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KAPITEL 6

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21. Februar – Biikebrennen


Der 21. Februar ist traditionell in ganz Nordfriesland ein besonderer Tag beziehungsweise eine besondere Nacht. In dieser Nacht findet das sogenannte Biikebrennen statt.

Dieser Brauch ist fester Bestandteil des nordfriesischen Gemeindelebens und erfreut sich bei Einheimischen wie Besuchern großer Beliebtheit. So sind auch an der Küste am 21. Februar die großen Biikehaufen zu finden, die bei eintretender Dunkelheit angezündet werden. Die Rituale sind von Ort zu Ort unterschiedlich, die Geschichten dazu ebenso. Bei den einen war es ein Kinderfest, das in seiner Bedeutung mit dem Geburtstag oder sogar dem Weihnachtsfest gleichgestellt war, bei den anderen war es immer schon das Fest, mit dem die Seefahrer verabschiedet wurden. Diese sollten mit dem Feuerschein so lange wie möglich mit ihrem Zuhause in Verbindung bleiben, bevor sie für mehrere Monate auf Walfang oder Große Fahrt gingen. Auch soll Gott Wotan bei den Heiden eine Rolle gespielt haben. Womöglich bat man ihn um den Schutz der Seefahrer. Vielleicht wurde das Biikefeuer aber auch einfach nur zum Vertreiben des Winters ins Leben gerufen – man weiß es heute einfach nicht mehr so genau. Eigentlich ist es auch gar nicht so wichtig, denn schließlich ist es doch egal, warum man zusammenkommt und miteinander feiert, singt, isst oder einfach nur die Zeit genießt. An einem wärmenden Feuer fällt das auch gar nicht schwer.

Schon die Vorbereitung ist zu einer eigenen Tradition geworden. Meistens sind es die gleichen helfenden Hände, die dafür sorgen, dass der Biikehaufen am Landsende hoch und kompakt wird. Größere Inseln oder Festlandgemeinden haben meistens mehrere Haufen, auf Hooge gibt es nur einen. Jeder hat sich warme Arbeitsklamotten angezogen und ist mit einer Astschere oder Säge bewaffnet. Hier und da hört man auch eine elektrische Motorsäge. Alle Bäume und Büsche werden zurückgeschnitten. Das passiert fast zeitgleich auf den Warften. Die Arbeit beginnt im eigenen Garten und dehnt sich bis in die Mitte der Warft aus. Auf den Sammelplätzen wachsen über eine Woche verteilt schnell Baum- und Buschschnitt, die sogenannte Biike, zu beachtlichen Haufen. Früher haben die Kinder die Bii­ke eingesammelt. Das war immer ein wildes Treiben und eine willkommene Abwechslung, denn dafür bekamen die Schüler sogar einen Tag schulfrei. Heute sind sie nach Schulschluss auch noch dabei, packen mal mehr, mal weniger mit an, aber der Spaß ist auch heute noch unverändert. Bei Groß und Klein.

In der letzten Woche vor dem 21. fahren einige Landwirte und Angestellte der Gemeinde mit ihren Traktoren und freiwilligen Helfern die Sammelplätze ab und nehmen alles mit. Manchmal liegen dort halbe Bäume, denn wenn aufgeräumt wird, dann richtig. Manchmal finden sich dort auch Paletten oder unbrauchbar gewordene Zaunreste und insgesamt bestimmt an die fünfzig Weihnachtsbäume, natürlich ohne Christbaumschmuck. Allein um die ausgedienten Weihnachtsbäume zu entsorgen, ist das Biikebrennen eine gute Sache, denn auf der Hallig kommt in der ersten Januarwoche nicht die Müll­abfuhr vorbei, um die Weihnachtsbäume einzusammeln.

Wenn der Sammelplatz auf der Ockenswarft leer geräumt ist, gibt es bei uns immer jemanden, der spontan einen Korb mit in Thermoskannen abgefüllten Heißgetränken, Tassen, ein paar Kleinigkeiten zum Naschen oder Knabbern hervorzaubert. Eine kurze Pause, bevor es zu einer anderen Warft zum Aufsammeln geht, wird von allen gern angenommen.

Am 21. ist es dann endlich so weit. Mit meinen Gästen und mit Freunden aus Lübeck, die schon seit mehr als zehn Jahren immer zum Biikebrennen kommen, wird der Abend in meiner Küche mit einer hauseigenen Tradition eingeläutet. Wir nennen es »Die große Salbung«. Ein Nivea-Topf wird herumgereicht, jeder greift tief hinein und schmiert sich das Gesicht ein, bis es richtig schön fettig glänzt. Dazu gibt es einen kleinen Umtrunk und so stimmen wir uns auf einen besonderen Abend und meist auch eine fröhliche und lange Nacht ein.

Um 19 Uhr wird die Biike bei der Badestelle am Landsende von der Freiwilligen Feuerwehr angezündet. Wir haben es also nicht weit zum Ort des Geschehens, brauchen auch kein Auto, sondern gehen kurz vor 19 Uhr gemütlich los. Egal, wie dunkel es ist, das Feuer weist uns den ungefähr zweihundert Meter langen Weg. Um das Feuer herum haben sich Bewohner und Gäste eingefunden und auch der Stand mit dem Teepunsch ist bereits aufgebaut. In den letzten Jahren hat unser Pastor das ein oder andere bekannte Lied auf dem Schifferklavier gespielt und meistens haben fast alle mitgesungen. Es gab sogar mal ein Biikebrennen, bei dem ein junger Mann von der Hallig auf seinem Didgeridoo spielte. Auch das war etwas Besonderes und hat für eine heimelige Stimmung am Feuer gesorgt. Ich finde es schön, wenn am Feuer gesungen wird. Auf Hallig Langeneß gehört das wohl schon längst zur Tradition, auf Hooge gibt es verschiedene Meinungen dazu. Die einen möchten, dass Feste so gefeiert werden, wie sie immer schon gefeiert wurden, und das am besten nur unter den Einheimischen selbst. Andere freuen sich darüber, dass gerade das Biikebrennen von Freunden und Gästen so gut angenommen wird und jedes Jahr ein paar Menschen mehr extra dafür nach Hooge kommen. Aber so ist es ja häufig: Die einen möchten, dass sich nichts verändert, alles so bleibt, wie es ist, und andere öffnen sich und freuen sich über frischen Wind. Manche Veränderungen kommen und manche verschwinden auch wieder mit der Zeit. Nichts ist so beständig wie der Wandel.

Bei einer Veränderung ist nicht mehr ganz nachvollziehbar, wann sie Einzug gehalten hat und wer dafür verantwortlich ist. Fakt ist aber, dass dieser »neue Brauch« nur auf Hooge stattfindet. Sobald die ersten Stämme von den Flammen verschlungen sind, werden vor allem die Kinder und Junggebliebenen aktiv. Sie ziehen die verkohlten Holzstücke aus dem Haufen, reiben die Hände an den rußigen Scheiten, bis sie pechschwarz sind, und gehen dann auf die Jagd nach weißen Gesichtern. Sie schleichen sich an und fallen plötzlich aus dem Hinterhalt über einen her. Ein Entkommen ist nicht möglich. Alles, was nicht von Mütze oder Schal bedeckt ist, wird schonungslos eingerieben. Der Ruß klebt in allen Poren und Falten – es sei denn, man hat sich vorher kräftig eingecremt! Dann braucht es keine Kernseife, um den klebrigen Ruß vor dem Zu-Bett-Gehen abzuwaschen. Ob man so verrußt blöd aussieht oder nicht, ist völlig egal! Selbst sieht man sich ja nicht. Und den Gästen sagen wir stets, dass das geschwärzte Gesicht die Eintrittskarte in die beiden Restaurants sei, die zu diesem Anlass geöffnet haben. In den Sommermonaten gibt es vier weitere Gaststätten und ein Café, für die es natürlich keine geschwärzten Gesichter oder Ähnliches braucht.

Wenn das Feuer heruntergebrannt ist, ist die lange Biikenacht noch nicht vorbei. Traditionell findet man sich zum gemeinsamen Grünkohlessen ein. Biikebrennen und Grünkohl gehören zusammen wie Ostern und Schokoladeneier! Grünkohl wird traditionell mit Kochwurst, Kasseler und Schweinebacke sowie Salz-, Brat- oder süßen Kartoffeln gereicht. Die süßen Kartoffeln sind für mich ein Höhepunkt. Sie werden in der Pfanne mit Zucker geschwenkt, bis dieser karamellisiert. Diese süßen Kartoffeln gab es allerdings nur in dem Gasthaus, in dem meine Gruppe noch vor ein paar Jahren zur Biike saß. Dieses gibt es aber nicht mehr, daher haben wir gewechselt und müssen nun auf diese Spezialität verzichten. Manche Gastgeber wählen die einfache Alternative und stellen einen Topf mit Zucker auf den Tisch. Diesen streuen sich viele direkt auf den Kohl – das ist aber nicht dasselbe.

Alle sind in den Gaststätten herzlich willkommen zu Grünkohl und guter Stimmung und dementsprechend wird es auch immer voller. Je nachdem, wie die Organisation, also die Bestuhlung und auch die Reservierungen, in den einzelnen Gasthäusern gehandhabt wird, kann es auch mal passieren, dass Gäste, die nicht wussten, dass man anlässlich des gesellschaftlichen Groß­ereignisses besser hätte reservieren sollen, keinen Platz mehr bekommen und das Lokal mit knurrendem Magen verlassen müssen. Oder dass die Servicekräfte in der Enge der vollen Stube mit dem Reichen der Speisen nicht hinterherkommen. Dann kann es hilfreich sein, talentierte Musiker unter den Gästen zu haben, die für gute Stimmung sorgen. Es gibt da zwei, die seit Jahren im Gasthaus Zum Seehund alle Musikwünsche der Gäste erfüllen, solange ihre Stimmbänder durchhalten und ihre Finger die Saiten ihrer Gitarren greifen können. Was auch immer gewünscht wird, ihr Repertoire ist unerschöpflich, sie kennen alles, können alles, spielen und singen fantastisch. So stimmen die anderen ein und wir singen gemeinsam von dem »Mädchen im Wagen vor mir«, vom »Ring of Fire« und den »Mountains in West Virginia«. Wir singen sehnsüchtig von Orten, von denen wir träumen, und solchen, wo wir einmal zu Hause waren, und wissen ganz genau: So schön, schön war die Zeit.

Wenn man Jahr aus, Jahr ein mit einer festen Gruppe um sich herum solch ein Fest feiert, wächst man ganz schön eng zusammen. Vor allem kann man aber auch wunderbar gemeinsam in Erinnerungen schwelgen. Gern denken wir zum Beispiel an das Biikebrennen 2005 zurück. An diesem nahm ein Journalist des Deutschlandfunks teil. Eigentlich war er »nur« wegen der UNESCO-Auszeichnung zum Biosphärenreservat nach Hooge gekommen. Aber wer Mitte Februar den Weg auf die Hallig findet, kommt am Biikebrennen nicht vorbei. Darauf sollte man vorbereitet sein. Er war es nicht! Das sahen wir sofort, als wir das erste Mal auf ihn trafen. Das war direkt nach dem Feuer, als wir alle mit geschwärzten Gesichtern, in ausgelassener Stimmung und mit hungrigen Mägen in das Restaurant Königspesel eintraten. Größer konnten die Unterschiede gar nicht sein. Unsere Gruppe, die in lauter und durchaus aufgekratzter Stimmung den Gastraum betrat, und er, der still am Tisch sitzende Mann, der auf uns wartete. Auf den ersten Blick kam er uns »very british« vor. Hemd, Pullunder, Sakko. Alles aufeinander abgestimmt, viele Karos. Erdfarben. Den Schal in lässiger Eleganz um den Hals geschwungen. Unaufdringlich und chic saß er da, vor sich ein Aufnahmegerät und ein Glas mit heißem Tee.

Ganz genau können wir es nicht mehr nachvollziehen, aber sehr lange dauerte es nicht, bis das Sakko über irgendeiner Stuhllehne hing, der Pullunder über einer anderen. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt und der Schal hing um einen anderen Hals. Der Tee war längst ausgetrunken und vergessen, stattdessen stand nun ein volles Glas Bier vor ihm. Und wie bei allen anderen auch zwei, drei oder auch vier leere Schnapsgläschen. Längst hatte er sich von der ausgelassenen Stimmung anstecken lassen. Er hätte auch gar nicht anders können. Mittendrin statt nur dabei – sonst hätte er auch nicht die Stimmung aufnehmen oder gar wiedergeben können, die an diesem Abend herrschte. So wurde aus dem Bericht über das UNESCO-Weltkulturerbe »Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und Halligen« eine stimmungsvolle Vor-Ort-Reportage, in der der Reporter sich den Traditionen des Biikefestes bereitwillig im Selbstversuch stellte. Allerdings sollte man sich vorher über zwei Dinge im Klaren sein: die eigene Trinkfestigkeit und die anstehenden Termine am Tag danach. Über beides hatte sich dieser Journalist vorab keine Gedanken gemacht. Darüber hinaus hatte er wohl die Wetterverhältnisse im Februar auf ­einer Hallig und vor allem die Größe einer solchen völlig unterschätzt. Er und ich waren am nächsten Tag um elf Uhr verabredet. Er wollte mit mir über den Tourismus auf Hooge sprechen. Irgendwann nach 13 Uhr tauchte er bei mir auf. Wo er in der Zwischenzeit abgeblieben war, konnte er mir nicht sagen. Er versicherte mir, dass er pünktlich auf der Backenswarft gestartet sei. Zu Fuß. Das schafft man eigentlich in dreißig bis vierzig Minuten. Okay, bei eisigem Gegenwind vielleicht eher in fünfzig Minuten. Vielleicht brauchte er nach dem feuchtfröhlichen Abend auch einfach nur eine Extraportion frische Seeluft. Gut erinnern konnte er sich allerdings noch an die Spezialität des Restaurants am Abend zuvor, die murmelgroßen süßen Kartoffeln. Ein echter Hochgenuss! Auch wusste er noch, dass wir ausgiebig gesungen hatten, insbesondere das Lieblingslied der Wirtin. Als Dank für ihre tolle Küche sind wir für sie und mit ihr mindestens dreimal über die sieben Brücken von Peter Maffay gegangen. Jedes Mal aus tiefstem Herzen und mit völliger Hingabe.

Nach diesem Rückblick konzentrierten wir uns schließlich auf das Interview und ich gab ihm bei mehreren Tassen starken Kaffees Einblicke in das touristische Angebot in der Biosphäre Halligen. Der Tourismus gewinnt hier zunehmend an Bedeutung. Früher gab es mehrere landwirtschaftliche Betriebe, doch inzwischen bieten fast alle Einheimischen Ferienunterkünfte an und leben von und mit den rund 46.000 Übernachtungsgästen, die im Jahr auf Hooge Urlaub machen. Dazu kommen im Jahr rund neunzigtausend Tagesausflügler zu Besuch auf unser Eiland.

Normalerweise steht am Tag danach, also am 22. Februar, etwas ganz anderes als ein Interview an. Dann gibt es eine weitere kulinarische Tradition im Haus am Landsende. Da die Nacht meistens recht kurz war, gibt es ein spätes Frühstück. Für die Gäste des Hauses und gute Freunde ist gegen elf Uhr der Tisch gedeckt. Beim Anblick des reichlich bestückten Tisches ist spätestens jetzt jedem klar, wo meine Wurzeln liegen: Eine bayerische Brotzeit ist angerichtet. In der Mitte des Tisches steht ein großer Topf mit Weißwürsten, rechts und links von diesem stehen Schalen mit Leberkäs, süßem Senf und natürlich gibt es auch Obazter, Wurstsalat und Brez’n. Manch einer greift zum Weißbier, ein anderer lieber zur Apfelschorle, ich mische mir ein Radler. Spätestens um elf Uhr dreißig sitzen dann alle auf ihren Plätzen, denn das Zwölf-Uhr-Kirchenglockenläuten dürfen die Weißwürste nicht mehr erleben – sagt eine bayerische Faustregel, an die wir uns nur zu gern halten. So sitzen in meiner Döns schon mal acht bis zwölf Personen um den großen Tisch und lassen es sich schmecken. Die Döns ist sozusagen das Vorzimmer des Pesels. Hier saß früher die Familie zu besonderen Anlässen zusammen. Heute steht die Döns für das einfache Wohnzimmer.

So haben das Biikebrennen am 21. Februar und die bayerische Brotzeit am Tag danach gut zusammengefunden. Biikebrennen ist für mich eines der schönsten Feste des Jahres. Und mir ist es egal, wie der Brauch entstanden ist und warum. Im Grunde ist es mir auch egal, ob wir singen oder nicht. Haupt­sache, ich habe liebe Menschen um mich herum, die dieses Fest, diese Tradition genießen und miteinander feiern. Das Beisammensein, die Leichtigkeit, die gute Stimmung und eine brennende Biike sind für mich das Wichtigste.

Dass ich ganz nebenbei dadurch in der sogenannten tourismusschwachen Saison auch noch ein volles Haus habe, ist für mich existenziell notwendig. Diese Kombination aus »Tradi­tion leben« und »Türen für Gäste öffnen« ist eine wunderbare Gelegenheit, Gutes und Notwendiges zu verbinden und mir somit meine Existenz auf Hooge zu sichern. Das ist ein Punkt, der neben all der Liebe zur Tradition und der bei manchen Bewohnern tief verwurzelten Sehnsucht, die Hallig möge im Winter nur den Halligleuten gehören, berücksichtigt werden muss, wenn es langfristig Betriebe auf der Hallig geben soll, die vom Tourismus leben.

Wie schon gesagt: Nichts ist so beständig wie der ­Wandel. Das gilt auch für eine Hallig. Selbst wenn dort ein Wandel manchmal etwas langsamer vonstattengeht, so ist er doch unaufhaltbar. Aber wenn man die Chance hat, diesen Wandel selbst zu gestalten, dann sind die Aussichten, dass man diesen positiv beeinflussen kann, schlichtweg besser. Klar ist es einfacher, alles so zu lassen, wie es immer war, bringt aber langfristig das Gegenteil mit sich. Denn wenn wir auf Dauer daran festhalten, mit dem Biikefeuer die Walfänger zu verabschieden oder Wotan zu besänftigen, dann hat das Feuer heute doch irgendwie seine Berechtigung verloren, oder?

Barfuß auf dem Sommerdeich

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