Читать книгу Tlingit Moon - Katja Etzkorn - Страница 8
Die große, weite Welt
ОглавлениеEs war zwei Uhr nachmittags. Gooch saß auf dem Pilotensitz seiner de Havilland Beaver, ging die Checkliste durch und ließ sich die aktuellen Wetterdaten durchgeben. Neben und hinter ihm saß eine Familie, die bei ihm einen Rundflug über die Insel und die Glacier Bay gebucht hatte.
Wolkenfetzen hingen hartnäckig in den Zedern und Tannen, die an den Hängen von Hoonah wuchsen, und es nieselte leicht. Nicht unbedingt das beste Wetter für einen Rundflug, aber wenn er tief genug fliegen würde, kämen die Gäste trotzdem auf ihre Kosten. Gutes Wetter war selbst während der Sommermonate Mangelware in Alaska. Die Südost-Küste war eines der regenreichsten Gebiete der USA. Wer hier Urlaub machte, hatte besser eine Regenjacke im Gepäck.
Die Maschine rollte auf die Startbahn, beschleunigte und hob ab. Die Landschaft unter ihnen wurde kleiner, und erst jetzt, oberhalb der waldreichen Hänge des White Alice Mountain, hatte man einen atemberaubenden Ausblick. Bis zum Gletscherfeld reichte die Sichtweite allerdings nicht.
Hoonah war ein Fischerdorf im Norden von Chichagof Island, die Huna Tlingit lebten schon seit Jahrhunderten in dieser Region. Ursprünglich hieß der Ort Gaawt‘ak.aan, was so viel bedeutete wie ‚Dorf an der Klippe‘. Später änderte man den Namen in Xu.naa, ausgesprochen Hoonah – ‚Wo der Nordwind nicht weht‘. Die Insel lag in der Inside Passage an der Südost-Küste Alaskas. Hier lebten hauptsächlich Alaskas Ureinwohne: Tlingit und auch Haida, die weiter aus dem Süden stammten. Etwa fünfzig Kilometer westlich auf dem Festland klebte Juneau, die Hauptstadt Alaskas, an den Felswänden der Coast Mountains. Die einzige Hauptstadt, die nicht per Auto erreichbar war. Wollte man hierher, ging das nur per Schiff oder Flugzeug. Gleiches galt, wenn man weg wollte.
Das war der einzige Grund, warum Gooch immer noch auf der Insel lebte. Als Teenager hatte er immer davon geträumt, diesen isolierten Flecken am Ende der Welt zu verlassen, aber ohne Geld war das unmöglich. Sich an eine Straße stellen und trampen, führte buchstäblich in eine Sackgasse. Willkommen in Alaska!
Seinen Traum, Pilot großer Verkehrsmaschinen zu werden und die Welt kennenzulernen, hatte er schon früh begraben müssen. Diese Ausbildung kostete ein Vermögen. Seine Mutter hatte ihn allein großgezogen und kam damals gerade so über die Runden. Stattdessen hatte er auf dem kleinen Flughafen in Hoonah gejobbt und sich das Geld für Flugstunden mit einmotorigen Maschinen verdient. Inzwischen war er siebenundzwanzig und besaß seine eigene de Havilland Beaver amphibian mit Schwimmern und ausfahrbarem Fahrwerk, was eine Landung auf dem Wasser und auf dem Land ermöglichte – in Alaska einfach unerlässlich. Das Innere einer großen Verkehrsmaschine hatte er noch nie zu sehen bekommen, aber es wurmte ihn nicht mehr, denn die große, weite Welt kam mittlerweile zu ihm. Die ganze Sommersaison hindurch legten große Kreuzfahrtschiffe aus Seattle und Vancouver am Icy Strait Point an und brachten Touristen und damit Geld auf die Insel. Sie brachten auch noch etwas anderes – Goochs bevorzugte Jagdbeute: junge Frauen.
Nein, er war kein Serienkiller – nur ein Schürzenjäger. Gooch bedeutete in der Sprache seines Volkes, der Tlingit, Wolf und dieser Name passte ausgesprochen gut zu ihm: immer auf der Jagd. Er war ein Alphamännchen wie aus dem Bilderbuch – eitel und sehr von sich überzeugt. Um seine Beute möglichst schnell zu ködern, legte er viel Wert auf sein Äußeres. Er stemmte in jeder freien Minute Gewichte, trug einen gepflegten Zwei-Tage-Bart, hatte seine Arme vom Handgelenk bis zur Schulter mit Tattoos verzieren lassen, und sein langes, schwarzes Haar verlieh ihm den eisgekühlten exotischen Touch. Mutter Natur hatte es in dieser Hinsicht mehr als gut mit ihm gemeint. Neben dem ebenmäßigen Gesicht mit den hohen, kantigen Wangenknochen und den leicht schrägstehenden schwarzen Augen hatte sie ihm auch Charisma mit auf den Weg gegeben.
Gewöhnlich reichte das völlig, um Gooch die Mädchenherzen zufliegen zu lassen. Falls es mal nicht reichte, half er mit Charme und Witz etwas nach, aber letztendlich bekam er immer, was er wollte. Der Vorteil seiner Jagdstrategie war, dass die jungen Damen nicht anfangen konnten zu klammern, denn für gewöhnlich legten die Schiffe nach zwei Tagen wieder ab. Der Nachteil dabei war, dass er nur im Sommer auf seine Kosten kam. Im Winter herrschte Saure-Gurken-Zeit: keine Schiffe – keine Mädchen. Trotzdem kam eine feste Beziehung für Gooch nicht in Frage. Zu stressig, fand er. Vor einiger Zeit hatte er es mal versucht, doch es scheiterte an den alltäglichen Nichtigkeiten.
Fliegen konnte er dagegen das ganze Jahr hindurch. Er bot nicht nur Rundflüge für Touristen an, sondern arbeitete in erster Linie für eine Forschungsstation im Glacier Bay National Park and Preserve. Die Station war ganzjährig besetzt, um unter anderem auch die Klimaerwärmung und ihre Folgen zu erforschen. Den Job hatte er seinem Cousin zu verdanken, der die Ranger Station des Parks leitete und auch für die Koordination der wissenschaftlichen Exkursionen der Forscher verantwortlich war. Der Job sicherte Gooch ganzjährig ein regelmäßiges Einkommen, und in der freien Zeit verdiente er sich mit den Touristen noch ein fettes Zubrot. Genau genommen ließ die Klimaerwärmung seine Kasse klingeln. Die Touristen kamen, um die Gletscher in der Glacier Bay kalben zu sehen, und die Forscher versuchten die Ursachen und Auswirkungen näher zu ergründen. Traurig, aber wahr. Gooch versorgte die Station mit Vorräten, Equipment und neuen Doktoranden, die meist für ein paar Wochen bis zu einem Jahr auf der Station blieben. Er begleitete auch die einzelnen Gruppen in die Wildnis zur Feldforschung und zu Messungen auf dem Gletscherfeld und in der Bucht – sicherheitshalber mit dem Gewehr im Anschlag, denn hier gab es mehr Bären als Menschen.
Gooch schwenkte nach links ab, vorbei an der Glacier Bay mit Blick auf das riesige Brady-Gletscherfeld, das sich durch die Fairweather Range schob.
Nach dem Rundflug setzte er die kleine Touristengruppe wieder am Schiff ab und aß im Restaurant seiner Mutter zu Abend. Goochs Mutter, Leah McKenzie, war eine sehr resolute Frau. Sein Erzeuger hatte sich damals, angesichts der zu erwartenden Vaterfreuden, schleunigst aus dem Staub gemacht und nie wieder gemeldet. Unterhalt hatte er erst recht nicht gezahlt.
Sie war ganz auf sich allein gestellt gewesen, und hatte sich und ihren Sohn mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser gehalten. Harte Arbeit war sie gewöhnt. Gooch hatte ihr schon als Kind, so gut es eben ging geholfen, und Leah war stolz auf ihn. Nur die Tatsache, dass er so gar keine Anstalten machte, sich fest zu binden und eine Familie zu gründen, sondern eher nach seinem Vater kam, erfüllte sie mit Besorgnis. Die Eröffnung des Icy Strait Point, des privaten Kreuzfahrthafens, bot ihr die Chance auf ein besseres Leben. Der Hafen war das Zentrum einer ehemaligen Lachskonservenfabrik, die jahrzehntelang stillgelegt, schließlich von der Huna-Totem-Corporation gekauft und saniert worden war. Nach dem Umbau bot sie nun Platz für verschiedene Geschäfte mit Kunst und Kunsthandwerk, ein Museum, Souvenirläden und Boutiquen sowie ein Restaurant. Leah hatte die Gunst der Stunde genutzt, einen Kredit aufgenommen und das Restaurant eröffnet.
Seitdem ging es aufwärts. Die Kreuzfahrtschiffe brachten unablässig neue Kundschaft, und auch viele Gäste der örtlichen Hotels sorgten für Umsatz. Sie hatte drei Angestellte – alles junge Frauen, die ein ähnliches Schicksal zu bewältigen hatten wie sie selbst damals.
Hoonah hatte viel zu bieten. Die höchste und längste Zip Line der USA, Schulen von Buckel- und Schwertwalen zogen in der Icy Strait und im Port Frederick direkt an der Stadt vorbei und lockten zahlreiche Beobachter ans Wasser. Die diversen Wasserwege, die die Insel durchzogen, boten Kajakfahrern einen abenteuerlichen Trip durch die Wildnis.
Goochs Büro war neben dem Restaurant untergebracht, und so stolperten die Gäste automatisch über sein Dienstleistungsangebot. Nach dem Essen sah er noch die Termine für den nächsten Tag durch, wünschte seiner Mutter eine gute Nacht und fuhr nach Hause. Mit Hilfe einiger Freunde hatte er sich etwas abseits von Hoonah ein Blockhaus gebaut, umgeben von Wald, mit Blick aufs Meer und in der Nähe des kleinen Flughafens. So entging er dem touristischen Trubel in der Hauptsaison und hatte seine Ruhe. Außerdem war es weit genug vom Haus seiner Mutter entfernt. Er liebte sie, keine Frage, aber er schätzte auch seine Privatsphäre. Dafür nahm er gern in Kauf, dass sein Haus nicht an die örtliche Wasserversorgung angeschlossen war. Stattdessen hatte er ein kleines Bassin in den Fels geschlagen und einen Bach umgeleitet, der nun stetig plätschernd das Bassin mit Frischwasser füllte und anschließend über einen Überlauf wieder ins sein ursprüngliches Bett floss. Das reichte für seine Bedürfnisse, ebenso wie das Plumpsklo unweit des Hauses.
Gooch parkte vor dem Haus, stieg aus seinem Auto und wurde von einem riesigen Giant Alaskan Malamute freudig begrüßt. Diese Rasse war um einiges größer als die normalen Malamutes und konnte schon mal hundertfünfzig Pfund auf die Waage bringen. Allerdings war er nicht ganz reinrassig, was seine hellblauen Augen verrieten. Der Hund sprang an ihm hoch und war nun fast so groß wie sein Herrchen. Was ist riesengroß, schwarz-weiß, frisst Fische und schwimmt im Meer? Genau, ein Orca! Und eben deswegen hieß der Hund Keet. Das Tlingitwort für Orca. Seine Vorliebe fürs Schwimmen hatte der Hund schon als Welpe gezeigt, und wenn er schon mal dabei war, konnte er auch Fische fangen. Er fraß zwar auch Hundefutter, aber nur, wenn nichts anderes da war. In Alaska fütterte man Hunde ohnehin meist mit Fisch. Gooch klopfte seinem vierbeinigen Freund den dichten Pelz und ging mit ihm ins Haus. „Wie ich sehe, hast du schon gefressen“, stellte er fest, als sein Blick auf ein paar fischige Überreste auf der Veranda fiel. Keet wedelte freudig mit dem Schwanz, um sich noch einen Leckerbissen zu erbetteln, schließlich war man als Hund nie satt. Gooch öffnete den Kühlschrank, nahm ein Stück Käse für Keet und ein Bier für sich heraus und setzte sich auf die Veranda. Mit dem Hund an seiner Seite genoss er sein Bier und den Blick auf das Meer.
Auf der anderen Seite des Kontinents hielt Joe beim Kofferpacken inne und blickte ebenfalls aufs Meer – in diesem Falle auf den Atlantik, der vor dem Anwesen ihrer Familie an den Strand von Long Island brandete. Hier draußen in den Hamptons bekam man von dem hektischen Treiben im rund zweihundert Kilometer entfernten New York nichts mit. Die Stadt, die niemals schlief, war zwar ausgesprochen attraktiv für Geschäftsleute und alle Anderen, die ihr Glück dort versuchen wollten, aber wer es sich leisten konnte, flüchtete an den Wochenenden und in den heißen Sommermonaten aus der Millionenstadt. In den Hamptons lebte die High Society. Die Immobilienpreise waren astronomisch hoch, und deswegen blieb man unter sich. Für viele wäre Joes Leben ein Traum gewesen – für sie war es eher ein Alptraum, und das reichlich protzige Anwesen ihrer Eltern war ein goldener Käfig, dem sie nun entfliehen wollte.
Offiziell hieß sie Josephine Marie – nicht nur, weil ihr Großvater Joseph hieß, sondern auch, weil ihre Mutter eine glühende Verehrerin Napoleons war. Joe hasste diesen Namen und ließ sich von ihren Freunden nur mit der männlichen Kurzform ansprechen. Wer den Fehler machte, sie Josie zu nennen, bereute das sofort und nachhaltig. Sie bezeichnete sich gern selbst als das schwarze Schaf der Familie – der einzige Punkt, in dem sie sich mit ihrer Mutter einig war.
„Sie ist völlig aus der Art geschlagen!“, beklagte sich Jeanne Cunningham gerne bei ihrem Mann, wenn er den Fehler gemacht hatte, sich am Wochenende in den Hamptons einzufinden. Wenn ihm das Gezeter seiner Frau zu viel wurde, flüchtete er in die Wildnis – sprich: auf den Golfplatz – den sein holdes Weib niemals betreten würde, weil es dort keine befestigten Wege über den Rasen gab.
Jeanne kultivierte ihre Langeweile mit Cocktailpartys, Kunstausstellungen und sogenannten Charity-Veranstaltungen, deren Erlös allerdings eher Museen zugute kamen, als Einrichtungen für wirklich Bedürftige zu unterstützen. Die einzige Leistung ihres Lebens hatte darin bestanden, standesgemäß zu heiraten und zwei Kinder in die Welt zu setzen. Die Aufzucht dieser ehelichen Notwendigkeiten hatte sie aber lieber Nannys und später Eliteinternaten überlassen. Die hatten ganze Arbeit geleistet. Joes Bruder – nein, er hieß nicht Napoleon, sondern Nathaniel, was Joe genauso fürchterlich fand – war dem Vorbild seines Vaters gefolgt und Jurist geworden. Gemeinsam waren sie nun damit beschäftigt, die schmutzigen, fetten Hälse solventer Klienten aus Justitias Schlinge zu ziehen, was sie sich teuer bezahlen ließen. In Joes Augen war diese Art des Erwerbs eine Form von Prostitution, denn sie boten ihre Dienste dem Höchstbietenden an – ganz egal, wie unlauter dessen Absichten auch waren. Wer nicht mindestens siebenstellig verdiente, stand auch nicht in der Klienten-Kartei der Kanzlei Cunningham & Son.
Joe war sechs Jahre jünger als ihr Bruder, hatte ihr Studium an der Columbia-Universität abgeschlossen und die letzten zwei Jahre damit verbracht, am theoretischen Teil ihrer Dissertation zu arbeiten. Doch anders als Nathaniel war sie nicht der Familientradition gefolgt und Rechtsverdreher geworden, sondern hatte Hydrologie und Geoökologie studiert und wollte nun auf dem Gebiet der Gewässerökologie promovieren. Speziell die Ökosysteme, die unter dem direkten Einfluss der Gletscherschmelze standen, interessierten sie. Von jeher hatte sie die Natur geliebt und jedes kranke oder verwahrloste Geschöpf mit nach Hause geschleppt und wieder aufgepäppelt – sehr zum Leidwesen ihrer hysterischen Mutter. Einen besonders giftigen kleinen Kläffer hatte Joe behalten. Sie nannte ihn Bonaparte, wegen seiner geringen Größe und seines völlig übersteigerten Egos. Er war nicht stubenrein und erledigte sein Geschäft am liebsten im großen Salon, in dem ein Gemälde seines Namensvetters über dem Kamin hing.
Joe hielt ihn für einen Kunstkenner, Jeanne sah das anders. „Schaff diese Bestie aus dem Haus! Er ruiniert mir den Teppich!“, hatte sie von ihrer Tochter gefordert.
Doch Joe ignorierte das Gezeter. Sie demonstrierte gegen Tierversuche, Umweltverschmutzung und Ölkonzerne. Sie hatte in einer Nacht- und Nebel-Aktion auch schon Versuchstiere aus einem Labor für Kosmetikprodukte befreit und es sich nun zum Ziel gesetzt, gegen den Klimawandel und seine Ursachen zu kämpfen. Aus der Sicht ihrer Mutter eine gesellschaftliche Boykotterklärung, aus der Sicht ihres Vater nur eine Laune, die irgendwann schon wieder vergehen würde. Ihr Bruder hielt sich, wie üblich, aus dieser Diskussion heraus. Nichtsdestotrotz hatte Jeanne keinen Versuch unterlassen, ihre Tochter gesellschaftlich zu etablieren. Mit anderen Worten: Sie wollte Joe möglichst standesgemäß verkuppeln. Ihrer Meinung nach brauchte eine Frau keinen Beruf, sondern einen gutsituierten Ehemann. Die Batterien an arroganten Lackaffen mit prall gefüllter Brieftasche und leerem Kopf, die Jeanne aufgefahren hatte, hätten jede Elite-Partner-Vermittlung vor Neid erblassen lassen.
Doch Joe hatte mit ihrer spitzen Zunge alle Kandidaten an die Wand fahren lassen. Sie wollte keinen dieser Lackaffen, und die testosterontriefenden Halbaffen der Sportfakultät hatte sie ebenfalls gründlich satt. Sie suchte nach einem Exemplar, das neben einem Kopf und Muskeln vor allem über ein Rückgrat verfügte. Einen, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand, wusste, was er wollte, den Mut hatte, auch mal gegen den Strom zu schwimmen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Kurz: einen richtigen Mann. Aber bisher war ihr noch nichts Passendes begegnet; offensichtlich waren diese Exemplare sehr spärlich gesät. Deswegen hatte sie die Suche danach vorläufig auf Eis gelegt und wollte sich erst mal mit Feuereifer um die Feldforschung für ihre Dissertation kümmern.
Sie hatte laut gejubelt, als sie Post von der UAS, der University of Alaska Southeast, erhielt, die ihre Bewerbung um eine Doktorandenstelle angenommen hatten. Endlich konnte sie dem goldenen Käfig entfliehen und auf eigenen Beinen stehen. Euphorisch wie sie war, fühlte sie sich wie Supergirl, bereit, die Welt zu retten. Strahlend verkündete sie am Wochenende beim Dinner die Neuigkeiten, doch dank ihrer Familie landete sie ziemlich schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen.
Jeanne wurde hysterisch. „Josephine! Du bringst mich noch frühzeitig ins Grab!“, lautete ihr Vorwurf. „Wie kannst du nur ernsthaft in Erwägung ziehen, nach Alaska zu gehen! Dort ist es absolut unzivilisiert! Nur Bären, Ungeziefer und Wilde!“ Genaugenommen machte sie sich eher Sorgen darum, was die Hamptoner Gesellschaft davon halten würde. Alaska bedeutete bestenfalls einen Karriereknick, schlimmstenfalls den Abstieg in die Gosse. Jeanne grübelte fieberhaft darüber nach, wie sie diese Katastrophe ihrem Bekanntenkreis verkaufen konnte, ohne dass jemand die frisch operierte Nase rümpfte.
„Wilde was?“, fragte Joe provokativ, weil sie davon ausging, dass ihre Mutter nur ein anderes Tier nicht näher benennen konnte. Schließlich lief so etwas in den Hamptons nicht herum.
„Indianer! Was sonst!“, antwortete Jeanne abfällig. Ausnahmsweise war Joe für einen Moment sprachlos vor Empörung. Das Kastensystem ihrer Mutter war um ein Vielfaches ausgeprägter als das eines Hindus. Offenbar hielt sie sich für einen Brahmanen und Ureinwohner für Unberührbare. Bevor Joe explodieren konnte, äußerte auch ihr Vater Richard seine Bedenken, allerdings deutlich pragmatischer als seine Frau. „Denk noch mal darüber nach, Joe. Wenn du als Columbia-Absolventin an einer staatlichen Universität promovierst, mindert das deine spätere Reputation! Kannst du das nicht auch hier machen?“
Es war wie üblich: Alle dachten nur darüber nach, was andere davon halten würden – statt sich für sie zu freuen.
Joe rang um Fassung und versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. „Ich weiß nicht, Dad, vielleicht kaufst du mir ja einen hübschen Gletscher und lässt ihn hierher liefern. Dann musst du aber für eine Weile auf Golf verzichten, bis das Ding wieder abgetaut ist. Wenn es euch so peinlich ist, erzählt euren Freunden doch, ich sei mit einem Flugzeug abgestürzt! Ihr müsst euch dann nicht für mich schämen, und ich kann friedlich mit Bären und Wilden in einer Höhle hausen. Da wird wenigstens der scheiß Teppich nicht dreckig!“, schrie Joe mit überschlagender Stimme.
Tränen schossen in ihre Augen, und sie rannte hoch in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen und heulte in die Kissen. Immer das Gleiche – nie ein Lob, nie ein bisschen Anerkennung, geschweige denn eine Umarmung. Sie hatte so schwer geschuftet und ihren Master mit magna cum laude gemacht. Außer Nathaniel hatte das niemand zur Kenntnis genommen. Alle taten immer so, als würde sie nur bunte Briefmarken sammeln.
Wenig später klopfte es an der Tür, und Nathaniel kam herein.
„Geht‘s wieder?“, fragte er mitleidig und schloss leise die Tür.
Joe schniefte und wischte sich die Augen trocken. Ihr Bruder setzte sich zu ihr aufs Bett und nahm sie in den Arm.
„Hey, Kleine! Mach dir nichts draus. Sie haben noch nie begriffen, worum es geht.“
Joe nickte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Wie hältst du das aus und kannst dabei so ruhig bleiben?“
„Ich ignoriere das Geschwafel, ziehe meinen Kram durch und erzähle ihnen nichts davon. Hat schon immer funktioniert“, meinte er.
„Hätte ich wohl besser auch getan. Aber jetzt ist es auch egal. Ich fliege übermorgen nach Juneau und werde nicht zurückkommen. Mir reicht es“, stellte sie traurig fest.
Nathaniel drückte sie zuversichtlich an sich und lächelte. „Du schaffst das schon. Ich bin stolz auf dich, Joe. Ich fahre dich zum Flughafen, und wenn mir mal der Kragen platzt, besuche ich dich bei den wilden Bären.“
Joe lachte leise, als sich ihr Bruder auf diese Weise über ihre Mutter lustig machte.
„Und wenn du was brauchst, rufst du mich an“, fügte er noch hinzu.
Sie umarmte ihn dankbar, bevor er ihr Zimmer verließ, und begann danach ihren Koffer zu packen.
Es war eine warme Sommernacht; sie blickte hinaus aufs Meer und beschloss, ein letztes Mal schwimmen zu gehen. Im Wasser war Joe in ihrem Element. Sie liebte es, zu schwimmen und zu tauchen, hatte sogar in den Semesterferien einen Kurs für Rettungsschwimmer absolviert und ehrenamtlich als Strandwache gejobbt. Alle anderen Sportarten ließen Joe kalt. Sie hatte sich nie dazu überreden lassen, mit ihren Kommilitonen durch den Central Park zu joggen wie eine Herde gehetzter Antilopen. Beim Schwimmen war sie allein und genoss es, wenn ihr die salzige Gischt ins Gesicht spritzte. Im Mondlicht sagte sie dem Atlantik Adieu und freute sich auf den Nordpazifik.