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Einleitung

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Heimerziehung ist eine sehr kostenintensive Hilfe zur Erziehung. Die Kostenträger – also vor allem die Kommunen und Kreise – haben damit ihre Probleme. Bei vielen Kindern, Jugendlichen und Eltern ist Heimerziehung mit Ängsten besetzt, denn das mit ihr verbundene Image ist eher negativ und sie bedeutet eine zumindest vorübergehende Trennung von der Herkunftsfamilie. Ein Blick in die Geschichte der Heimerziehung zeigt sehr viel Leid. Die öffentliche Aufarbeitung der Heimerziehung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den 1970er-Jahren hat pädagogische Unfähigkeiten, Willkür sowie Missachtung der Menschenwürde offenbart. Dennoch ist die Anzahl der jungen Menschen, die in der stationären Erziehungshilfe leben, relativ gleich geblieben. In den letzten 30 Jahren lag der Anteil der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich jeweils am Jahresende in Heimerziehung befanden, in Bezug zur Bevölkerung im Alter von 0–20 Jahren, bei 0,37 bis 0,40 %. Dies bedeutet: Von 1.000 jungen Menschen sind durchschnittlich vier auf die Erziehungshilfe Heimerziehung angewiesen, was sich 2016 auf 0,6 % erhöht hat (also durchschnittlich sechs von 1.000 jungen Menschen).

Heimerziehung war also kontinuierlich notwendig und wird es voraussichtlich auch zukünftig sein. Daher geht es in diesem Buch vor allem um die Professionalität dieses Teilgebiets der Sozialen Arbeit. Denn der pädagogische und der finanzielle Aufwand sollten sich auch lohnen.

Veränderungs- und zunehmend auch Spezialisierungsprozesse der stationären Erziehungshilfe haben das Praxisfeld seit den 1970er-Jahren geprägt. Heimerziehung muss sich heute vielfältigen Qualitätskriterien stellen. Hierzu gehört auch eine im Nachhinein erfolgende Beurteilung des Aufenthalts in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform durch den Betroffenen. Heimerziehung hat sich sehr stark differenziert, es wurden alternative Möglichkeiten innerhalb der Praxis entwickelt. Insofern ist unter stationärer Erziehungshilfe keinesfalls nur die Erziehung in einem Heim zu verstehen. Diese Differenzierung in ihrer Entwicklung und Praxis aufzuzeigen, ist ein Anliegen dieser Schrift. Dabei ist davon auszugehen, dass die Erziehung in Heimen und in sonstigen betreuten Wohnformen nicht ein notwendiges Übel darstellt, sondern für bestimmte Kinder und Jugendliche, jetzt und in absehbarer Zukunft, eine unabdingbare Lebensform zur Verbesserung sozialer Chancen innerhalb unseres Gesellschaftssystems bedeutet. Hier gibt es in Deutschland mit dem differenzierten Hilfesystem innerhalb des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG auch als Sozialgesetzbuch VIII = SGB VIII bezeichnet) im internationalen Vergleich mehr Möglichkeiten, auf individuelle Bedarfe zu reagieren (Simpson/Nowacki 2018). Die Erziehung in Heimen und in sonstigen betreuten Wohnformen verlangt heute mehr denn je eine hohe Professionalität der Fachkräfte, welche diesem Anspruch innerhalb des sozialpädagogischen Arbeitsfeldes in der Regel auch entsprechen können. Die vielfältigen Veränderungen, Herausforderungen und Perspektiven dieses sozialpädagogischen Arbeitsfeldes, vom Waisenhaus über die Heimerziehung hin zu einer differenzierten stationären Erziehungshilfe unter Berücksichtigung traumatischer Vorerfahrungen und Grundbedürfnissen von Nähe und Unterstützung, sind Inhalt dieser Publikation.

Die nun vorliegende sechste aktualisierte und ergänzte Auflage berücksichtigt neue Daten und Forschungsergebnisse sowie zusätzlich relevante Themen wie den Umgang mit Diversität im Kontext stationärer Erziehungshilfe, die Betreuung von Care Leavern, traumapädagogische Standards und auch internationale Perspektiven. Die Bedeutung der Beziehungsarbeit im Kontext von Fremdunterbringungen wird noch stärker herausgestellt.

Zunächst wird die Heimerziehung in ihrer historischen Dimension und Entwicklung, auch vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung 1991, betrachtet und es wird aufgezeigt, welche strukturellen Veränderungen und inhaltlichen Reformen in den letzten Jahren vollzogen worden sind. Hierbei werden auch Aspekte der Qualitätsdebatte und der Finanzierung berücksichtigt.

Um das Aufgabengebiet der heutigen stationären Erziehungshilfe zu begreifen, müssen wir uns mit den Schwierigkeiten und Problemen von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, die diese als Hilfeform benötigen. Es geht also darum zu klären, welche Indikationen die Maßnahme der stationären Erziehungshilfe legitimieren.

Weiterhin werden methodische Aspekte und Konzepte der Heimerziehung angesprochen, vor allem, wenn es um Orientierungen der pädagogischen und zielgerichteten Vorgehensweise in der konkreten Alltagspraxis oder in speziellen therapeutischen Situationen geht. Methodische Vorstellungen kommen aber auch bei der Zusammenarbeit zwischen Heim und Schule, bei der Elternarbeit, bei der Sexualerziehung in Heimen und in Wohngruppen sowie bei der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung und der geschlossenen Heimerziehung zur Sprache. Außerdem nehmen die Problemlagen der jungen Menschen und die Anforderungen an die pädagogischen Mitarbeiter*innen einen großen Stellenwert ein. Die Fachkräfte der stationären Erziehungshilfe haben häufig eine Ausbildung als Erzieher*in abgeschlossen, aber viele haben auch ein Studium der Sozialen Arbeit absolviert. Insofern wird häufig von den pädagogischen Fachkräften als Betreuer*innen der Kinder und Jugendlichen gesprochen, teilweise werden aber auch die spezifischen Berufsbezeichnungen verwendet, um den Fachhintergrund zu verdeutlichen.

Strukturelle und räumliche Rahmenbedingungen der Heimerziehung werden nicht nur exemplarisch behandelt; die architektonischen Bedingungen und Ausgestaltungsmerkmale von Heimen und Wohngruppen stellen wesentliche Faktoren des pädagogischen Alltags dar. Struktur, Gestaltung und Pädagogik beeinflussen sich ständig wechselseitig. Relativ breiten Raum nimmt auch das Kapitel „Sexualität in Heimen und Wohngruppen“ ein. An diesem so ungemein wichtigen Erziehungs-, Sozialisations- und Lebensbereich kann exemplarisch aufgezeigt werden, ob die institutionalisierte Erziehung elementare Sozialisationsprozesse eher behindert oder fördert. Da außerdem in Heimen und Wohngruppen häufig Kinder und Jugendliche leben, die in ihren Herkunftsfamilien sexuelle Gewalterfahrungen erleiden mussten, war der sich hieraus ableitende Aufgabenbereich für die Heimerziehung ausführlich zu behandeln. Hier werden auch Perspektiven von sexueller Orientierung und Identität in ihrer ganzen Breite berücksichtigt.

Das Buch will zu wesentlichen Entwicklungen, Aspekten und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe Stellung nehmen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten, dass diese Schrift vor allem im Bereich der Ausbildung und des Studiums sehr gut angenommen wurde. Sie wendet sich darüber hinaus sowohl an die Praktiker*innen, die in diesem Arbeitsfeld tätig sind oder sich darüber informieren wollen, als auch an Leser*innen, die mehr ein wissenschaftliches Interesse an der Methodik und Struktur eines sozialpädagogischen Handlungsfeldes zum Lesen motiviert.

Praxis und Methoden der Heimerziehung

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