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Einbezug seelisch Behinderter
ОглавлениеDer Gesetzgeber hat in § 35a des KJHG ausdrücklich auch solche Kinder und Jugendliche aufgenommen, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Diese, bezogen auf die Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen, welchen Hilfe zur Erziehung gewährt wird, relativ kleine Gruppe hat Anspruch auf Eingliederungshilfe und im Bedarfsfall auch Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, somit auch auf stationäre Erziehungshilfen. Mit der Berücksichtigung seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher im KJHG beendete der Gesetzgeber den jahrzehntelang andauernden Streit, ob diese Minderjährigen durch Maßnahmen der Sozial- oder der Jugendhilfe gefördert werden sollen. Im Zuge der Novellierung des KJHG (1. Oktober 2005) wurde der § 35a ergänzt. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat nun hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit die fachliche Stellungnahme eines/einer entsprechenden Fachärzt*in oder Psychotherapeut*in einzuholen. Als seelisch behindert werden jene Personen angesehen, die als chronisch psychisch krank gelten und die oftmals längere Aufenthalte in Psychiatrien durchlebt haben. Bei ihnen wurde eine psychische Störung festgestellt, welche die Voraussetzungen erfüllt, ihre Teilhabefähigkeit wesentlich zu beeinträchtigen. Der Begriff der seelischen Behinderung ist nicht als statisch zu verstehen, sondern z. B. gesellschaftlichen Veränderungen und Einstellungen unterworfen (Kronenberger 2017, S. 743). Bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich aus traditioneller Sichtweise vor allem um solche mit autistischen und anderen psychotischen Syndromen, mit Persönlichkeitsstörungen auf der Grundlage schwerwiegender Neurosen oder mit Befindlichkeiten nach hirnorganischen Erkrankungen. Mueller berichtet, dass bei 61 % fremduntergebrachter seelisch behinderter jungen junger Menschen Verhaltens- und emotionale Störungen, bei 16 % neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen vorlagen (2000, S. 127). Eine Einrichtung der Heimerziehung, in der seelisch behinderte Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, benötigt die entsprechenden Voraussetzungen und personellen Rahmenbedingungen, damit erzieherische und therapeutische Prozesse erfolgreich verlaufen können und eine Integration als Zielsetzung realistisch bleibt.
„Der psychisch auffällige junge Mensch benötigt demnach Schutz auch innerhalb der Einrichtung vor Übergriffen, unnötiger Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung durch in Betreuungsverantwortung stehende Fachkräfte, Eltern, Schule etc.“ (Mueller 2000, S. 128).
Fegert gibt in einer Abhandlung zum § 35a zu bedenken, dass die Anwendung des Begriffs „Seelische Behinderung“ im Kindes- und Jugendalter sehr problematisch sei, da beim Behinderungsbegriff die Chronizität des Leidens immer eine große Rolle spiele. Er legt daher sein Hauptaugenmerk auf den Bedrohungsgedanken.
„Dies bedeutet, dass eine umfassende Diagnostik, die neben der Feststellung der jeweiligen psychopathologischen Symptomatik auch eine differenzierte Einschätzung des Entwicklungsstandes, des Intelligenzniveaus, körperlicher Begleiterkrankungen oder Grunderkrankungen, und unterschiedlicher psychosozialer Risiken beinhaltet, eine Feststellung zulässt, ob die Kinder bei Unterbleiben geeigneter Hilfs- und Entwicklungsmaßnahmen von einer Entwicklung bedroht sind, die sie in ihren Beziehungen beeinträchtigt, die ihr Leistungsniveau herabsetzen, die ihre spätere Teilnahme am regulären Arbeitsprozess infrage stellt, und die sie subjektiv mehr oder weniger erheblich beeinträchtigt (je nach Krankheitsbild teilweise schweregradunabhängiger, völlig unterschiedlicher Leidensdruck)“ (Fegert 2004, S. 210).
Außerdem weist er darauf hin, dass viele bestehende Behinderungen wie beispielsweise Körperbehinderung, Sprachbehinderung, Lernbehinderung und geistige Behinderung sehr häufig mit sekundären psychischen Beeinträchtigungen einhergehen, auf deren Grundlage sich eine psychische Behinderung entwickeln kann (Fegert 2004, S. 212 f.). Die zuletzt genannten Behinderungsformen werden jedoch vom § 35a nicht erfasst, da dieser Personenkreis der Eingliederungshilfe gemäß dem BSHG unterliegt. Dennoch muss zumindest die Einbeziehung seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher in das Leistungsangebot des KJHG als zu begrüßender Fortschritt gewertet werden, da im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ihnen alle Rechte und Freiheiten vergleichbar zu Kindern ohne Behinderung garantiert werden müssen (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2017a). Eine Einbeziehung aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also die sogenannte „Inklusive Lösung“, ist bisher aber noch nicht umgesetzt worden (Beauftragter der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderungen 2017b), obwohl damit eine Ungleichbehandlung aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten und Hilfesysteme vorliegt.
Das neue Bundesteilhabegesetz macht deutlich, dass Behinderung als Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigung und umwelt- oder einstellungsbedingten Barrieren zu verstehen ist. Hilfen zur Erziehung für alle Kinder und Jugendlichen könnten hier ansetzen, insbesondere um umweltbedingte Barrieren abzubauen. Allerdings müssen dafür die öffentlichen und freien Träger der Erziehungshilfe ihre personellen, räumlichen und fachlichen Standards erweitern und benötigen eine gute Lösung, die allen Schnittstellenproblematiken gerecht wird, um den hohen Verwaltungsaufwand zu rechtfertigen, der mit der Umstellung der Systeme verbunden ist (Finke 2019, S. 14).