Читать книгу Fettnäpfchenführer Niederlande - Katja Frehland - Страница 16

Оглавление

7

EIN TÄSSCHEN IN EHREN

KAFFEEKULT UND GEZELLIGHEID

»Normalerweise tue ich mir das nicht an«, sagt Jeroen zu Anne, als er ihren Rucksack in den geöffneten Kofferraum des dunkelblauen Peugeot 206 wirft. »Ich fahre sonst immer Fahrrad.«

Mit einem lauten Knall schließt er den Kofferraum und schwingt sich neben Anne, die schon auf dem Beifahrersitz wartet. »Alles klar?«, fragt er, sieht etwas frech zu ihr herüber und startet den Motor. »Dein Gepäck ist vor zwei Tagen bei mir angekommen. Wir holen es jetzt ab, und dann fahren wir zu deiner Wohnung, okay?«

Ja, klar, Anne nickt. Sie kurbelt das Fenster der Beifahrertür herunter. Ein süßlicher Geruch von selbst gedrehten Zigaretten, vermischt mit feuchter, leicht modriger Luft strömt durch das Fenster. Trotz beginnender Dunkelheit herrscht hektisches Treiben am Bahnhof. Unzählige Menschen eilen oder schlendern vorüber, viele mit Rucksäcken, Asiaten, Europäer, Schwarze, eine vermutlich amerikanische Touristengruppe in kurzen Shorts, Frauen in Businesskleidung, ein junger Mann mit Rastazöpfen, der auf dem Boden sitzt und Gitarre spielt. Anne hat schon viel über diesen Platz vor Amsterdam Centraal direkt am Hafen gehört: Zur warmen Jahreszeit ist es hier bunt und voller Leben, hier treffen sich Straßenhändler, Musikanten und Touristen aus aller Welt, hier befinden sich zahlreiche Hotels und von hier aus kann man mit Straßenbahnen und Bussen in jeden Winkel der Stadt fahren.

Während Jeroen das Auto langsam, aber gekonnt aus der Parklücke manövriert, wirft Anne einen Blick zurück auf das reich verzierte Bahnhofsgebäude mit seinen zwei Türmen. Kaum zu glauben, dass dieses große Gebäude, das Ende des 19. Jahrhunderts aus rotem Backstein gebaut wurde, auf Tausenden Holzpfählen steht.

AMSTERDAM – EINE STADT AUF PFÄHLEN

Der Hauptbahnhof Amsterdam Centraal wurde auf drei künstlichen Inseln im alten Hafenbecken errichtet und steht auf über 8.000 Holzpfählen, die das Gebäude vor dem Absacken bewahren. Diese Bautechnik ist für Amsterdam typisch. Denn die im Mündungsdelta der Amstel erbaute, etwa 800.000 Einwohner fassende Stadt liegt wie ein Drittel der Niederlande unter dem Meeresspiegel. Genau wie Venedig ist Amsterdam auf rund 100 Inseln gebaut, die durch unzählige Kanäle bzw. Grachten und Brücken verbunden sind. Deshalb stabilisieren ungefähr fünf Millionen tief in den Untergrund getriebene Pfähle die Fundamente.

Erst durch diese Bautechnik konnten die wohlhabenden Kaufleute, die im 16. und 17. Jahrhundert von Amsterdam aus Handel mit Gewürzen und Sklaven betrieben und die Stadt zu Reichtum brachten, ihre eleganten Ziegelhäuser und Stadtpaläste errichten. Anders als die leicht brennbaren Holzhäuser, die man zuvor gebaut hatte, mussten die modernen Häuser viel stärkere Fundamente haben, um auf dem feuchten und morastigen Boden des IJ – einem eingepolderten, also durch Deiche und Pumpen trocken gehaltenen Meeresarm der ehemaligen Zuidersee – aufrecht stehen zu können. (Zur ehemaligen Zuidersee siehe Kapitel 11: »Kekschen zum Kaffee?«; zum Begriff »Polder« siehe Kapitel 22: »Land voller Frösche«.)

Viele Gebäude wie der Hauptbahnhof oder der Königliche Palast stehen bis heute auf den alten Holzpfählen – und auch heute noch wird jeder Neubau der Stadt weiterhin mit Pfählen stabilisiert.

Allerdings kommen inzwischen wegen der Gefahr der Vermoderung keine Holzpfähle mehr zum Einsatz, sondern Betonpfähle. Diese modernen Pfähle reichen – je nach Größe und Gewicht der Gebäude – bis zu 60 Meter in die Tiefe.

Aus dem Auto heraus sieht Anne, die sich gemütlich von Jeroen durch die Stadt fahren lässt, seit einigen Minuten Wasser, Hafengebiete, Sandberge, Lastwagen, kleine und große Kräne, verschiedene Frachtschiffe, dazwischen ein paar Motorboote. Links stehen hohe Häuser, wahrscheinlich Bürogebäude. So hat sie sich Amsterdam eigentlich nicht vorgestellt, eher romantisch mit schönen, alten Häusern.

»Ich wohne in einem Studentenwohnheim in Houthaven, direkt am Wasser«, sagt Jeroen in diesem Moment. »Das liegt ziemlich zentral, nördlich vom Hauptbahnhof.«

Kurz darauf steht Anne im dunklen Flur vor Jeroens Zimmer. »Ich konnte leider nicht mehr aufräumen«, sagt er entschuldigend, schließt die Wohnungstür auf und knipst das Licht an.

»Macht doch nichts«, antwortet Anne und verkneift sich ein Lächeln. Hier wurde wirklich schon länger nicht mehr aufgeräumt. Auf, unter und neben dem Schreibtisch stapeln sich riesige Papierberge, mitten im Raum sind zwei Sessel über und über mit Wäsche, Büchern und anderem Kram bedeckt. Aber direkt vor dem Bett steht ein kleiner runder Tisch und darauf nichts außer einer Kerze und einem Tongefäß, wahrscheinlich ein Duftlämpchen. Und dort hinten am Fenster warten die beiden Koffer, die Anne vor ungefähr zwei Wochen losgeschickt hat.

»Bevor wir zu deiner Wohnung fahren, mache ich uns schnell noch ein leckeres Tässchen Kaffee«, ruft Jeroen, während er die Klamotten von zwei Sesseln räumt. »Komm, setz dich!«

»Um Himmels willen, bloß keinen Kaffee um diese Zeit!«, antwortet Anne und verdreht die Augen. »Ich bin doch nicht krank oder verrückt! Außerdem krieg ich dann heute Nacht kein Auge zu.«

Als Jeroen, der zur kleinen Küchenzeile des Zimmers gegangen ist, nicht antwortet, fügt sie scherzend hinzu: »Das machen doch nur die total Kaffeesüchtigen, um diese Zeit Kaffee trinken.«

Jeroen setzt sich auf seinen Bettrand und schüttelt erstaunt den Kopf. Vor sich, auf das kleine Tischchen neben die brennende Kerze, stellt er einen großen Pott mit frisch gebrühtem Kaffee. Von wegen ein kopje, ein Tässchen. Das ist eine ausgewachsene, ja: eine riesige Tasse!

»Du bist jetzt in Amsterdam«, sagt Jeroen zu Anne, setzt den Becher an den Mund und schlürft den Kaffee in einem Zug aus.

Was ist da schiefgelaufen?

Nicht nur in Deutschland wird gerne und viel Kaffee getrunken, sondern auch in den Niederlanden. Es gibt aber ein paar Unterschiede in den kulturellen Gepflogenheiten des Kaffeetrinkens.

Zum Beispiel beginnen viele (wenn auch nicht alle) Niederländer den Tag zunächst mit Tee. Erst etwas später, zwischen zehn und elf Uhr morgens, ist koffietijd. Wenn ein Niederländer demnach in Deutschland zum Kaffee eingeladen wird, kann es passieren, dass er nicht nachmittags zur deutschen »Kaffeezeit«, die gewöhnlich zwischen 15 und 16 Uhr liegt, an die Tür klopft, sondern vormittags. Die Zeit am Nachmittag, zu der Niederländer natürlich auch gerne mal einen Kaffee trinken, heißt theetijd.

Typisch niederländisch ist es, abends Kaffee zu trinken, gleich nach dem Abendessen oder sogar noch später. Was in Deutschland eher die Ausnahme ist, wenn zum Beispiel spät abends nach einem Restaurantbesuch noch ein Espresso bestellt wird, gehört in den Niederlanden zum Abendritual. Es dürfen dann schon ein oder zwei Tassen Kaffee sein, die gemütlich vor dem Fernseher oder in geselliger Runde getrunken werden – übrigens gerne mit spezieller Kaffeesahne statt gewöhnlicher Milch.

Dass Jeroen Anne einen Kaffee angeboten hat, war deswegen in zweierlei Hinsicht typisch: Erstens gehört der Kaffee am Abend zu den Niederländern wie der Morgenkaffee zu den Deutschen. Und zweitens war Jeroens Einladung zum kopje koffie eine Einladung zur Geselligkeit. Gezellig zu sein heißt, es sich angenehm oder gemütlich zu machen. Stress und Hektik zu vermeiden, ist dem Niederländer in allen Bereichen seines Lebens nämlich sehr wichtig. Gezelligheid ist in den Niederlanden ein hohes, vielleicht sogar das höchste Gut. Alles kann und soll möglichst gezellig sein: Freizeit, Urlaub und auch die Arbeit.

Anne hat mit ihrer oberlehrerhaften Ablehnung des abendlichen Kaffees somit gleich zwei Fettnäpfchen voll erwischt: Sie hat den niederländischen Abendkaffee als »krank« abgetan und sie hat sich als äußerst ongezellig erwiesen, als sie Jeroen, der gemütlich an seinem Tischchen saß, seinen Kaffee alleine trinken ließ.

Niederländer leiden übrigens keineswegs an Schlafproblemen wegen des Kaffees zur späten Stunde – die Gewöhnung macht’s.

So ist’s oranje

Wenn Anne noch einmal von einem Niederländer einen Kaffee angeboten bekommt, sollte sie weniger streng reagieren. Natürlich muss sie zu später Stunde keinen Kaffee trinken, aber sie sollte ihrem Gegenüber seine liebgewordene Gewohnheit auch nicht vermiesen. Außerdem sollte sich Anne bewusst sein, dass es nicht nur um das Getränk Kaffee geht: Es geht vor allem um das gemeinsame Kaffeetrinken, das heißt um Geselligkeit. Kein Niederländer wird es Anne übel nehmen, wenn sie keinen Kaffee trinken möchte. Ungeselligkeit fällt dagegen eher negativ auf. Wahrscheinlich wird ihr, wenn sie den Kaffee freundlich ablehnt, sogar schnell eine andere niederländische Spezialität oder Leckerei angeboten.

Übrigens muss sich Anne auch nicht über die Größe der Kaffeetasse angesichts Jeroens Rede vom kopje (Tässchen) wundern. Zwar war die Tasse von Jeroen auch für niederländische Verhältnisse recht groß – in den Niederlanden kennt man eigentlich keine französischen Milchschalen-Formate, sondern trinkt aus normalen Tassen oder Bechern. Die Verkleinerungsform kopje hat jedoch mit der Größe des Behältnisses in diesem Fall wenig zu tun. Der Niederländer verkleinert allgemein gerne – mit solchen »Koseformen« wertet er seine Gewohnheiten oder andere Dinge, die er schätzt, liebevoll auf. Zu den verkleinerten Objekten oder Handlungen hat der Niederländer nämlich eine besonders innige Beziehung.

EIN KEKSCHEN IM SONNENSCHEINCHEN: VERKLEINERUNGSFORMEN

Verkleinerungsformen von Substantiven begegnet man im Niederländischen sehr häufig. Damit wird aber nicht unbedingt eine tatsächliche Verkleinerung ausgedrückt – der Niederländer benutzt diese Form eher als Koseform für einen Gegenstand, ein Objekt, ein Tier oder eine Handlung, die als besonders nett, angenehm oder gemütlich empfunden wird, kurzum: für etwas, das ganz besonders gemocht wird (nur selten schwingt in den niederländischen Verkleinerungen Ironie oder Ablehnung mit). Wer sitzt nicht gerne in het zonnetje (im Sonnenscheinchen), isst ein koekje (Kekschen) oder trinkt ein biertje (Bierchen)?

Die niederländischen Verkleinerungsformen erkennt man meistens an der Endung »-je«. Weitere Verkleinerungsendungen sind: »-tje«, »-kje«, »-pje«, »-etje«. Somit wird aus kop (Tasse) kopje, aus hond (Hund) wird hondje, aus huis (Haus) wird huisje oder aus jongen (Junge) jongetje usw. Einige Wörter gibt es übrigens nur in der Verkleinerungsform, z. B. meisje (Mädchen), toetje (Dessert) oder sprookje (Märchen).

Fettnäpfchenführer Niederlande

Подняться наверх