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Kapitel 2 Heimerziehung im Kontext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) Die generelle Zielsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)
ОглавлениеDas Sozialgesetzbuch (SGB) VIII trat am 3. Oktober 1990 in den neuen und am 1. Januar 1991 in den alten Bundesländern in Kraft. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bezeichnung Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gebräuchlich.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz folgt den Erkenntnissen der Sozialisationsforschung sowie neueren Ansätzen der Pädagogik und anderer Sozialwissenschaften. Der im Verhältnis zum alten Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) aufgetretene Perspektivenwechsel wird schon in § 1 des neuen Gesetzes deutlich:
Unter der Überschrift „Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe“ werden die Grundlagen und Zielsetzungen der Jugendhilfe zusammengefasst:
„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1.junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2.Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen,
3.Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.“
Die Lebensweltorientierung als Leitnorm des KJHG stärkt eindeutig die Stellung der Eltern und unterstreicht damit den Wert der Familie. Gleichwohl war sich der Gesetzgeber durchaus bewusst, dass Rahmenbedingungen in Familien so ungünstig sein können, dass sie sich gefährdend auf das Wohl der Kinder auswirken. Natürlich ist nicht jede Abweichung von der klassischen Kernfamilie als defizitär oder pathogen zu verstehen. Kinder und Jugendliche, die Erziehungshilfen benötigen, entstammen jedoch häufig Lebensformen, in denen Familien von Langzeitarbeitslosigkeit, der Not, eine angemessene Wohnung zu finden und bezahlen zu können sowie weiteren Herausforderungen eines Lebens am Existenzminimum betroffen sind. Das ist häufig verbunden mit alleinerziehenden Elternteilen, teilweise nach Scheidung, die schon deswegen stärker vom Armutsrisiko betroffen sind (s. u. a. Pears/Capaldi 2001). Das Leben am Existenzminimum geht insgesamt mit einem erhöhten Risiko für psychische Belastungen einher, was auch durch den vierten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesregierung 2017) bestätigt wird, wonach insbesondere von Arbeitslosigkeit betroffene Familien, Alleinerziehende und deren Kinder, gefolgt von Familien mit Migrationshintergrund ein besonders hohes Armutsrisiko tragen (S. XXI – XXII).
Das Armutsrisiko von Kindern ist nach wie vor deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. So leben rund 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche in Haushalten mit geringem Einkommen (S. 248). Dies sind fast 20 % aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen.
Armut sowie die anderen vorgenannten familiären Situationen können negative Sozialisationsverläufe von Kindern und Jugendlichen auslösen und begünstigen. Da die Erziehungsverantwortung im KJHG primär bei den Eltern angesiedelt wurde, galt es, die Leistungen zugunsten der familiären Erziehung stark auszuweiten. Damit folgt dieses Gesetz auch systemorientierten Erklärungen, wonach Schwierigkeiten und auftretende Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen vorwiegend als Symptome der individuell vorhandenen Beziehungsstrukturen der Familie und des sozialen Systems zu verstehen sind.
Das Gesetz gibt nicht allgemeine Erziehungsziele vor, sondern spricht von individueller sozialer Entwicklung. Damit werden die Lebensbezüge der Menschen akzeptiert und ernst genommen. Auf diese gilt es sozialpädagogisch aufzubauen, die unterschiedlichen Leistungsangebote der Jugendhilfe sind umwelt- und lebensweltorientiert (Frankfurter Kommentar 2019, S. 360). Für die Heimerziehung bedeutet das Konzept der Lebensweltorientierung die Akzeptanz, Beachtung und Förderung früherer und gegenwärtiger örtlicher und sozialer Beziehungen der jungen Menschen. Deren individuellen Lebenswelten werden zum Ausgangspunkt einer ressourcenorientierten Entwicklungsförderung. Diese zielt auf eine Bewältigung der Anforderungen im Alltag ab, auf soziale Gerechtigkeit und letztlich auf eine Hilfe zur Selbsthilfe (Grunwald/Thiersch 2018, S. 906).