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KAPITEL 5

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Ein Winterspaziergang auf dem Deich


Die Frage, ob es gerade im Winter nicht furchtbar langweilig auf einer Hallig sei, verfolgt jeden Halligbewohner. Sie kann nur von jemandem gestellt werden, der keine Augen für die Natur hat, der die Stille nicht hören und die Weite nicht sehen kann. Diese Frage stellt zum Beispiel jemand, der noch nie Mitte Februar einen Spaziergang auf dem Deich gemacht hat. ­Zugegeben – das ist Hooge für Fortgeschrittene, aber eben auch wunderschön.

Etwas mehr als elf Kilometer sind es um Hooge herum. Zu Fuß ist die Hallig in gut drei Stunden umrundet. Wenn der Wind langsam weniger wird, es eisig kalt und noch ein bisschen nebelig ist, lohnt es sich, sich dick einzupacken und Richtung Wasser zu gehen. Man bekommt den Eindruck, als sei man ganz allein auf einer Insel mitten im Meer. Es sind keine Warften und auch keine umliegenden Eilande zu sehen. In solch einem Moment muss ich immer an Die unendliche Geschichte von ­Michael Ende denken. »Das Nichts breitet sich aus«, heißt es dort. Es ist ein bisschen unheimlich, aber auch beeindruckend schön, das Nichts zu sehen. Das schier unendliche Nichts. Und vor allem zu hören. Ein Uhu? Hier, ohne Wald? Ist dort tatsächlich ein Uhu zu hören oder ist das etwa die uralte Morla aus den Sümpfen der Traurigkeit? Nein, ganz im Gegenteil! Der Ruf erinnert zwar an einen Waldvogel (oder an das Gnaulen der alten Schildkröte), aber hier handelt es sich um eine Ente. Um genau zu sein, um den schwarz-weißen Erpel der Eiderenten, einer Meeres­­entenart mit besonders weichen Federn, deren wissenschaftlicher Name sich mit »die Allerweichste mit dem schwarzen Körper« übersetzen lässt. Es ist der Ruf des Erpels, den man in der Winterzeit besonders gut hören kann. Es ist auch nicht nur ein Erpel zu hören und mit Traurigkeit hat dieser Ruf auch nichts zu tun. Es ist ein Balzruf und wenn die Männer balzen, sind die Frauen meist nicht weit. Geben sich die Männer richtig Mühe, antworten die Damen auch irgendwann. Zwischen dem leisen Wind, dem Entenliebesgesäusel und den anderen Vogelstimmen, die um diese Jahreszeit noch sehr verhalten sind, ist immer wieder dieses Nichts zu hören. Das Wunderbare daran ist, dass man es nicht nur hören, sondern auch fühlen kann, und das ist keineswegs gruselig oder beängstigend.

Gut lässt es sich auch auf dem vom Wasser freigegebenen Wattboden laufen, entlang des Spülsaums, der sich nach dem Rückzug des Wassers immer wieder aufs Neue bildet und wie eine Wellenlinie voller kleiner Schätze und Geheimnisse aussieht. Wer besonders aufmerksam ist, kann in dem Gewirr von Seetang schon mal das »Gold des Meeres« finden, wie der ­Bernstein auch genannt wird. Mir ist das noch nicht geglückt. Einmal auf einer Wattwanderung zum Japsand, einer vorgelagerten Sandbank, die man nach gut einer Stunde erreicht – ich lief ganz vorn –, dachte ich mir: Was liegt denn da ein paar Meter voraus? So groß, könnte das womöglich ...? In diesem Moment lief ein Junge an mir vorbei und rief: »Hurra! Ich habe einen Bernstein gefunden! Ich bin der König der Schatzsucher!« Da wusste ich, dass das ein Bernstein war, und damit habe ich es auch mit der aktiven Suche gelassen. Einen so großen Stein habe ich nie wieder gesehen und nach den kleineren, die wesentlich häufiger vorkommen, halte ich erst gar nicht Ausschau. Es gibt unter den Halligbewohnern einige Adleraugen, die diese Schmucksteine, die erst nach dem Schleifen ihren wunderbaren Glanz in den verschiedensten Gelbtönen entfalten, auch aus einer Höhe von einem Meter achtzig entdecken. Das wird für mich ein ewiges Phänomen bleiben.

Spektakulär wird es, wenn sich der Nebel aufgelöst hat und eine vermeintlich riesige »Wolke« über dem Watt auftaucht. Die Wattfläche scheint kein greifbares Ende zu haben, der Horizont ist endlos. Diese »Wolken« tanzen wie auf einer Bühne und es dauert eine Weile, bis man begreift, wer hier die Wattbühne eingenommen hat. Es sind die Knutts, die vermutlich besten Tänzer der Welt, zumindest im Verbund und in der Luft. Die Knutts, auch Knuttstrandläufer genannt, sind etwa 25 Zentimeter lang und gehören zu den außergewöhnlichsten Langstreckenfliegern in der Vogelwelt. Ihre Überwinterungsgebiete liegen in Afrika, aber es gibt auch Unterarten, die in Australien oder Nord-Neuseeland überwintern. Auf ihrer Reise zwischen den Überwinterungs- und den Rast- und Brutgebieten in Kanada, Grönland und Sibirien können diese kleinen Vögel Etappen von bis zu fünftausend Kilometern nonstop zurücklegen. Das Wattenmeer gehört mit zu den wichtigsten Rastgebieten der Knutts. Es ist immer wieder eine einmalige Performance, die diese Vögel darbieten, und man fragt sich, warum es niemals zu einem »Aufflugunfall« kommt. Sagt einer von ihnen den Richtungswechsel an? Von jetzt auf gleich sind sie nicht mehr zu sehen, wenn sie die Richtung geändert haben. Je nachdem, ob sie uns den Rücken oder ihren Bauch zudrehen, gucken wir abwechselnd auf die dunkle oder die helle Seite ihres Körpers. Wenn die Sonne direkt darauf scheint, heben sie sich für einen Augenblick nicht mehr vom Hintergrund ab und scheinen verschwunden zu sein. Je nach Lichteinfall funkeln sie manchmal sogar und es sieht so aus, als ob Millionen von Diamanten am Himmel glitzern würden. Oft kann man sie erst gar nicht sehen, hört sie aber heranfliegen, da der Wind ihren Flügelschlag vo­rausschickt. Erst wenn sie direkt über einem sind, sieht man sie und ist regelrecht berauscht von der Geräuschkulisse und der Geschwindigkeit.

Auf den Gründeich, der durch einen Treppenaufgang zu erreichen ist, läuft es sich bei frostigen Verhältnissen besonders gut. Das noch von Raureif benetzte Gras glitzert in der Vormittagssonne, die Luft ist klar und die Vogelstimmen werden bei diesen Bedingungen weit getragen. Wie auch das »Rott rott« der Ringelgänse, das aus dem Watt zu hören ist. Sie sind ganz besondere Gäste, die nur zweimal im Jahr auf den Halligen zu beobachten sind. Wenn sie nicht hier sind, sind sie entweder in ihren Winterrevieren in Großbritannien, Südfrankreich und den Niederlanden oder sie sind in der Mauser und das geschieht in Sibirien. Im äußersten Norden gibt es die Halbinsel Taimyr, sie ist der nördlichste kontinentale Festlandteil der Erde. Bis dorthin fliegen die Ringelgänse im Frühjahr, um zu brüten, nachdem sie sich im Wattenmeer dick und rund gefressen haben. Es dauert eine ganze Weile, bis eine Ringelgans satt ist. Ringelgänse sind Vegetarier und nur knapp ein Drittel der aufgenommenen Nahrung kann auch tatsächlich verdaut werden. So kommt es, dass die Gänse alle drei bis vier Minuten ein kleines Würstchen fallen lassen. Diese Spuren sind auf dem Deich gut zu sehen. Kreuz und quer liegen sie, die Hinterlassenschaften dieser Gänse. Man muss schon richtig viel fressen, wenn man alle drei Minuten verdaut und trotzdem zunehmen soll.

Auf der Hallig hat jede Jahreszeit ihre besonderen Reize. Herbst und Winter können sehr rau und grau sein, aber eben auch hell und freundlich. Manchmal gibt es auch Schnee. Das sieht dann fast märchenhaft aus, wenn man zur Nachbarhallig Langeneß guckt. Schneeweiße Dächer und gezuckerte Warften, umringt von einer grauweißen Steinkante. Wenn dann noch Eisschollen durch das Wasser getragen werden, ist das Kitschbild fast perfekt. Es ist schön. Und ruhig.

Der Herbst kann den krassen Gegensatz bilden, von Kitsch keine Spur. Auch wenn wir auf Hooge nur noch durchschnittlich von drei- bis fünfmal Landunter sprechen, ist es trotzdem eine Naturgewalt, die zur Hallig gehört und sogar nötig ist. Nicht nur die Flora hat sich auf den Salzgehalt eingestellt, eine regelmäßige Sedimentenablagerung ist auch für den Aufbau einer Hallig wichtig. Wenn Sturm aufkommt, wissen alle, was zu tun ist. Dann sollte niemand mehr auf dem Deich spazieren gehen. Wenn das Wasser den Deich überflutet, läuft die Hallig sehr schnell voll, das Wasser kommt von allen Seiten und man wäre im Nullkommanix vom Wasser eingeschlossen, genauso wie es auch draußen im Watt passiert, wenn die Flut einsetzt. Es ist ein Irrglaube vieler Urlauber, dass das Wasser ja nur von vorn kommen kann, wenn man den Strand oder den Deich im Rücken hat. Das Wattenmeer ist von vielen Prielen – das sind natürliche Wasserläufe – mit unterschiedlicher Tiefe durchzogen. Der eine läuft schneller voll, der andere langsamer. Wer mittendrin steht, kriegt mehr als nur nasse Füße.

Nasse Füße, ein geschärfter Blick, ein Ohr für die Stille – eine Hallig muss man unbedingt mit allen Sinnen erleben. Besonders während eines Deichspaziergangs im Winter. Wer das nicht kann oder nicht aushält oder nichts sieht, der steckt womöglich tatsächlich tief drin in den Sümpfen der Traurigkeit.

Barfuß auf dem Sommerdeich

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