Читать книгу Allein zu zweit - Katrin Bentley - Страница 10

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Um Mitternacht an Silvester 2003 saß ich mutterseelenallein im Garten. Der Abend hatte schön begonnen. Erst gingen wir alle zusammen essen, dann schauten wir uns zu Hause einen Film an. Mittendrin bat ich Gavin, kurz die DVD anzuhalten; als ich nach wenigen Minuten zurückkam, waren alle im Bett. Verblüfft ging ich ins Schlafzimmer, aber Gavin hatte bereits das Licht ausgeknipst. »Was ist denn passiert?«, fragte ich enttäuscht, ich wusste doch, wie sehr sich Marc und Nadia immer auf das gemeinsame Anstoßen freuten. »Die Kinder haben herumgealbert. Als ich sie bat, still zu sein, und sie nicht aufhörten, habe ich sie ins Bett geschickt«, erklärte Gavin und drehte sich weg. Auf meine Frage, ob er denn nicht wenigstens mit mir anstoßen wolle, reagierte er nicht.

Traurig setzte ich mich draußen auf einen Liegestuhl und hatte wieder einmal niemanden, dem ich ein gutes neues Jahr wünschen konnte. Ich hörte das Gelächter der Nachbarn und dachte sehnsüchtig an all die lustigen Silvesternächte in der Schweiz, die ich einst im Kreis meiner Freunde verbracht hatte. Als nebenan die Sektkorken knallten, stieß ich selbst mit mir an und fragte mich, was das neue Jahr wohl bringen würde.

Gavin kam mir vor wie eine komplizierte Rechnung, egal wie ich sie anpackte, sie ging einfach nicht auf. Ich wusste einzig und allein, dass er nicht so funktionierte wie andere Menschen. Da ich niemanden zum Reden hatte, griff ich zum Tagebuch und schrieb:

»Das letzte Jahr war schöner als das davor. Marc geht es wieder besser, und den Autounfall haben wir mit großem Glück mehr oder weniger heil überstanden. Sonst ist aber alles beim Alten, unsere Ehe ist nach wie vor anstrengend, und Gavin macht mir immer mehr Sorgen. Seine Laune wechselt in Sekundenschnelle, während sein Gesichtsausdruck immer gleich bleibt. Er scheint verschiedene Persönlichkeiten zu besitzen. Mal redet er ununterbrochen, dann zieht er sich tagelang zurück. Gesprächen über Gefühle weicht er aus. Manchmal stellt er Fragen wie ›Was ist Glück?‹ oder ›Wie weiß man, dass man jemanden liebt?‹. Er scheint keine Ahnung zu haben, was in ihm vorgeht.

Wenn er ein Projekt anpackt, erledigt er das mit unglaublicher Exaktheit, was er von mir natürlich auch erwartet, aber mir fehlt leider die Fähigkeit zu einer solchen Präzision. Sein ausgeprägter Perfektionismus benötigt viel Zeit und führt dazu, dass er lieber gar nichts macht als etwas, das seinen Ansprüchen nicht genügt. Größere Projekte stressen ihn enorm, da er oft den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.

Abends im Schwimmklub trägt er eine Sonnenbrille, weil ihn das starke Neonlicht stört. Sonnencreme auf der Haut findet er schrecklich, und auch bestimmte Leintücher verträgt Gavin nicht. Kälte macht ihm dagegen nichts aus, er kann selbst bei Eis und Schnee in Shorts herumlaufen. Er weigert sich, mich moralisch zu unterstützen, und zeigt kaum Mitgefühl. Bin ich mal traurig, scheint er verärgert und geht mir aus dem Weg. Der Ausdruck ›Es tut mir leid‹ ist ihm fremd. In all den Jahren hat er sich nie für etwas entschuldigt, der Fehler liegt immer bei andern. Für ihn gibt es nur einen Weg, nämlich seinen. Er allein hat recht, andere Ansichten akzeptiert er nicht.

In seinem Kopf scheint es genaue Verhaltensregeln zu geben, die er strikt befolgt und deren Einhaltung er auch von uns verlangt. Jede unerwartete Veränderung, jede Abweichung vom Gewohnten stresst ihn. Wollen wir etwas unternehmen, fällt ihm sofort ein, was schieflaufen könnte, deshalb bleiben wir meist zu Hause. Er motiviert oder lobt nie und teilt anderen seine Meinung unverblümt mit.

Immer wieder bin ich überrascht von seinem erstaunlichen Gedächtnis für Fakten und Zahlen. Noch Jahre später kann er sich genauestens an Preise, Telefon- oder Kontonummern erinnern. Vor kurzem sagte er: ›Ich wünschte, alle Menschen hätten statt Namen Nummern, dann würde ich sie nie vergessen.‹ Beim Tennisspiel behält er jeden Ballwechsel, jeden Aufschlag, jeden Fehler, alle Zwischenstände und Resultate im Kopf. Es ist, als ob er ein Videogerät im Gehirn hätte, das alles aufnimmt und für den späteren Gebrauch speichert. Er kann auch Filme jederzeit wieder im Kopf abspielen und übernimmt gern Rollen aus diesen, wenn wir miteinander reden – ich habe dann eher das Gefühl, mich mit Jack Nicholson zu unterhalten als mit Gavin.

Aus irgendeinem Grund scheint er dauernd unter Strom zu stehen, sogar beim Fernsehen. Ganz besonders zeigt sich das, wenn er ein Spiel seines Lieblingsfootballteams anschaut. Er folgt dem Geschehen mit einer solchen Intensität, dass jeder Muskel angespannt ist. Manchmal habe ich Angst, dass er dabei einen Herzinfarkt erleidet, vor allem, wenn dem Gegner ein Goal gelingt. Über Kleinigkeiten kann er sich extrem aufregen und wird dann sehr verletzend. Kurze Zeit später aber hat er den Vorfall bereits wieder vergessen.

Gavin ist wie ein Kristall, der je nach Lichteinfall in den verschiedensten Farben funkelt. Oder wie eine Wundertüte, bei der man nie weiß, ob darin eine Süßigkeit liegt oder einem ein Frosch an die Nase springt. Ich spüre, dass er ein guter Mensch ist und dass vor allem Stress sein Verhalten bestimmt. Woher dieser kommt, weiß ich leider nicht.«

Am nächsten Morgen sagte Gavin aus heiterem Himmel: »Vielleicht bin ich Autist.« Lachend winkte ich ab und erklärte, dazu rede er zu viel. Ich war mir sicher, dass er keine autistischen Züge trug, trotzdem wollte ich in den nächsten Tagen die Symptome dieser Entwicklungsstörung unter die Lupe nehmen. Will man ein Rätsel lösen, muss man schließlich jeder Spur folgen, egal, wie schwach sie ist. Was immer es sein mochte, ich konnte nicht mehr lange so weiterleben. Meine Unruhe wurde täglich größer. Ich musste unbedingt herausfinden, was mit Gavin los war, bevor ich meine Lebensfreude völlig verlor.

Doch beginnen wir von vorn. Als junges Mädchen hatte ich davon geträumt, einen Mann zu heiraten, der mein Romeo, mein Beschützer und mein bester Freund ist. Meine Eltern hatten mir vorgelebt, dass eine Ehe beglückend ist und man heiratet, um das Leben gemeinsam zu meistern und zu genießen. Doch als ich meinem Traummann nach Australien folgte, musste ich lernen, dass das nicht selbstverständlich ist.

Allein zu zweit

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