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KAPITEL 1

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Eine Oase im rauen Meer


Es war im August 1995, als meine Mutter anrief und sagte: »Wir können das Haus kaufen, in dem wir gerade unseren Urlaub verbringen! Was hältst du davon?«

»Na, das ist ja mal ein nettes Souvenir, das ihr aus eurem Urlaub mitbringen wollt. Ist mal was anderes«, sagte ich überrascht. »Soll das ein Scherz sein?«

Nein, es war kein Scherz!

Meine Eltern, damit meine ich meine Mutter und meinen Stiefvater, waren mal wieder auf Hooge zu Gast und wohnten diesmal in einem Haus auf der Ockenswarft, das sie ein Jahr zuvor bei einem ihrer Spaziergänge entdeckt hatten. Ein kleines Reetdachhaus, über dreihundert Jahre alt, mit einem großen, wilden Garten und einer Ferienwohnung. Die Ockenswarft liegt im Osten der Hallig, fernab vom Trubel, den es durchaus auf einer Hallig geben kann, zumindest während der Sommermonate. Eine Warft ist ein künstlich aufgeworfener Erdhügel, überwiegend aus Kleiboden, der wie ein runder Siedlungs­­hügel wirkt, je nachdem, wie viele Häuser auf diesem rund sechs Meter hohen Hügel stehen. Die Ockenswarft zählt mit rund zehn Gebäuden zu den größeren der zehn bewohnten Warften auf Hooge.

Meine Eltern waren gerade eine Woche auf Hooge, als die Vermieterin darum bat, mit einem Makler durch die Ferienwohnung gehen zu dürfen. Sie müsse das Haus verkaufen und daher solle ein Gutachten erstellt werden. Damit war es vorbei mit einem ruhigen und entspannenden Urlaub, denn meine Eltern hatten sich in das Haus verliebt und erwogen nun, dieses Kleinod selbst zu erwerben. Eine Entscheidung, die ihr Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf stellen könnte.

Tatsächlich haben meine Mutter und mein Stiefvater Nägel mit Köpfen gemacht. Sie hatte bereits aufgehört zu arbeiten, er nahm kurzerhand das Angebot seines Arbeitgebers an, in den Vorruhestand zu gehen. Der Verkauf des Hauses in München wurde eingeleitet und der Umzug auf die Hallig für Anfang Januar organisiert. Für beide war es nicht der erste Umzug, daher dachte keiner daran, dass dieser Umzug anders als die anderen werden würde. Auch gab es schon Umzüge in der Winterzeit. Aber ein Umzug auf eine Hallig im Winter – dabei werden Festländler direkt auf die erste Probe gestellt. Die Fähre zwischen Hooge und dem Festlandhafen Schlüttsiel transportiert alles, was zwischen Festland und Hallig hin und her muss: Waren, Güter, zwei- und vierbeinige Pensionsgäste und – wie in unserem Fall – ganze Haushalte.

Windvorhersage, Gezeitenkalender, Anlegerbrücken – was für eine Rolle spielt es denn, wenn der Wind aus Osten bläst und der Wasserstand gerade ablaufendes Wasser anzeigt? Das beeinflusst einen gestandenen Umzugstrupp aus München doch nicht! Dass Wind und Wasser aber durchaus das letzte Wort haben, bekamen die Umzugshelfer auf der Fähre zu spüren. Die Fahrt war fast geschafft, der Lkw auf der Fähre abgestellt und die erste Runde wärmenden Teepunschs bestellt. Die 75 Minuten Überfahrt waren eine willkommene Pause. Alle hatten es sich gerade gemütlich gemacht, als der Kapitän an den Tisch trat.

»Wir haben zu wenig Wasser unterm Kiel! Das heißt, dass der Lkw auf der Hallig nicht von der Fähre runterfahren kann, da die Neigung der Brücke zu steil sein wird. Ihr müsst umladen.«

Das war’s mit der ersehnten Pause, denn allen war sofort klar, was das bedeutete. Eine knappe Stunde war nun Zeit, um die Kartons und Möbel auf die von der Fähre mitgeführten Rollwagen umzupacken. Ein Kraftakt! Erschöpft und hungrig packte der Trupp noch einmal an und schaffte Stück für Stück aus dem Lkw auf die Anhänger. Ins Schwitzen kam trotz des Zeitdrucks niemand, denn bei dem hier üblichen eisigen Ostwind ist das schier unmöglich.

Auf Hooge angekommen, nahmen mein Stiefvater und ich die müden Umzugshelfer und die voll beladenen Rollwagen in Empfang. Wir beide waren gemeinsam mit meinem Onkel eine Woche früher angereist, um die Vorbereitungen zu erledigen. Schlaf- und auch Stellplätze mussten geschaffen werden. Am Anleger kam uns ein Halligbewohner mit seinem Traktor zu Hilfe. Er fuhr nacheinander die drei voll beladenen Rollwagen zur Ockenswarft. Auf dem Weg vorbei an den beiden ersten Warften saß ich hoch oben auf dem Wagen und versuchte Kartons, Wohnzimmerlampe, Sofa und Gummibaum gleichzeitig festzuhalten. Bis dahin hatte ich keine Vorstellung davon, wie lang die Strecke vom Anleger bis zur Ockenswarft sein kann. Fuhren wir mit dem Auto sonst nur ein paar Minuten, dauerte es diesmal eine gefühlte Ewigkeit. Ich dachte die ganze Zeit Hoffentlich sieht das keiner, aber diesen Satz kann man getrost aus seinem Wortschatz streichen, wenn man auf eine Hallig zieht. Auf halber Strecke fiel der Küchenschrank vom Anhänger, denn der Wind war nicht nur eisig, sondern blies mit Stärke sechs aus Ost. Selbst wenn das Möbelstück für mich in Reichweite gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich nur in Zeitlupe bewegen können, so steif waren meine Glieder inzwischen gefroren. Ich machte mich also lautstark bemerkbar und bedeutete dem hilfsbereiten Traktorfahrer, anzuhalten. Der Küchenschrank wurde ein weiteres Mal hochgehievt und weiter ging die abenteuerliche Fahrt. Inzwischen war es dunkel geworden und dunkel heißt im Winter auf der Hallig sehr dunkel! Straßenlaternen gibt es nicht und wenn der Mond nicht scheint, sieht man manchmal die Hand vor Augen nicht. Da aber die Fracht ungeschützt auf den Anhängern lag, musste alles noch ins Haus geschafft werden, egal, wie müde und durchgefroren wir waren. Irgendwann spät in der Nacht sagten meine Eltern endlich: »Willkommen im Haus am Landsende.« Das war im Januar 1996.

Es sollte noch vier Jahre dauern, bis auch ich meinen ersten Wohnsitz auf der Hallig anmelden würde. Bis dahin war ich so oft wie möglich bei meinen Eltern zu Besuch. Manchmal flog ich für ein verlängertes Wochenende, manchmal fuhr ich die Strecke mit dem Auto, gemeinsam mit einer Freundin, und wenn ich es richtig genießen wollte, fuhr ich mit dem Motorrad.

In diesen vier Jahren habe ich miterlebt, wie sich das neue Zuhause meiner Eltern zu einem Kleinod entwickelte. Den wilden Garten verwandelte meine Mutter mit Hingabe in ein blühendes Idyll, dem ein Klostergarten als Vorlage diente. Buchsbäume umranden die insgesamt fünf Beete, die jeweils mit rot, gelb, weiß oder blau blühenden Pflanzen bestückt sind. In der Mitte steht eine Stammrose und irgendwas blüht immer. So ist über die Jahre eine richtige kleine Oase entstanden. Eine Oase, in der sich auch Gäste des Hauses gern aufhalten, wenn sie ihren Urlaub in einer der beiden Ferienwohnungen verbringen, die im ersten Stock ausgebaut wurden. »Die Grüne« gab es schon. Sie wurde allerdings völlig neu eingerichtet und dekoriert. Diese Wohnung ist die größere, hier können bis zu vier Personen wohnen. Sie ist in einem warmen Grün gehalten, die Decke ist nicht ganz so hoch, alte Holzbalken sind zu sehen, was dieser Wohnung etwas Heimeliges und Kuscheliges gibt. Vor allem in den Wintermonaten. »Die Blaue« haben meine Eltern zwei Jahre nach ihrem Einzug ausgebaut und angelehnt an den Gustavianischen Stil, also mit schwedischer Herzlichkeit und kühlen Farben, eingerichtet. Auch hier gibt es zwei Alkoven, die zwei Personen Platz bieten. Gäste fragen mich häufig, ob man denn in so einem Wandschrank auch zu zweit schlafen könnte.

»Das kommt ganz darauf an, wie gern Sie sich haben«, ist meine Antwort. Selten liegt man wie ein Streichholz in der Schachtel, daher sind zwei Meter Länge und ein Meter Breite eigentlich ausreichend. Sogar sehr große Gäste geben mir als Rückmeldung, dass sie die Alkoven sehr gemütlich finden. Ich liebe es, im Alkoven zu schlafen, und raumsparend sind sie auch. So haben meine Eltern nicht nur für sich ein neues Zuhause geschaffen, sondern auch einen Ort, an dem sich Urlaubsgäste wie zu Hause fühlen.

Barfuß auf dem Sommerdeich

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