Читать книгу Allein zu zweit - Katrin Bentley - Страница 11
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ОглавлениеIch wurde am 11. Mai 1960 im Spital Thun geboren. Meine Eltern hatten zu der Zeit bereits einen dreijährigen Sohn und freuten sich, nun auch ein Töchterchen zu haben. Wir wohnten im Schönau-Quartier in einer kleinen Wohnung im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses, und mein Vater war Lehrer an der Mädchensekundarschule Thun, wo er so beliebt war, dass einige Schülerinnen angeblich weinten, als er eines Tages einen Verlobungsring trug. Meine Mutter arbeitete bis zu ihrer Hochzeit als Chefsekretärin, dann wurde sie Hausfrau und schaute zu uns Kindern.
Wir waren nicht reich, aber ich hatte immer alles, was ich mir wünschte. Meine Großmutter, die auf einem Bauernhof aufgewachsen war, nähte mir wunderschöne Kleider, in denen ich mir wie eine Prinzessin vorkam. Leider durfte ich sie nur an besonderen Tagen tragen, weil bei meinen Eskapaden immer wieder Löcher in den Strümpfen entstanden. Ich war ein abenteuerlustiges Kind, und da wir in einem Block wohnten, hatte ich immer viele Spielgefährten. Im Sommer bauten wir im Sandkasten Burgen, verkleideten uns als Indianer, spielten Sitzball und Badminton oder fuhren Trottinett.
Manchmal flog ich auf einer der Schaukeln, die es zwischen den Wohnblöcken gab, so hoch ich konnte. Dabei wünschte ich mir, dass es mir eines Tages gelingen würde, über die Berge hinweg nach Italien zu springen. Mir gefiel dieses Land mit den feinen Gelati, den tollen Lasagnen und dem riesigen Meer. Unsere jährlichen Familienferien dorthin waren für mich immer ein Höhepunkt des Sommers.
Aber auch in Thun war es zu dieser Jahreszeit schön. Sobald es warm wurde, durfte ich mit meiner Familie ins nahe gelegene Strandbad, das mit seinen vielen Becken, dem Sprungturm und dem schönen See Besucher aus der ganzen Welt anlockte. Meist nahmen wir ein Picknick mit, aber an besonderen Tagen aßen wir im Restaurant Wienerli und Kartoffelsalat.
Selbst im Winter langweilte ich mich nie. Mein Kinderzimmer mit Sicht auf die Alpen war ein Paradies, in dem ich stundenlang spielte. Egal, ob ich meine Puppen verarztete, im Krämerladen imaginären Kunden Waren verkaufte, zeichnete, malte, Puzzles legte, mich verkleidete, als Postbeamtin Einzahlungsscheine ausfüllte oder ganz einfach Büchlein anschaute, glücklich war ich immer. Brauchte mein Bruder eine Spielgefährtin, war ich gern bereit, auch mit Autos zu spielen oder seine Indianer mit Cowboys anzugreifen. Kamen Freunde zu Besuch, passte ich mich ihren Wünschen an, und wenn ich genug vom Spielen hatte, ging ich ins Wohnzimmer und tanzte zu meinen Lieblingsplatten. »Schön ist es, auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein«, sang ich inbrünstig, bis meine Mutter hereinkam und die Lautstärke zurückdrehte – worauf ich mich verlegen nach einer neuen Beschäftigung umsah.
Sobald genug Schnee lag, packte ich meinen Schlitten, wanderte auf den kleinen Hügel hinter unserem Block und sauste übermütig mit den Nachbarskindern hinunter. Hatten wir genug vom Schlitteln, bauten wir Schneemänner oder hohe Burgen. In einem besonders kalten Winter gelang es uns sogar, eine Schlittschuhbahn anzulegen, auf der wir Pirouetten drehten. Ich wirkte dabei vermutlich nicht sonderlich elegant, aber das war mir egal. Hauptsache, wir hatten es lustig.
Kurz vor Weihnachten war es bei uns besonders gemütlich, da ich mit meiner Mutter Geschenke für die Verwandten basteln durfte. Ich war zwar kein Basteltalent, leimte, malte und klebte aber voller Freude, bis der Küchentisch farbig war und die Teller trotz heftigem Schrubben beim Abendbrot fast kleben blieben. In der Sonntagsschule führten wir jedes Jahr ein Krippenspiel auf, bei dem ich einmal sogar die Maria spielen durfte. Stolz spazierte ich an Josefs Arm durch die Kirche und genoss es, meine langen Haare einmal offen tragen zu dürfen. Im Alltag hatte ich Zöpfe, weil ich sonst immer zerzaust gewesen wäre. Am Heiligabend sangen und musizierten wir, dann las uns mein Vater die Weihnachtsgeschichte vor. Begeistert bewunderte ich dabei die schöne Dekoration und atmete den Duft von Kerzenwachs ein. Die folgende Bescherung erfüllte immer alle meine Wünsche, und oft konnte ich danach vor lauter Freude kein Auge zutun.
Meine Kindheit empfinde ich als ein Bilderbuch voll schöner Erinnerungen, bis ich mit sechs Jahren in den Kindergarten musste. Aus unerfindlichen Gründen konnte mich die Kindergärtnerin nicht ausstehen. Immer wieder zerriss sie vor den Augen der anderen Kinder meine Zeichnungen und sagte: »Du kannst nicht zeichnen.« Das stimmte aber nicht, im Gegenteil! In meinem Zimmer, vor dessen Fenster ein wunderschöner Kirschbaum stand, hatte ich bisher immer freudig mit Ölkreiden, Buntstiften und Wasserfarben gemalt. Meine Figuren waren groß, dick und sehr farbig, und auf jeder Zeichnung lachte eine strahlende Sonne.
Obwohl ich sichtlich darunter litt, hörte die Kindergärtnerin nicht auf, mich täglich vor allen herunterzumachen, doch ich war noch zu klein, um meinen Eltern von ihren verletzenden Worten zu erzählen. Ich sagte ihnen bloß, dass ich nicht mehr in den Kindergarten gehen wolle. Sie dachten wohl, ich hätte einfach keine Lust, etwas zu lernen, und da mich der Kindergarten ja auf die Schule vorbereiten sollte, schickten sie mich trotzdem hin. Ängstlich würgte ich morgens mein Frühstück hinunter, hatte große Mühe, abends einzuschlafen, und verlor bald einmal jegliche Freude, auch am Zeichnen.
Meine Mutter ging meist früh zu Bett. Konnte ich nicht einschlafen, schlich ich mich manchmal vor ihre Schlafzimmertür und klopfte schüchtern an, bekam jedoch keine Antwort. Traurig ging ich dann zurück in mein Zimmer und fühlte mich zum ersten Mal im Leben so richtig verlassen. Meine Eltern waren sich dessen nicht bewusst; ich hätte wohl nur lauter klopfen müssen, wollte sie aber nicht wecken. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich immer noch wach lag, obwohl so kleine Mädchen doch längst hätten schlafen müssen. Aber die Angst vor der Kindergärtnerin saß mir tief in den Knochen, und oft hörte ich die Kirchturmuhr drei schlagen, bis mich der Schlaf endlich erlöste. Das war mit ein Grund, dass ich später Lehrerin wurde. Ich schwor mir, dass meine Schüler sich nie vor mir fürchten müssten.
Zum Glück durfte ich oft zu meiner Großmutter. In ihrem gemütlichen Haus war die Welt immer in Ordnung. Von ihr erfuhr ich Liebe und Geborgenheit, wie ich sie später nie mehr fand. Ich ging sie häufig besuchen und durfte mindestens zweimal im Jahr zu ihr in die Ferien. Sie spielte mit mir, kochte mein Lieblingsessen, erzählte mir Geschichten, half mir, Drachen zu basteln, und sammelte Kastanien mit mir, aus denen wir kleine Männchen und Tiere machten. Da sie wie ich gern draußen war, gingen wir oft picknicken oder spielten stundenlang im Freien, wobei ich die Prinzessin war und sie meine Dienerin. Ich hatte dann immer das Gefühl, wunderschön zu sein, obwohl ich ein wenig pummelig war.
Blieben wir zu Hause, durfte ich ihr im Garten helfen und mit meiner kleinen Gießkanne die Blumen wässern. Oder ich sammelte Schnecken und bespritzte sie mit Wasser, um zu sehen, welche am schnellsten vorwärtskroch. Bei meiner Großmutter durfte ich mich herrlich schmutzig machen, abends wusch sie mich dann liebevoll und sang dazu lustige Lieder. Bei schönem Wetter wusch ich Puppenkleider und hängte sie an einer kleinen Wäscheleine im Garten auf, dann kochte ich meinen Puppen einen Brei aus Wasser und Sand, den ich mit Rosenblättern dekorierte. Waren sie satt, setzte ich mich unter den Zwetschgenbaum und malte Bilder, die meine Großmutter freudig an die Wand hängte. Abends erzählte sie mir Geschichten, und wenn ich trotzdem nicht einschlafen konnte, durfte ich es ihr sagen.
Die Fürsorge meiner Großmutter half mir, die schwierige Zeit im Kindergarten besser zu ertragen. Als ich im Frühjahr in die Schule kam, gefiel es mir dort sofort ausgezeichnet. Die Lehrer waren nett, und ich hatte viele Freunde, mit denen ich mich auch heute noch bestens verstehe. Eines Tages rief mir ein Junge »Hüpfi« zu. Als ich ihn verblüfft fragte, was er damit meine, grinste er und sagte: »Der Name passt zu dir, weil du jeden Tag in die Schule hüpfst.« Vergnügt warf ich meine Zöpfe über die Schultern und sagte: »Ich gehe eben unheimlich gern dorthin.« Vier Jahre später kam ich prüfungsfrei in die Sekundarschule, an der mein Vater als Lehrer tätig war.
Auch diese Zeit habe ich in bester Erinnerung. Ich weiß noch, dass sich meine Lebensfreude immer wieder in Lachanfällen zeigte, die ich nur schwer unterdrücken konnte. Verzweifelt kniff ich dann den Mund zusammen, um nicht herauszuplatzen, musste aber trotzdem lachen, bis mir die Tränen kamen. Mein fröhliches Lachen schallte durch die Gänge der Sekundarschule, später durch die des Lehrerinnenseminars. Eine Kollegin sagte mir vor kurzem, dass mein Lachen ihr geholfen habe, diese für sie anstrengende Zeit zu überstehen. Trotz meiner Fröhlichkeit und Lebenslust konnte ich die Worte der Kindergärtnerin nie ganz vergessen. Sie hatten mein Selbstwertgefühl tief erschüttert, und wenn ich etwas Neues anfing, war mein erster Gedanke immer: »Das kann ich nicht.«
Ansonsten war meine Kindheit sehr schön. Ich hatte liebevolle Eltern, die sich um mich kümmerten und mir alles gaben, was ich brauchte. Beide waren seit der Schulzeit ineinander verliebt, und ihre Liebe war unglaublich tief. Mein lebhafter Vater konnte sich in Gegenwart meiner eher stillen Mutter herrlich erholen, und es gab kaum Momente, in denen sie nicht ein Herz und eine Seele waren.
Da mein Vater neben Sprachen und Geschichte auch Sport unterrichtete, war unsere Familie immer aktiv. Ich selber war zwar nicht sehr sportlich, genoss es aber, draußen zu sein. Ich lernte früh schwimmen und war kaum aus dem Wasser zu bringen; im Turnen hing ich jedoch wie ein Kartoffelsack am Reck. Mein Vater, der mehrere Jahre bernischer Rekordhalter im 3000-Meter-Lauf war und auch in anderen Disziplinen brillierte, gab mir aber nie das Gefühl, unsportlich zu sein. Stattdessen spornte er mich immer wieder an und lehrte mich schon mit sechs Jahren, Ski zu fahren. Wie ungeschickt ich mich auch anstellte, er blieb immer fröhlich und half mir geduldig, meine Ängste zu überwinden. Bald einmal stand ich sicherer auf den Brettern und fahre auch heute noch begeistert die Pisten hinunter.
Als ich zwölf Jahre alt war, zog unsere Familie in eine neue Wohnung mit einer riesigen Dachterrasse, von der aus man eine tolle Aussicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau, den Niesen, das Stockhorn und die Blüemlisalp hatte, deren Schönheit und Ruhe wie Kraftquellen auf mich wirkten.
Etwa zur gleichen Zeit trat unsere Familie in den Tennisclub Thun ein, der mehr oder weniger direkt am See lag. Die Jahre dort habe ich noch heute in bester Erinnerung. Mein Vater wurde bald einmal Präsident der Anlage, und ich gewann dort Freunde fürs Leben. Wir spielten Tennis, erzählten uns Witze, schleckten Eis und erfrischten uns anschließend im kühlen See. Obwohl ich nicht sehr erfolgshungrig war, spielte ich immer besser Tennis und wurde mit sechzehn Jahren in meiner Kategorie drittbeste Juniorin des Berner Oberlands, worauf ich unheimlich stolz war. Auch später gewann ich T-Shirts, eine Tennistasche und einen großen Pokal, doch das Resultat eines Spiels blieb für mich immer zweitrangig: Im Vordergrund standen die Freude über gelungene Ballwechsel und die Kameradschaft mit meinen Klubgefährten. Das ist mir noch heute wichtiger als Erfolg!
Ich genoss meine Jugend in Thun. Auch Jahre später gab es nichts Schöneres für mich, als in dem klaren Wasser des Sees zu schwimmen und die wunderschönen Berge zu betrachten. In solchen Momenten spürte ich ganz deutlich, dass ich hierhergehörte. In Sommernächten radelte ich mit meinen Freunden am See entlang nach Oberhofen in unsere Lieblingsdisco. Hatten wir keine Lust zum Tanzen, segelten wir auf eine der kleinen Inseln, machten ein Lagerfeuer und grillten unter den Sternen. Im Herbst wanderten wir durch die bunt gefärbten Wälder. Zog Nebel auf, machte ich es mir zu Hause gemütlich und las oder fuhr auf einen der Berge, um das unter mir liegende Nebelmeer zu bewundern. Ich werde diese Zeiten nie vergessen, waren wir doch alle so sorglos und voller Hoffnung auf die Zukunft.