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Partizipation von Kindern und Jugendlichen im gesamten Hilfeprozess
ОглавлениеJugendhilfe kann im eigentlichen Sinne nur dann lebenswelt- und ressourcenorientiert sein, wenn die aktive Beteiligung – die Partizipation – der betroffenen jungen Menschen nicht nur gefordert, sondern innerhalb der Praxis systematisch und kontinuierlich realisiert wird.
In den Hilfen zur Erziehung ist die Partizipation von Kindern und Jugendlichen zwar gesetzlich normiert, die praktizierte Wirklichkeit des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zeigt allerdings auf, dass trotz der eindeutigen gesetzlichen Regelungen eine erhebliche Diskrepanz zwischen Forderungen und der Beachtung sowie der Realisierung einer Partizipation besteht. Verschiedene empirische Studien zur Betroffenenbeteiligung im Rahmen der Hilfeplanung belegen jeweils äußerst geringe Quoten der Beteiligung von Kindern oder Jugendlichen am Hilfeplanungsprozess. In einer Befragung von Kindern und Jugendlichen zu ihrer Aufnahme in eine Einrichtung der stationären Erziehungshilfe beschrieben viele Kinder und Jugendliche ein Gefühl der Hilflosigkeit, da sie sich nicht genügend in den Prozess der Entscheidung über die Hilfe einbezogen fühlten. Ihnen fehlten nach ihren Aussagen sogar genügend Informationen zum Hintergrund und Ziel der Unterbringung (Nowacki/Remiorz, 2014, S. 127).
Eine deutliche Erhöhung der Beteiligungsquote wäre alleine nicht ausreichend, wenn die Fachkräfte nicht Haltungen einnehmen und für Rahmenbedingungen sorgen, welche die echte innere Beteiligung eines betroffenen jungen Menschen in vielen Fällen erst ermöglicht. Alles andere wäre nur eine Quasi-Beteiligung oder anders ausgedrückt, eine Alibi-Funktion.
„Für die Kinder- und Jugendhilfe gelten Mitwirkung und Aushandlung als zentrale Maximen. Kinder- und Jugendhilfe hat einen (Einmischungs-)Auftrag, offensiv darauf Einfluss zu nehmen, dass die Beteiligung und die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Bereichen ermöglicht werden“ (Rätz-Heinisch/Schröer/Wolff 2014, S. 275).
Die formal abgesicherten Beteiligungsmöglichkeiten und Beteiligungsrechte von jungen Menschen, die in den Institutionen der stationären Erziehungshilfe leben, sind eher gering. Wo Kinder, Jugendliche und ihre Eltern auf professionelle Fachkräfte treffen, ist eine Beteiligung auf Augenhöhe eher schwierig (Stork 2017, S. 48). Die Gefahr besteht, dass Fachkräfte die Haltung haben, sie wüssten schon, was für die Kinder und Jugendlichen das Beste sei. Beteiligungen der jungen Menschen sind dann zwar auch anzutreffen, aber diese nehmen eher einen gelegentlichen, zufälligen oder auch vom zeitweisen Wohlwollen der Erwachsenen geprägten Charakter ein. Systematisch zugestandene und auch formal abgesicherte Möglichkeiten und Wege der Partizipation sind unter solchen Verhältnissen nicht anzutreffen.
Für die stationäre Erziehungshilfe ist die Partizipation ein wichtiges Element, da es eine zentrale Grundlage demokratischer Strukturen auch in der Sozialen Arbeit darstellt (Stork 2017, S. 46) und damit auch für das Erleben der Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen ein wesentliches Mittel ist.
Im Zuge der Skandalisierung der Heimerziehung und der sich daraus ableitenden ersten Reformen wurden Instanzen der Partizipation in der Heimerziehung durchaus verwirklicht: In verschiedenen Institutionen bildeten sich beispielsweise Heimräte, es wurden Vollversammlungen einberufen und Gruppen- sprecher*innen gewählt. Die nachhaltigen Reformen und Strukturveränderungen der Heime, die Dezentralisation großer Einrichtungen und die allgemeine liberalere Erziehungspraxis haben solche Instrumentarien der Partizipation zumeist überholt und vergessen lassen. Heimräte oder Gruppensprecher*innen verdeutlichen sehr das Negativbild von Institutionen und es ist zu hinterfragen, ob solche oder andere Mitbeteiligungswege in heute durchweg reformierten und vor allem in kleineren Institutionen überhaupt noch notwendig sind. Kommt es nicht mehr und vor allem auf die Haltungen der pädagogischen Mitarbeiter*innen an, welche die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen wie selbstverständlich akzeptieren und fördern müssen? Andererseits gilt zu bedenken, dass demokratische Errungenschaften – gleich in welchem Bereich – keine Selbstläufer sind. Sie wurden immer mühsam erkämpft; es besteht immer die Gefahr, dass sie schnell beseitigt werden. Klar strukturierte und auch schriftliche fixierte Wege der Partizipation können das Selbstverständnis dieser Errungenschaften verfestigen.
„Beteiligung kann darüber hinaus in den Hintergrund geraten, wenn pädagogische Fachkräfte Machtansprüche nicht aufgeben wollen oder können bzw. wenn Konkurrenzen die Zusammenarbeit stören. Aufseiten der betroffenen Kinder, Jugendlichen oder Eltern kann die Mitwirkungsbereitschaft eingeschränkt sein, wenn sie die Abläufe nicht verstehen und einschätzen können bzw. wenn sie verunsichert oder zu wenig informiert sind“ (Rätz-Heinisch/Schröer/Wolff 2009, S. 230).
Die moderne Heimerziehung gibt gegenwärtig vor, lebensweltorientiert zu sein und die Ressourcen der betroffenen jungen Menschen zu nutzen. Dies setzt unter anderem die aktive Beteiligung nicht nur als gelegentliche zugestandene Möglichkeit, sondern als festgelegtes Grundprinzip voraus. Beispiele solcher festgelegten Beteiligungsrechte, die kontinuierlich überprüft und nachgewiesen werden müssen, könnten sein:
•Kinder und Jugendliche haben Mitspracherechte bei den Gruppenregeln, sie können diese hinterfragen und Änderungen verlangen.
•Bei Urlaubsfahrten sind die jungen Menschen die Hauptbetroffenen. Ihre Vorschläge und Wünsche sind richtungsweisend, „altbewährte“ Urlaubsziele der Gruppe können abgelehnt werden.
•Beim Kauf neuer Möbel wird nicht über den Kopf der Kinder und Jugendlichen hinweg entschieden. Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten haben diese immer ein Mitentscheidungsrecht.
•Bei der Einstellung neuer Mitarbeiter*innen ist regelmäßig die Meinung der Kinder und Jugendlichen einzuholen, ihr Votum kann ausschlaggebend sein.
•Über voraussehbare Neuaufnahmen sollten die Kinder und Jugendlichen informiert werden, ihre Meinung ist wichtig bei der Entscheidung, ob ein bestimmtes neues Kind in der gegenwärtigen Situation in die Gruppe passt.
Die Partizipation von jungen Menschen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen wurde auch vom neuen Bundeskinderschutzgesetz berücksichtigt und im Sozialgesetzbuch VIII stärker implementiert. Geregelt wurde beispielsweise das Verfahren der Beteiligung von Minderjährigen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie das Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten (§ 8b SGB VIII). Letzterem kann in der Heimerziehung mit der Implementierung von Ombudsfrauen oder Ombudsmännern Rechnung getragen werden (Meysen/Eschelbach 2012, S. 170). 2012 wurde ebenfalls in § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII aufgenommen, dass für die Erteilung einer Betriebserlaubnis für eine (teil-)stationäre Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden“ müssen. Die gesetzliche Grundlage für Beteiligungsprozesse ist damit klar geschaffen worden. Inhaltlich muss sie aber auch konsequent umgesetzt werden.
„Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe vollzieht sich selten von alleine, sie muss gewollt sein. Die Aufgabe der Wahrnehmung und Erschließung von Teilnahmechancen und Teilgabepotenzialen liegt bei den Fachkräften. Die Erfahrung hat gezeigt, dass beteiligende Beratung erst gelingen kann, wenn die Fachkräfte an der Basis hierfür Rückendeckung von den Führungskräften sozialer Institutionen erhalten“ (Rieger 2013, S. 33).