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Reformen und ihre Auswirkungen

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Nach und nach konnten die politisch und auch gesellschaftlich anerkannten Forderungen nach Reformen in der Praxis der Heimerziehung realisiert werden. Vor allem wurde dafür gesorgt, dass pädagogisch gut ausgebildetes Personal in den Heimen arbeitet und entsprechende Richtlinien der Heimaufsichtsbehörden wurden erlassen. Im Laufe der Jahre verringerte sich die Gruppengröße immer mehr, sodass heute durchschnittlich acht bis zehn Kinder/Jugendliche von vier pädagogischen Mitarbeiter*innen betreut werden. In Intensivwohngruppen kann der Betreuungsschlüssel teilweise noch besser sein, sodass fast auf jedes Kind oder Jugendlichen eine Betreuungskraft kommt. Diese aus pädagogischen Gründen zu begrüßende Strukturveränderung und Qualifizierung hatte allerdings ganz erhebliche Kostensteigerungen zur Folge. Ungefähr 70 bis 80 % der Heimkosten resultierten aus Personalkosten.

Nicht nur unter pädagogischen, sondern auch unter finanziellen Gesichtspunkten wurde und wird daher versucht, Heimerziehung zu vermeiden. In den letzten 40 Jahren wurden vorbeugende oder alternative Maßnahmen, die Schwierigkeiten bei Kindern in ihrer Entstehung verhindern oder ambulant abbauen können, verstärkt. Als solche ambulante oder teilstationäre Erziehungshilfen, die einem Kind den Heimaufenthalt unter Umständen ersparen können, wären zu nennen:

Erziehungsberatung,

Soziale Gruppenarbeit,

Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer,

Sozialpädagogische Familienhilfe,

Erziehung in einer Tagesgruppe.

Diese Hilfen stehen im Kinder- und Jugendhilfegesetz auch explizit in den Paragraphen 27 ff. SGB VIII.

Der außerdem zu Beginn der 1970er-Jahre gewaltige Ausbau des Pflegekinderwesens hat Heimerziehung in sehr vielen Fällen ersetzen können. Aus pädagogischen Gründen werden vor allem Kleinstkinder und Kinder im Vorschulalter nur noch selten in einem Heim untergebracht und Pflegefamilien vorgezogen.

Die begrüßenswerte Tatsache, dass in vielen Fällen die vorbeugenden und alternativen Maßnahmen erfolgreich waren und ein Heimaufenthalt nicht mehr notwendig wurde, hat aus der Sicht der Heimerziehung zu einer gewaltigen Erschwerung der täglichen Praxis geführt; denn in den Heimen verblieben vor allem die Kinder und Jugendlichen, die nicht in Pflegestellen vermittelt werden konnte und erst mit massiven Problemen und nach längerer Zeit ungünstiger Bedingungen in familiären Strukturen aufgenommen wurden.

Bisweilen konnten regelrechte Kampagnen beobachtet werden; Heimerziehung wurde verteufelt, die Jugendämter beschuldigt, weil sie pädagogisch verantwortungslos viel zu wenige Heimkinder in Pflegefamilien vermittelt hätten. Zwar melden sich viel mehr Bewerber*innen bei den Jugendämtern als Pflegeverhältnisse vereinbart werden, hierbei gilt es jedoch, die Erfahrung der Pflegevermittlungen in den Jugendämtern zu beachten. Von 100 Anfragen nach Pflegekindern bleiben durchschnittlich nur zwei bis drei Eltern übrig, denen ein Pflegekind verantwortungsvoll vermittelt werden kann. Bei den anderen waren die Anfrage und die zugrundeliegende Motivation oft nur von kurzer Dauer – bisweilen aus spontanen sentimentalen Anlässen heraus geschehen – in anderen Fällen war die Motivation der Pflegeelternbewerber*innen oder deren häusliche Situation völlig ungeeignet, um dem Wohl von Pflegekindern zu entsprechen.

Erfahrungsgemäß ist es auch äußerst schwierig, Kinder, die älter als sechs Jahre alt sind, in Pflegefamilien zu vermitteln, weil diese in der Regel jüngere bevorzugen. Noch schwieriger wird diese Situation, wenn es sich um Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten handelt. Es ist auch richtig, dass es mehr Adoptivbewerber*innen als adoptivfähige Kinder gibt; doch bei vielen Heimkindern sind die rechtlichen Voraussetzungen zur Adoption nicht gegeben, und viele sind wiederum zu alt, um dem Wunschalter von zukünftigen Adoptiveltern zu entsprechen.

Zwar hat vor allem das Pflegekinderwesen zu einem stetigen Abbau der Heimkinderzahlen beigetragen, es ist aber zu berücksichtigen, dass dieser Abbau aus den vorgenannten Gründen begrenzt bleiben wird, und es muss auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass nicht wenige Kinder und Jugendliche nach gescheiterten Pflegeverhältnissen (wieder) ins Heim kommen. Im Jahre 2016 wurden 2.214 Minderjährige aus Heimen und Wohngruppen in Pflegefamilien vermittelt. Im gleichen Zeitraum kamen allerdings auch 2.263 Kinder und Jugendliche aus Pflegefamilien in Heimerziehung (Statistisches Bundesamt 2018 b). Im Jahr 2016 führte die hohe Anzahl von geflüchteten Menschen, die nach Deutschland eingereist sind, zu einem massiven Anstieg der stationären Hilfen zur Erziehung, insbesondere in den Heimgruppen. So stieg hier die Zahl im Jahr 2016 im Vergleich zu 2014 um fast 50 % an (Statistisches Bundesamt 2017).

Unbestreitbar sind unter dem stärker gewordenen Kostendruck der öffentlichen Haushalte auch fiskalische Gesichtspunkte für den Versuch einer weiteren Vermeidung von Heimerziehung verantwortlich.

Allerdings lohnen sich die Gelder, die für den stationären Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Erziehungshilfe investiert werden auch aus volkswirtschaftlicher Sicht. Eine Evaluationsstudie, in der die Hilfeverläufe von 471 jungen Menschen in acht Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe evaluiert wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass durch Heimerziehung erhebliche volkswirtschaftliche Nutzeffekte zu erzielen sind: „Die Kosten-Nutzen-Relation ist in hohem Maße von der Hilfedauer abhängig:

1.Hilfen unter einem Jahr erreichen einen kritischen Wert von 1:0,74. 1 Euro steht nur 74 Cent Nutzeneffekte gegenüber.

2.Heimerziehung mit einer Dauer zwischen einem und zwei Jahren erreicht hingegen eine Nutzen-Kosten-Relation von 1:3,35.

3.Hilfen über zwei Jahren erreichen trotz linear mit der Hilfedauer steigenden Kosten sogar eine Nutzen-Kosten-Relation von 1:3,85“ (Macsenaere/Keller, Arnold 2011, S. 154).

Praxis und Methoden der Heimerziehung

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