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TYPISCH DEUTSCH!

WIE DER NIEDERLÄNDER (NICHT)AUSSEHEN WILL

Abends sitzt Anne im Zug nach Amsterdam. Sie hat fast eine halbe Stunde auf den InterCity gewartet, bis sie durch Zufall mitbekam, dass dieser Zug heute gar nicht fährt. Der Ersatzzug, ein sneltrein, in dem sie nun sitzt, ist ein langsamerer Zug, aber wenigstens kein stoptrein, ein Bummelzug.

Anne wird trotzdem erst eineinhalb Stunden später in Amsterdam ankommen. Viel besser als in Deutschland scheint es hier auch nicht um die Pünktlichkeit der Züge bestellt. Und hier wird man noch nicht einmal über solche Verspätungen informiert! Anne seufzt. Ihr Blick wandert über die abgewetzten Sitzbezüge in ihrem Abteil. Ein Teenager lümmelt sich lässig in den Sitz gegenüber, sein Fuß wippt direkt vor ihrer Nase hin und her, im Takt der Musik, die Anne ziemlich gut durch seine Kopfhörer mithören kann. Sie ist plötzlich genervt. Jetzt kommt sie zu spät, das ist ihr unangenehm. Jeroen wartet schließlich auf sie.

Sie tippt in ihr Handy: »Hallo Jeroen. Ich bin leider erst um 21:15 Uhr in Amsterdam. Der andere Zug ist nicht gekommen. Entschuldige! Anne.«

Immerhin hat sie noch einige schöne Stunden in Maastricht verbracht. Sie ist noch einmal zur Maas gelaufen und vor allem hat sie sich in einem kleinen traditionellen Restaurant ein köstliches Mittagessen bestellt: Spargel aus Limburg, zubereitet, wie es die Niederländer mögen: mit Ei. Echt lekker!

In diesem Moment blinkt Annes Handy – eine SMS von Jeroen: »Kein Problem. Ich hole dich ab!« Jeroen scheint sich nicht sonderlich über die Verspätung aufzuregen – umso besser.

PROBIER MAL: SPARGEL MIT EI

Um Spargel auf (eine) niederländische Art zuzubereiten, werden die Spargelstangen zunächst wie gewohnt vom Kopf her dünn geschält und am unteren Ende um ca. 1 cm gekürzt. Danach wird der Spargel in etwas Salzwasser ca. 3 Min. gekocht; nun wird die Herdplatte ausgeschaltet, damit der Spargel im geschlossenen Topf noch etwa 15 Min. nachgaren kann.

Währenddessen werden 1–2 Eier pro Person hart gekocht, mit kaltem Wasser abgeschreckt, gepellt und in sehr kleine Würfelchen geschnitten. Wenn gewünscht, kann auch etwas Kochschinken klein geschnitten und mit den Eiern und dem Spargel auf dem Teller angerichtet werden. Etwas zerlassene Butter darüber – smakelijk!

Drei Stunden später fährt der sneltrein in Amsterdam ein. Aus dem fahrenden Zug heraus erkennt Anne trotz Dämmerung Kanäle und Gewässer, riesige und kleine Schiffe. Amsterdam – das Venedig des Nordens! Anne ist aufgeregt. Die letzte halbe Stunde hat sie damit verbracht, auf die Uhr zu sehen, hin und wieder ihre Haare zu kämmen, aus dem Fenster zu schauen und nachzudenken. Jetzt steht sie im engen Gang, eingeklemmt zwischen all die Menschen, die darauf warten, dass der Zug endlich in Amsterdam einfährt. Ein kleines Kind quengelt, der Mann neben Anne macht sich so breit, dass sie Mühe hat, das Gleichgewicht zu halten, es riecht nach Schweiß, kaltem Rauch und Alkohol. Anne seufzt. Scheinbar will halb Holland an diesem Sonntagabend nach Amsterdam! Wie soll sie Jeroen in diesem Gedränge bloß erkennen? Und wird er sie erkennen? Gut, dass sie ihm vor der Abreise noch schnell ein Foto von sich gemailt hat.

Danach geht alles ganz schnell. Der Zug hält, Anne wird geschoben und gezogen, dann steht sie am Bahngleis und sieht sich um. Um sie herum herrschen Hektik und Stimmengewirr. Niemand, der auf sie wartet? Sie stellt sich auf die Zehenspitzen. Dort hinten am Ende des Bahnsteigs, vor einer schönen, blau gekachelten Wand reckt sich eine Hand in die Höhe. Die Hand winkt, dahinter erkennt sie hellblonde Haare und ein lachendes Gesicht. Jeroen? Ja, sie winkt zurück, es scheint tatsächlich Jeroen zu sein, der offenbar so groß ist, dass er die ganze Menschenmenge überragt, und der nun seine Hände zu einem Trichter formt und ihr etwas zuruft.

Anne schüttelt den Kopf: Sie hat kein Wort verstanden. Jeroen ruft noch einmal. Und, ja, sie versteht zumindest ein paar Brocken: »Warte! … Bleib! … Ich komme …«

GROSSE MENSCHEN

Mehrere Untersuchungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Niederländer statistisch gesehen das Volk mit den größten Menschen der Welt sind. Die niederländischen Männer sind im Durchschnitt 1,83 Meter groß und die Frauen 1,72 Meter. Und das liegt nicht etwa daran, dass die Niederländer immer auf Holzschuhen durch die Gegend laufen, wie man scherzhaft vermuten könnte, oder weil sie – so ein anderer landläufiger Witz – bei Hochwasser den Kopf über Wasser recken müssen.

Zumal: Die Niederländer waren nicht immer so groß. Vor ungefähr 100 Jahren waren sie sogar noch die kleinsten Menschen in Europa. Wer einmal einen alten niederländischen Bauernhof besucht, wird staunen: Die winzigen Alkoven (bedsteeën), in denen die Menschen schliefen, sehen so aus, also könnten dort nur Kinder Platz finden.

Erst mit Beginn der Industrialisierung änderte sich dies, wahrscheinlich weil es gelang, den Wohlstand gleichmäßiger auf alle Gesellschaftsschichten zu verteilen. Genaue Gründe dafür, warum die Niederländer durchschnittlich größer sind als alle anderen Europäer, konnte man bislang jedoch nicht ausfindig machen. Einige Wissenschaftler prophezeien, dass der durchschnittliche männliche Niederländer in 50 Jahren ungefähr 1,90 Meter groß sein wird.

Anne wartet und beobachtet, wie sich Jeroen langsam durch das Gewühl zu ihr vorarbeitet. Dann steht er vor ihr, riesig, blond, mit strahlenden blauen Augen, streckt ihr seine große Hand entgegen, schenkt ihr ein breites Lächeln und sagt mit brummender Bassstimme: »Hoi Anne, ich bin Jeroen, willkommen in Amsterdam!«

Anne lächelt zurück, erleichtert, denn Jeroen ist ihr auf Anhieb sympathisch. Sie ergreift die ausgestreckte Hand und antwortet: »Endlich lerne ich dich kennen!«

»Und«, fragt Jeroen, schüttelt sich mit einer lässigen Kopfbewegung eine Haarsträhne aus der Stirn und zwinkert ihr zu, »geschockt?«

»Ja, unheimlich!«, antwortet Anne und fügt scherzend hinzu: »Du siehst mit deinen blonden Haaren und blauen Augen ja aus wie ein Deutscher!«

»Oh, ist es so schlimm?«, antwortet Jeroen, kneift seine Augen fast unmerklich zusammen und meint: »Du siehst gar nicht typisch deutsch aus.«

Anne findet, dass er irgendwie zerknirscht wirkt. Das ist doch wohl gespielt, oder? Sie versucht, seinen Blick aufzufangen. Doch Jeroen guckt starr auf die Uhr und meint: »Komm, lass uns gehen! Mir ist das hier echt zu voll.«

Was ist da schiefgelaufen?

Anne hat mit ihrer Bemerkung über das vermeintlich »typisch deutsche« Aussehen von Jeroen diesem so ziemlich das schlimmste Kompliment gemacht, das man einem Niederländer machen kann: Sie hat ihn nicht nur mit einem Deutschen verglichen, sondern ihm sogar gesagt, man könne ihn für einen Deutschen halten. Nichts jedoch kann einen Niederländer mehr treffen als das! Niederländer wollen weder für Engländer noch für Belgier und schon gar nicht für Deutsche gehalten werden. Deshalb betonen Niederländer, die sich in Deutschland aufhalten, auch gern, dass sie Niederländer sind – eben einfach anders als die Deutschen, denen sie oft gerade jene Eigenschaften zuschreiben, die sie selbst nicht haben wollen. Deutsche gelten – anders als die toleranten, liberalen und moralisch überlegenen Niederländer – als humorlose, rechthaberische, obrigkeitshörige, perfektionistische Jasager … und was einem sonst noch an negativen Eigenschaften einfallen mag.

Woran das liegt? Vielleicht am bereits erwähnten, allerdings für die jüngere Generation nicht mehr maßgeblichen Trauma des Zweiten Weltkriegs? Oder am Komplex des kleinen Landes gegenüber dem mächtigen, großen Nachbarn, gegen den man sich irgendwie abgrenzen, gegenüber dem man eine Art Gegenidentität entwickeln muss? Immerhin gibt es solche Phänomene auch zwischen anderen Nachbarländern, zum Beispiel zwischen Engländern und Iren oder Schotten.

Fakt ist: Niederländer distanzieren sich gerne von den Deutschen. Das hat sich bis heute nicht geändert, obwohl verschiedene Untersuchungen belegt haben, dass sich das Deutschlandbild der Niederländer in den vergangenen Jahren durchaus zum Positiven gewandelt hat und dass viele Niederländer die Deutschen nun zum Beispiel als gastfreundlich, offen und verlässlich bezeichnen. Doch bis heute gilt: Wer einen Niederländer als »typisch deutsch« bezeichnet, tritt garantiert in ein riesengroßes Fettnäpfchen.

So ist’s oranje

Dass Anne mit Bemerkungen wie »Du siehst aus wie ein Deutscher« nicht gerade auf Begeisterung stößt, wird sie bald merken – und so etwas in Zukunft lieber lassen. Sie sollte aber nicht beleidigt sein und es nicht als persönlichen Affront verstehen, auch wenn sie ja genau das ist, was der Niederländer nicht sein will: eine Deutsche.

Natürlich ist es schwierig, wenn man als Deutscher in den Niederlanden (oder als Deutscher in Deutschland mit niederländischen Gästen) mit antideutschen Reflexen konfrontiert wird, wenn im eigenen Beisein kein Blatt vor den Mund genommen wird, wenn über die besserwisserischen moffen hergezogen wird. Anne sollte das mit Humor nehmen, so wie sich übrigens auch Niederländer selbst mehr und mehr in ihrer Antihaltung gegen Deutschland aufs Korn nehmen. In einer von Mund zu Mund verbreiteten Anekdote heißt es nicht ganz ohne Selbstkritik: Wenn der Niederländer wirtschaftliche Probleme hat, beschuldigt er die Deutschen. Wenn ein Krieg angezettelt wird, beschuldigt er die Deutschen. Wenn der Niederländer seinen Schlüssel verliert, beschuldigt er die Deutschen.

Anne wird übrigens bald merken, dass zwar gerne über »das Deutsche an sich« gemeckert wird, aber nicht über sie persönlich. Denn diese Vorurteile lösen sich bei persönlichen Kontakten meist in Luft auf – zum Erstaunen der Niederländer, die dann mit einem ganz speziellen und sehr anerkennend gemeinten Kompliment reagieren, indem sie wie Jeroen konstatieren: »Du bist ja gar nicht typisch deutsch!« Ein größeres Kompliment kann ein Niederländer einem Deutschen kaum machen.

AUSSEHEN WIE EINE NIEDERLÄNDERIN: TRACHTEN

Garantiert nicht für Deutsche gehalten werden diejenigen Niederländerinnen, die heimische klederdrachten (Trachten) anziehen. In einigen kleinen Gegenden der Niederlande tragen ältere Frauen tatsächlich noch täglich ihre Tracht. Es gibt aber auch einige Ortschaften, in denen auch jüngere Frauen, Kinder und sogar Männer ihre traditionellen Gewänder noch häufig anlegen: Insbesondere in Volendam wird – aus touristischen Gründen – viel Tracht getragen, schließlich wurde und wird diese blau-weiß-rote klederdracht im Ausland durch »Frau Antje« (siehe Kapitel 1: »Im Land von Frau Antje«) gezielt vermarktet.

Aber auch auf der Insel Marken (Nordholland) wird noch häufig klederdracht getragen – bei den Frauen kunstvoll gemusterte Oberteile in Rot- und Grüntönen bei unifarbenen, meist blauen Röcken; und bei den Männern dunkelblaue Jacken mit weißen Pumphosen. Auch z. B. in Staphorst (Overijssel), im benachbarten Rouveen, im Zwillingsdorf Bunschoten-Spakenburg (Utrecht), auf der zeeländischen Insel Walcheren oder in Scheveningen (Südholland) wird im Alltag noch häufig die Tracht hervorgeholt.

Typisch für die niederländische klederdracht der Frauen ist die Kopfbedeckung, die aus einer recht einfachen weißen muts (Haube, Mütze) aus Baumwollstoff bestehen kann oder aus weiten, gestärkten Flügelhauben, wie sie z. B. in Volendam getragen werden, aber auch aus prachtvoll bestickten, reich verzierten, geknüpften oder spitzenbesetzten Hauben. Unter diesen meist hellen – bei Trauer schwarzen – Hauben wird oft ein silberner oder goldener, gelegentlich auch kunstvoll verzierter Reifen getragen: der oorijzer, unter den wiederum eine dünne muts aufgezogen wird.

Typisch für die niederländische Tracht der Frauen ist auch die sogenannte kraplap – eine meist quadratisch genähte Schulter- und Brustbedeckung. Ursprünglich gehörte die kraplap zur Unterwäsche und wird auch heute noch gelegentlich versteckt oder unter Tüchern getragen. Bei vielen niederländischen Trachten hat sich die kraplap jedoch zum dekorativsten, äußerst kunstvoll verzierten und oft perlenbesetzten Außenstück der klederdracht entwickelt.

Fettnäpfchenführer Niederlande

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