Читать книгу Allein zu zweit - Katrin Bentley - Страница 16
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ОглавлениеGavin und ich hatten beschlossen, Ende Dezember nach Australien zu fliegen. In den verbleibenden fünf Wochen gab es noch unheimlich viel zu tun. Ich war damit beschäftigt, den Lehrstoff für das Quartal abzuschließen und die Schüler auf eine neue Lehrkraft vorzubereiten. Gleichzeitig musste ich meine Wohnung ausräumen und nach guter Schweizerart blitzblank putzen. Weil wir abends oft eingeladen waren, hatte ich kaum Zeit zum Packen. Gavin arbeitete ab Anfang Dezember nicht mehr im Restaurant und hätte problemlos mit den Vorbereitungen beginnen können. Zu meiner Überraschung schien er jedoch nicht im Traum daran zu denken und ließ einfach alles liegen, wie es war. »Meine Güte«, sagte ich eines Tages, »wir fliegen in drei Wochen nach Australien und haben noch gar nichts gepackt!« Gavin gab keine Antwort, sondern las interessiert das Cover einer CD. Über die näher rückende Abreise schien er sich überhaupt keine Sorgen zu machen, im Gegenteil, er benahm sich wie immer, hörte Musik und ruhte sich aus.
Ich wollte ihn nicht drängen und hoffte insgeheim, dass er von sich aus bei den Reisevorbereitungen helfen würde. Schließlich musste er doch sehen, wie müde ich war. Er schien jedoch keine Ahnung zu haben, was in mir vorging, und lag weiterhin tagelang auf dem Balkon, um an seiner Bräune zu arbeiten. Langsam begann ich mich über seine mangelnde Hilfsbereitschaft aufzuregen. Eines Abends, als wir spät von einem Abschiedsessen heimkamen und ich vor lauter Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten konnte, sagte ich frustriert: »Es ist höchste Zeit, dass wir mit dem Packen anfangen! Kannst du morgen ein paar Kisten füllen? Wir haben ja bereits besprochen, was wir mitnehmen wollen. Ich helfe dir, wenn ich von der Schule komme.« Gavin nickte gedankenversunken, putzte die Zähne und schlüpfte ins Bett. Ich folgte ihm und drückte mich fest an ihn, um seine Nähe zu spüren. Mehr und mehr wurde mir bewusst, dass ich bald meine Heimat verlassen würde. In seinen Armen fühlte ich mich jedoch geborgen und schlief wenig später glücklich ein.
Als ich am nächsten Tag von der Schule zurückkam, sah ich zu meinem Entsetzen, dass Gavin wieder auf dem Sofa saß und Musik hörte. Die Kisten standen immer noch leer im Wohnzimmer herum, und nichts, aber auch wirklich gar nichts, war gemacht. Ohne etwas zu sagen, ging ich in die Küche und fing an, das Abendbrot zuzubereiten. Wenig später erschien Gavin im Türrahmen und schaute mir unbekümmert beim Kochen zu. Ich hatte keine Lust zum Plaudern, war zutiefst enttäuscht, dass er unsere Vereinbarung nicht eingehalten hatte. Meine düstere Laune schien ihm aber keineswegs aufzufallen, im Gegenteil, er war wie immer und füllte mir den Kopf mit Zeitungsnachrichten. Den ganzen Tag hatte er keine Gelegenheit zum Reden gehabt und sehnte sich nun danach, die neu erworbenen Informationen mit mir zu teilen. Mir war es aber absolut nicht darum, ihm zuzuhören. Irritiert von seinen umfassenden, unglaublich detaillierten Erläuterungen über das aktuelle Weltgeschehen, wandte ich mich ab und wusch den Salat. Er ließ sich von meiner ablehnenden Körpersprache jedoch nicht beirren und fuhr unbefangen fort mit seinem Vortrag.
Als wir endlich zusammen am Esstisch saßen und er noch immer keine Anstalten machte, mir zu erklären, warum er wieder den ganzen Tag nichts gemacht hatte, schnitt ich das Thema selber an. »Gavin«, sagte ich gereizt, »du hast deine Stelle als Kellner aufgegeben, um mir beim Packen zu helfen. Aber jeden Tag, wenn ich heimkomme, sitzt du nur herum und hörst Musik. Gestern hast du mir versprochen, ein paar Kisten zu füllen, aber alles ist beim Alten. Ich verstehe das einfach nicht. Kannst du nicht sehen, wie müde ich bin und wie sehr ich deine Hilfe brauche?« Gavin sah mich erstaunt an, dann lachte er arrogant und sagte mit herausforderndem Unterton: »An deiner Müdigkeit bist du selber schuld, es verlangt ja niemand, dass du so viel für die Schule machst. Offensichtlich hast du Probleme, dich richtig zu organisieren. Das ist mir schon früher aufgefallen.«
Ich war sprachlos. Wie konnte er bloß so reden, saß er doch selber einfach nur tagelang herum. »Ich mag dir nicht helfen«, fuhr er fort, »sehe nicht ein, warum du das von mir verlangst; schließlich sind es deine Sachen, die gepackt werden müssen. Mein Koffer steht bereit.« Das traf zwar zu, war aber nicht schwierig, da er nur sechs Paar Unterhosen, ein paar T-Shirts, Shorts und Socken sowie einen Anzug mitgebracht hatte. Ich wollte nicht, dass er mir beim Einpacken meiner Kleider half, aber da er keine Küchenutensilien besaß, hatten wir beschlossen, einen Teil meines Inventars mit dem Schiff nach Australien zu senden. Das Verpacken von Gläsern, Kuchenplatten, Dessertschalen, Tassen und Tellern brauchte jedoch viel Zeit und Geduld.
»Ich meinte nicht meine Kleider, sondern das Geschirr für unsere Wohnung in Australien«, versuchte ich es in einem freundlicheren Ton. Aber es war offensichtlich zu spät. Gavin fühlte sich angegriffen und musste sich nun mit allen Mitteln verteidigen. »Das sind deine Sachen, und die Packerei hat mit mir nichts zu tun. Es ist nicht mein Problem, dass du deine Arbeit und deine Auswanderungsvorbereitungen nicht unter einen Hut bringen kannst. Ich habe immer gedacht, du seist intelligent, aber offensichtlich ist das nicht der Fall.« Mit diesen Worten stand er auf, verließ die Küche und knallte die Tür hinter sich zu. Ich blieb ein paar Minuten verletzt am Tisch sitzen und versuchte, seine Bemerkungen zu verdauen. Sicher hätte ich mich diplomatischer ausdrücken können, trotzdem, eine solch heftige Reaktion hätte ich nicht von ihm erwartet.
Um unseren Streit zu schlichten und die Situation zu klären, folgte ich ihm ins Schlafzimmer, wo er gerade die Fensterläden schloss. »Es tut mir leid, dass ich meine Frustration an dir ausgelassen habe«, sagte ich versöhnlich, »ich bin einfach völlig erschöpft von all den Abschlussarbeiten in der Schule und wäre dankbar, wenn du mir ein wenig helfen könntest. Bitte, Gavin, ich brauche jetzt deine Unterstützung.« »Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du den Abend mit deinen Sticheleien verdorben hast«, sagte er nur, »jetzt kannst du meine Hilfe vergessen und deinen Kram allein machen.« Seine Worte trieben mir Tränen in die Augen. Als Gavin das sah, wandte er sich verärgert ab, schlüpfte ins Bett und zog sich die Decke über die Ohren. Er kam mir in diesem Moment vor wie eine Burg. Ich hatte ihn angegriffen, und nun zog er die Zugbrücke ein. Ich spürte deutlich, dass nichts, aber auch gar nichts, seine Haltung mir gegenüber ändern würde.
Bestürzt von seinem heftigen Stimmungswechsel, gab ich auf, mich mit ihm zu versöhnen, und ging ins Wohnzimmer, wo all die leeren Kisten standen. Auszuwandern und meine Familie, meine Freunde und meine Heimat zu verlassen, fiel mir schwerer, als ich angenommen hatte. Ich brauchte jetzt Gavins Unterstützung, aber stattdessen machte er mir klar, dass er keine Absicht hatte, mir in schwierigen Zeiten beizustehen. In seinen Augen gab es eine Katrin und einen Gavin, aber kein uns. Er übernahm seine Probleme, ich war zuständig für meine.
An jenem Winterabend übermannte mich zum ersten Mal ein Gefühl der totalen Einsamkeit. Hätte Gavin mich doch nur in die Arme genommen, ein paar aufmunternde Worte geflüstert, mich getröstet und mir beim Packen geholfen, dann hätte ich gespürt, dass wir ein Paar sind, in guten wie auch in schwierigen Zeiten. Plötzlich wünschte ich mir sehnlichst, in der Schweiz bleiben zu können, wusste aber, dass es zu spät war, meinen Entschluss zu ändern. Ich hatte meinen Job und meine Wohnung gekündigt und einen Mann geheiratet, der auf der anderen Seite der Welt lebte. Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte ich und fing traurig an, die ersten Kisten zu packen.
Nach einigen Anlaufschwierigkeiten ging mir die Arbeit plötzlich leicht von der Hand, und als ich nach Mitternacht ins Bett schlüpfte, war ich selber überrascht, wie viel ich erledigt hatte. In der Dunkelheit neben Gavin überfiel mich aber plötzlich dieselbe Einsamkeit wie zuvor. Ich hatte keine Ahnung, dass das Gefühl, zusammen und doch allein zu sein, bald einmal zum Thema unserer Ehe werden würde.
Am nächsten Morgen beim Frühstück verhielt sich Gavin, als ob nichts passiert wäre. Es wunderte mich, wie er so fröhlich sein Brot buttern konnte, ohne den gestrigen Abend auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Da ich den Wecker überhört hatte, war ich in großer Eile und hatte keine Zeit, lange über sein seltsames Verhalten nachzudenken; stattdessen rannte ich den Hügel hinunter und trat Sekunden vor dem Läuten ins Schulzimmer. Wie immer im Dezember war es um diese Zeit noch stockdunkel. Ich zündete ein paar Kerzen an und begann mit einer Weihnachtsgeschichte aus der Dritten Welt. Die Kinder hörten mir gespannt zu, und es herrschte eine gemütliche Atmosphäre. An diesem Samstagmorgen wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, wie sehr ich meine kleinen Zweitklässler vermissen würde.
Als ich mich an jenem Tag um elf Uhr auf den Heimweg machte, nahm ich mir vor, das Wochenende mit den Vorbereitungen für meinen Umzug zu verbringen. Da wir ausnahmsweise keine Verabredung hatten, war das die Gelegenheit, mich an die Arbeit zu machen. Als ich heimkam, fand ich Gavin zu meiner Überraschung beim Abwiegen der Küchenutensilien. Offenbar hatte er gemerkt, dass ich seine Hilfe benötigte, und wollte mir das auch zeigen. Damals wusste ich noch nicht, dass er sich lieber mit Taten als mit Worten entschuldigt. Es war gut, dass ich unseren Streit nicht mehr erwähnte; eine neue Kampfsituation hätte nur dazu geführt, dass ich einmal mehr alles selbst hätte erledigen müssen.
Den ganzen Nachmittag wogen und verpackten wir gemeinsam, was uns wichtig war, und als es dunkel wurde, kochte ich uns ein feines Abendessen. Stolz betrachteten wir das Resultat unserer Arbeit, waren uns jedoch nicht bewusst, dass wir zum ersten Mal von unseren unterschiedlichen Fähigkeiten profitiert hatten. Gavin machte alles sehr exakt und erreichte so, dass wir ein Maximum an Gegenständen mitnehmen konnten, ohne dabei die Gewichtsgrenze zu überschreiten. Ich dagegen arbeitete speditiv, entschied in Kürze, was mitmusste, und passte auf, dass wir uns nicht in unwichtigen Details verloren, sondern den Überblick behielten. Wir waren an diesem Nachmittag ein richtig gutes Team! Wir lachten auch wieder zusammen, und unser Streit trat mehr und mehr in den Hintergrund.
Am Sonntagabend waren die Kisten schiffsbereit, und wir beschlossen, den Rest meiner Habseligkeiten zu verschenken oder auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Die Zeit verflog nun ziemlich schnell, und plötzlich stand ich zum letzten Mal vor meiner Klasse. Obwohl wir alle versuchten, fröhlich zu bleiben, flossen etliche Tränen. Noch einmal schüttelte ich die kleinen Hände meiner Zweitklässler, dann musste ich ins Lehrerzimmer, wo es mit Umarmungen und guten Wünschen weiterging. Schweren Herzens machte ich mich danach auf den Heimweg.
Abschiede sind mir nie leichtgefallen, als Kind waren mir aus diesem Grund Skilager, lange Schulreisen und Ferien bei Verwandten immer zuwider. Während andere unbeschwert mehrmals ihren Wohnort wechseln können, ist ein solcher Schritt für mich nicht einfach. Erst jetzt spürte ich, wie schwer es mir fiel, mein bisheriges Leben hinter mir zu lassen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich mich mit Gavin in Australien sicher bald zu Hause fühlen würde.
Unsere letzte Woche in der Schweiz verbrachten wir in Thun, bei meiner Familie. Ich nutzte die verbleibende Zeit, um mich in Ruhe von meinen Freunden zu verabschieden. Wenn ich dann mit Tränen in den Augen zurückkam, brachte Gavin mich mit seinem Humor bald wieder zum Lachen. Am Abend vor unserem Abflug kochte meine Tante ein wunderbares Essen, an dem auch meine Großmutter, meine Mutter, mein Bruder und seine Frau teilnahmen. Noch einmal hatten wir es so richtig gemütlich und lachten über unsere Kindheitserlebnisse.
Später saß ich noch lange mit meiner Großmutter im Wohnzimmer. Der Abschied von ihr fiel mir besonders schwer. Obwohl sie eine einfache Bauerntochter war, wusste sie mehr übers Leben als alle Philosophen der Welt. Als wir an diesem Abend zusammen auf dem Sofa saßen, nahm ich ihre alten Hände in die meinen und dankte ihr von ganzem Herzen für alles, was sie für mich getan hatte. Bis heute habe ich nie wieder einen Menschen getroffen, der so viele wunderbare Eigenschaften hatte wie meine Großmutter. Sie war geduldig, intelligent, warmherzig, immer gut gelaunt, tolerant und verständnisvoll. Später, als alles so schwierig wurde in Australien, sehnte ich mich unheimlich nach ihrer Liebe. Ohne ihre weisen Ratschläge wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Sie machte mir damals den Abschied leichter, indem sie mich ermutigte, meinem Herzen zu folgen.
Später lag ich noch lange wach und dachte an den nächsten Tag, an dem ich mich nicht nur von meiner Familie, sondern auch von den Bergen und dem gemütlichen Thun verabschieden musste. Gavin spürte meine Unruhe und legte seine Arme liebevoll um mich. »Du und ich werden es schön zusammen haben«, sagte er beruhigend. »Denk doch nur an die herrlichen Strände, die Sonne und das tolle Leben, das uns in Australien erwartet.« Als er mich zärtlich an sich drückte, spürte ich wieder, dass uns etwas Tiefes verband und dass wir zusammengehörten, trotz des Altersunterschieds von sieben Jahren und trotz unserer völlig verschiedenen Herkunft. Damals in dem Backpacker-Hostel war ich nicht an einer Mitfahrgelegenheit interessiert gewesen, aber als ich Gavin sah, machte etwas in mir klick und eine innere Stimme sagte: »Ah, der ist es, dann ist ja alles in Ordnung.« Es war, als ob wir uns bereits jahrelang kannten.
An jenem letzten Abend kuschelten wir uns noch lange aneinander und träumten von unserem gemeinsamen Leben in Australien. Wir malten uns aus, wie es wäre, am Strand zu leben und selber ein Backpacker-Hostel zu führen. Ob wir das dann auch machen würden, spielte keine Rolle, wichtig war nur, dass wir nicht mehr auf verschiedenen Kontinenten leben mussten. Zuversichtlich und voller Vorfreude schlief ich in Gavins Armen ein.