasser des Lynn Canal so blau wie ein Saphir. Wild zerklüftete Fjorde schnitten sich tief in die Inseln, und die Hänge der Berge waren dicht bewaldet.
Hinter Admirality Island lag die Icy Strait. Gooch nahm Kurs auf Bartlett Cove. Links von ihnen lag ein Kreuzfahrtschiff vor einer Insel. Ein zweites fuhr in ihrer Richtung mit Kurs auf die Glacier Bay.
„Ist das Icy Strait Point?“, fragte Joe unverbindlich und deutete auf die Schiffe.
Er nickte. „Ja, und an der Südseite des Berges liegt Hoonah.“
Joe hatte sich ein wenig belesen, um mehr über die Gegend zu erfahren, und wusste, dass in Hoonah hauptsächlich Tlingit lebten. Sie ging davon aus, dass auch er dort wohnte, und wurde neugierig. „Was bedeutet Gooch?“, fragte sie weiter und betrachtete ihn. Von der Seite war er irgendwie noch schöner, und da seine nackten Beine nun unter der Armaturenkonsole verschwanden, störten sie nicht länger ihr ästhetisches Empfinden. Sein klassisches Profil wirkte ausgesprochen männlich, und den dunklen Bartschatten fand sie aufregend sexy. Allerdings hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, bevor sie das zugeben würde. Erst jetzt fiel ihr der unglaublich lange Zopf auf.
„Wolf. Kaagwaantaan áyá xát“, erwiderte er schmunzelnd auf Tlingit.
Joe verstand kein Wort und hakte nach. „Was heißt das?“
„Ich bin vom Wolfs-Clan. Aber mein Name hat damit nichts zu tun. Wofür steht Joe?“, wollte er jetzt seinerseits wissen, um von seinem Namen abzulenken.
Sie zögerte einen Moment – fragen war noch erlaubt, nur aussprechen nicht. „Josephine, aber ich hasse diesen Namen“, warnte sie ihn vor.
Gooch warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte. „Ist doch eigentlich ganz hübsch. Familiäre Altlasten?“, mutmaßte er, weil ihr Name nicht so schrecklich war, wie er erwartet hatte.
Sie nickte nur.
„Kenn ich“, meinte er leidgeprüft. „Na, dann hoffe ich für dich, dass die Leute auf der Station nicht auch annehmen, dass du ein Mann bist. Ansonsten musst du dir wohl in den nächsten Wochen mit einem anderen Kerl das Zimmer teilen“, bemerkte er noch amüsiert.
Joe sah ihn entsetzt an. Erst jetzt ging ihr ein Licht auf, warum er sie so irritiert angeschaut hatte; denn dümmlich, wie er anfangs auf sie gewirkt hatte, war er nicht. So viel hatte sie inzwischen festgestellt. Das war für Joe allerdings noch lange kein Grund, ihn aus der Macho-Schublade zu entlassen.
„Ich bleibe ein ganzes Jahr“, bemerkte sie mit der bangen Hoffnung, dass die Uni ihre vollständigen Unterlagen zur Station geschickt hatte. Die Aussicht, sich mit einem wildfremden Mann das Zimmer teilen zu müssen, behagte ihr ganz und gar nicht.
Gooch hingegen feierte im Geiste gerade eine Party. Wenn sie auch den Winter auf der Station verbringen würde, gab ihm das die Gelegenheit, sich die Saure-Gurken-Zeit zu versüßen. Er setzte Joe auf seine Abschussliste und grinste zufrieden.
„Wo liegt dein Forschungsschwerpunkt? Gletscherschmelze?“, erkundigte er sich, um das Gespräch am Laufen zu halten.
Sie lächelte erfreut darüber, dass sich endlich mal jemand für ihre Arbeit interessierte. „Ja, hauptsächlich geht es um die steigende Kohlendioxid-Anreicherung im Meer, die durch die erhöhte Schmelzwasserzufuhr nicht mehr gepuffert werden kann und zu einem steigenden Säuregehalt des Meeres führt. Das kann ganze Ökosysteme aus dem Gleichgewicht bringen. Erst recht ein so sensibles Ökosystem wie dieses hier“, erklärte sie ihm ernst. „Kennst du dich damit aus?“
Gooch nickte. „Ich arbeite schon ein paar Jahre für die Forschungsstation und den Nationalpark. Da bekommt man mit der Zeit so einiges mit. Hast du schon einen bestimmten Gletscher im Visier?“
„Nein, ich muss mich mit den Einzelheiten erst noch vertraut machen, aber ich bin nur an den Gezeitengletschern interessiert“, gab sie zurück.
Vor ihnen tauchte Bartlett Cove auf. Gooch sah auf die Tankanzeige und überlegte kurz. Es lief gerade so gut, und er wollte sie noch nicht vom Haken lassen. „Davon haben wir hier reichlich. Möchtest du dir einen aussuchen?“
„Wie meinst du das?“, fragte sie irritiert.
Er antwortete nicht, sondern drehte etwas ab in Richtung Glacier Bay. Bald darauf kamen die ersten Gletscher in Sicht. Vorbei am Reid-Gletscher flog er immer tiefer in die Bucht. Eisbrocken trieben an der Wasseroberfläche des Meeresarms. Am Ende erreichten sie die Abbruchkante des Grand-Pacific-Gletschers. Völlig hingerissen starrte Joe auf dieses großartige Naturschauspiel. Bläulich-weiß präsentierte sich diese gewaltige Gletscherwand, durchzogen von grünen und türkisfarbenen Adern aus klarem Eis. „Mein Gott, sind das wunderschöne Farben!“
„Wie deine Augen“, schwärmte er unverhohlen.
Nun konnte Joe mit dem boshaft geheuchelten Smalltalk im Salon ihrer Mutter wesentlich besser umgehen als mit ernstgemeinten Komplimenten junger Männer, und so errötete sie leicht und schwieg.
Er bemerkte ihre Reaktion und drehte zufrieden ab. Damit hatte er die Scharte des Freudschen Klimawandels wieder ausgewetzt, hoffte er.
„Kannst du noch ein Stück über den Gletscher fliegen?“, fragte sie.
„Nein, leider nicht. Hier verläuft die Grenze zu Kanada. Ohne Genehmigung darf ich nicht in den kanadischen Luftraum, und ich würde meine Fluglizenz gerne behalten“, erklärte er.
„Klar“, meinte sie und warf einen vorerst letzten Blick auf den Giganten aus Eis. „Das war toll! Danke!“ Sie strahlte ihn an.
Zufrieden mit seinem Erfolg, begann Gooch ein Lied zu summen, dessen Melodie Joe irgendwie bekannt vorkam. „Come Josephine, in my flying maschine. Going up she goes, up she goes … up, up a little bit higher, oh, my, the moon is on fire … Come Josephine, in my flying machine …“, sang er mit dieser rauchigen Stimme, von der Joe eine Gänsehaut bekam.
Als sie den Text hörte, fiel ihr wieder ein, woher sie dieses Lied kannte. „Titanic? Echt jetzt?“, spottete sie, weil sie dieses Lied für eine schmalzige Aufreißermasche hielt.
Gooch sah sie irritiert an. „Was hat ein Schiff damit zu tun?“
„Dieser Song ist aus dem Film Titanic“, erklärte sie.
Gooch schüttelte den Kopf. „Kenne ich nicht. Dieser Song ist bedeutend älter als dein Hollywood-Schinken. Er erschien 1910 und basiert angeblich auf der Geschichte von Josephine Sarah Magner, die im Jahr 1905 der erste weibliche Fallschirmspringer Amerikas war. Fiel mir ein, als ich deinen Namen hörte.“
Joe staunte nicht schlecht über seine Geschichtskenntnisse. Vielleicht hatte sie ihn ja tatsächlich unterschätzt. „Na, hoffentlich brauche ich nie einen Fallschirm.“
„Nicht, solange du mit mir fliegst! Ich beherrsche meinen Job!“, erklärte er.
Kurze Zeit später landete Gooch auf dem Wasser vor Bartlett Cove. Sie wurden schon erwartet: Ein Ranger des Parks stand vor einem Geländewagen, um Joe abzuholen. Er grinste breit, als sie aus der Kabine kletterte. Gooch half ihr auf den Steg und holte noch ihren Koffer und die Tasche aus dem Flugzeug.
„Hey, Ben!“, begrüßte er den Ranger.
„Hey, Gooch! Ich dachte schon, du hast dich verflogen“, spottete Ben, denn als er sah, was sein Cousin da mitgebracht hatte, war ihm klar, warum der Flug länger als üblich ausgefallen war. Er lud Joes Gepäck in den Wagen und setzte sich hinein.
Gooch erwiderte nichts, sondern verabschiedete sich von Joe. „Bis morgen Abend“, stellte er fest und lächelte vielsagend.
Joe saß auch schon im Auto und sah ihn überrascht an. „Wieso? Was ist morgen Abend?“
Er lehnte sich ans Auto und beugte sich zu ihr hinunter. „Ach, weißt du, ein Tag ohne mich ist zwar theoretisch möglich – aber wer will das schon?“, stellte er selbstbewusst fest, klopfte auf das Autodach und lief zurück zum Flugzeug.
‚Aufschneider – Geschichtskenntnisse hin oder her!‘, dachte Joe und sah ihm perplex nach.
Ben grinste immer noch. „Gooch?“, rief er ihm hinterher. Der drehte sich um. „Schicke Hose!“, meinte Ben und fuhr lachend davon.
Im Spiegel konnte Joe erkennen, wie Gooch dem Ranger den Stinkefinger zeigte, und musste unwillkürlich grinsen. „Ist er immer so?“, fragte sie.
Ben lachte und meinte: „Dazu sage ich lieber nichts. Gooch ist mein Cousin. Aber morgen Abend ist eine Willkommensparty für die Neulinge der Station. Da kommen alle, die hier arbeiten“, erklärte er. „Ich bin Ben McKenzie, einer der Ranger des Parks.“
„Joe Cunningham“, stellte sie sich vor und musterte ihn ebenfalls unauffällig. Ben hatte im Gegensatz zu Gooch einen modischen Kurzhaarschnitt. Er war schätzungsweise ein paar Jahre älter und wirkte reifer und vernünftiger als sein Cousin. An seiner linken Hand trug er einen Ehering. Das erklärte dann auch, warum er vernünftiger wirkte.
„Ist das die Forschungsstation?“, fragte sie, als sie an einem großen Gebäude aus Holz, mit spitzen Gaubenfenstern und einer großen Veranda, vorbeifuhren.
„Nein, das ist die Lodge – ein Hotel mit etlichen kleineren Holzhütten für Touristen. Die Station liegt tiefer im Wald“, erklärte er ihr.
Die schmale Straße wand sich in mehreren Kurven durch das Waldgebiet. Ein abzweigender Weg führte zur Parkverwaltung und Ranger-Station, erfuhr sie von Ben. Danach zog sich die Straße schnurgerade immer tiefer in den Urwald aus Sitkafichten, Hemlock- und Schierlingstannen, dazu noch ein paar Zypressen und Küstendouglasien. Das Unterholz aus Farnen, moosbewachsenen Steinen, Blaubeeren und dem stacheligen Devil‘s Club war so dicht, dass man kaum einen Meter hineinsehen konnte, und von den Ästen und Stämmen hingen dichte Flechten – typisch für das feuchte Klima der Küstenregion. Ben bog links ab auf eine gerodete Lichtung. Mehrere kleinere und ein großes Gebäude verteilten sich über den Platz. „Da wären wir“, verkündete Ben und parkte vor dem Haupthaus.
Der Zufall hatte Gooch noch ein paar Fluggäste beschert, die sich spontan entschlossen hatten, mit nach Hoonah zu fliegen. Er freute sich über den zusätzlichen Verdienst und nahm Kurs auf Chichagof Island. Doch noch mehr freute er sich über die neuen Aussichten, die ihm dieser Tag beschert hatte. Joe war eine lohnenswerte Beute. Er dachte an ihre grünen Augen und legte sich eine Strategie zurecht, um möglichst viel Zeit mit ihr verbringen zu können – und da kam ihm seine Arbeit für die Station gerade recht. Ben war zuständig für die Einteilung der Begleitpersonen der einzelnen Forschertrupps. Je nach Forschungsgebiet standen Boote oder Flugzeuge zur Verfügung, um die Wissenschaftler an Ort und Stelle zu bringen. Ranger begleiteten die Exkursionen, um für Sicherheit zu sorgen, aber auch einheimische Guides wie Gooch. Er lächelte siegesgewiss und setzte zur Landung vor der Seaplane Base in Hoonah an. Nachdem er seine Passagiere verabschiedet und sein Flugzeug vertäut hatte, schwang er sich in sein Auto und fuhr auf der Küstenstraße nach Hause. Ein Abendessen mit seiner Mutter vermied er tunlichst. Sie hätte ihm seinen frisch erwachten Jagdmodus sofort angesehen und ihm Löcher in den Bauch gefragt.
Leah war wie eine Eule. Sie sah alles und hörte alles, näherte sich lautlos – und noch ehe man sich der Gefahr bewusst wurde, saß man schon in ihren mütterlichen Klauen fest. In Ermangelung von Geschwistern war Gooch für gewöhnlich ihr bevorzugtes Opfer – deswegen auch der räumliche Sicherheitsabstand. Zwar war er nicht so naiv zu glauben, dass seine Mutter annahm, er könnte noch grün hinter den Ohren sein. Aber sich mit einem One-Night-Stand erwischen zu lassen, wäre ihm mehr als peinlich gewesen.
Er parkte vor dem Haus und hielt Ausschau nach Keet. Der Hund war Tag und Nacht draußen, stromerte durch die Gegend, ging schwimmen, fing Fische und hielt aufdringliche Bären vom Haus und von den Mülltonnen fern. Selbst im Winter zog er es vor, draußen zu schlafen, denn wie alle Schlittenhund-Rassen liebte er Eis und Schnee und war von der Natur mit einem dicken, dichten Pelz ausgestattet. Zum Schutz vor Dauerregen oder eisigem Wind hatte Gooch ihm eine komfortable Hundehütte auf der Veranda gezimmert. Dieser Hund war sein Ein und Alles. Mit ihm saß er Abends vor dem Haus und vertraute ihm seine Gedanken an. Keet hörte aufmerksam zu und tratschte nicht.
Unweit des Hauses lief irgendetwas krachend durchs Unterholz, dann erschien Keet mit einem Fisch im Maul. Wedelnd lief er auf Gooch zu und legte ihm einen kapitalen Chinook, einen Königslachs, den er aus der nahegelegenen Bucht gezogen hatte, vor die Füße.
„Hey, mein Großer, das wäre aber nicht nötig gewesen“, sagte Gooch und begrüßte seinen Hund. „Wie ich dich kenne, hast du nicht mit dem Essen auf mich gewartet?“, fragte er und nahm den Fisch an sich. Wie zur Bestätigung rülpste Keet und rollte sich satt und zufrieden auf der Veranda zusammen. Gooch nahm den Fisch aus, schnitt den Kopf ab und faltete ihn auseinander. Auf einen gespaltenen Zweig gespießt und am Feuer halb geräuchert, halb gegrillt – eine echte Delikatesse. Er machte ein kleines Feuer vor dem Haus, bohrte den Zweig neben den Flammen in den Boden und verkürzte die Wartezeit bis zum Essen mit einem Bier.
Joe hatte inzwischen einen Rundgang über die Station absolviert und ihr Zimmer bezogen. Zum Glück für sie hatten sich ihre Befürchtungen nicht bewahrheitet. Ihre Zimmergenossin hieß Trisha, hatte eine Rubensfigur, lustige blonde Locken, die ihr wild ins Gesicht hingen, und eine fröhliche, hilfsbereite Art. Joe mochte sie sofort. Trisha gehörte zur Stammbesatzung der Station und war als Chemikerin der gute Geist des Labors.
„Hat Gooch dich hergebracht?“, fragte sie mit einem verräterischen Leuchten in den Augen, während Joe ihren Koffer auspackte.
Joe lachte spöttisch. „Du meinst diesen aufgeblasenen Schönling?“
Trisha sah sie erstaunt an. „Okay, er ist ein bisschen von sich eingenommen, aber optisch ist er ein echter Leckerbissen.“ Sie grinste.
Joe klappte den leeren Koffer zu und schob ihn unter ihr Bett. „Mag sein, aber ich verzichte dankend, bevor ich mir an diesem Leckerbissen den Magen verderbe.“
Trisha fing an zu kichern. „Davon bin ich weit entfernt, aber Appetit holen ist erlaubt. Verhungern kann ich immer noch zu Hause“, meinte sie selbstironisch.
„Blödsinn!“, versuchte Joe sie aufzumuntern. „Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“
„Hilft mir nicht! Ich brauche Namen und Adressen! Du hast leicht reden, du hast den Richtigen bestimmt schon gefunden“, stellte Trisha neidlos fest.
Joe schüttelte den Kopf. „Nein – entweder schwenken die Typen ihre Kreditkarten wie ein Pavian seinen roten Hintern, oder sie haben keine Karte und trommeln sich stattdessen auf die Brust wie ein Berggorilla. Ich kann auf beide Sorten verzichten“, versicherte sie.
„Und was suchst du?“, wollte Trish wissen.
„McGyver, nur in hübsch mit Holzfällerhemd und Axt. Bereit, jedem Umweltsünder den Schädel zu spalten!“, alberte Joe und fiel in Trishas Lachen ein.
„Ich bin froh, dass du da bist“, meinte Trisha. „Deine Vorgängerin hatte absolut keinen Humor – und ihr einziges Gesprächsthema waren Foraminiferen.“
„Na, das ist doch ein evolutionärer Quantensprung! Von den Einzellern zu den Primaten“, bemerkte Joe sarkastisch und lachte.
Währenddessen hatte sich jemand ins Büro geschlichen und durchforstete hektisch die Unterlagen der Neuankömmlinge. Als er fündig wurde, hielt er inne und begann interessiert zu lesen. Wenig später schlug er die Akte zu, schob sie zurück in den Stapel und notierte sich einen Namen.
Josephine Marie Cunningham.