Читать книгу Seawalkers (2). Rettung für Shari - Катя Брандис - Страница 11
ОглавлениеWild und zahm
Direkt neben dem Bootssteg manövrierte Chris elegant wie ein Tänzer durchs Wasser, schoss nach oben, tauchte wieder ein, schlug einen blitzschnellen Haken … mit einem halben Fisch im Maul. Moment mal, wo hatte er den her? Ich hätte es doch gesehen, wenn er den gefangen hätte.
Das Ganze erinnerte mich daran, wie ich Finny heimlich gefolgt war und herausgefunden hatte, dass eins ihrer Hobbys war, Angler zu erschrecken. Hatte jeder in dieser Klasse ein Geheimnis?
Ich näherte meinen Kopf so der Oberfläche, dass ich verschwommen erkennen konnte, was oben vorging … und sah begeisterte Menschen, die sich auf diesem Bootssteg drängten. »Lass mich mal, ich will ihn auch füttern!«, rief ein kleiner Junge und versuchte, ein Mädchen beiseitezudrängen, das Chris gerade einen Happen zuwarf. Mein Mitschüler schoss nach oben und fing den Fisch mit perfektem Timing in der Luft. Die Leute jubelten und klatschten.
Chris reckte sich hoch aus dem Wasser, stieß dieses typische Seelöwen-Blöken aus und patschte die Brustflossen zusammen, als würde er ebenfalls applaudieren. Das brachte ihm gleich mehrere Fische ein, die er mit einem Happs verschlang.
Eine Frau beugte sich tief über das Wasser. »Gib mir einen Kuss, gib mir einen Kuss!«, rief sie – und Chris schwamm auf sie zu, reckte die Schnauze aus dem Wasser und berührte sie an der Wange.
Wie absolut megaoberpeinlich!
Sekunden später bemerkte Chris, dass ich da war, und schoss vom Bootssteg weg, als wäre ein Schwertwal hinter ihm her. Natürlich war es zu spät, ich hatte längst mitbekommen, was er hier machte.
Oh, hi, Tiago, meinte er und versuchte, dabei lässig zu klingen.
Ich starrte ihn an. Jetzt mal ernsthaft, du lässt dich von Menschen »füttern« und machst »Kunststücke« für sie?
Komm, lass uns ein Stück weiterschwimmen – wenn die Leute dich sehen, fangen sie an zu schreien, weil sie denken, du frisst mich gleich, sagte Chris. Machst du aber nicht, oder?
Ich hatte nicht vor, ihn das Thema wechseln zu lassen. Hast du so was wie das hier schon öfter gemacht?
Nun klang Chris ein bisschen trotzig. Und selbst wenn? Das geht nur mich was an.
Aber warum tust du es?, fragte ich, noch immer ein bisschen geschockt. Hunger hast du garantiert keinen, du hast beim Mittagessen zwei Portionen Garnelen-Quiche verputzt.
Chris wirbelte herum und zeigte mir die Zähne. Ich will nicht drüber reden, klar? Anderes Thema oder Klappe halten, Hai!
Die Zähne zeigen konnte ich auch – und meine waren sehr viel eindrucksvoller. Sofort wich Chris ein Stück zurück. Ich klappte mein Maul wieder zu. Okay, anderes Thema – wieso bist du nicht zur Arbeitsgruppe für unserer Referat gekommen?
Mein Mitschüler klang erstaunt. Ich war doch da, aber ihr nicht. Nachdem ich ein paar Minuten gewartet habe und ihr nicht aufgetaucht seid, bin ich wieder abgehauen.
Vor Verwirrung schlug ich schneller mit der Schwanzflosse und mein Haikörper schoss voran. Hä? Um wie viel Uhr warst du da? Wir waren genau um drei vor Ort! Wie sich herausstellte, hatte Chris in seiner Menschengestalt zwar eine Armbanduhr, aber die ging meistens falsch, weil er schon zwei-, dreimal … oder auch drei-, viermal … vergessen hatte, sie vor einem Sprung ins Wasser auszuziehen. Wahrscheinlich war er zu früh da gewesen. Mein Ärger verebbte langsam. Na, dann probieren wir es am Mittwoch noch mal. Morgen haben wir keine Zeit, da ist der Stadtausflug.
Okay, sagte Chris ein bisschen zu gleichgültig für meinen Geschmack. Er schwamm eine Pirouette und kurvte dann geschmeidig um eine Koralle herum. Schau mal, das sieht ja seltsam aus. Seit wann haben Korallen Löcher an der Spitze? Hat da irgendein Depp reingebissen? Ach, das sieht bestimmt nur so aus, sagte ich und schwamm schneller, damit wir möglichst bald an meinem Opfer vorbei waren.
Boah, wie schief und krumm die aussieht! Chris besah sich die Koralle aus der Nähe.
Komm schon, wir müssen zurück, drängte ich, weil meine Flossen vor Verlegenheit juckten.
Hast du es immer so eilig? Chris kurvte direkt vor meiner Haischnauze herum. Chill doch mal.
Jaja, mach ich doch, sagte ich genervt und dann vergaß Chris die Koralle zum Glück, weil er einen leeren Plastikbecher auf dem Meeresboden gefunden hatte. Er balancierte ihn auf der Nase, während er weiterschwamm. Kapierst du, warum manche Leute denken, das Meer oder die Sümpfe wären so eine Art Mülleimer?
Nein, das werde ich nie kapieren, gab ich bitter zurück und grübelte noch ein bisschen darüber nach, wie wir unsere Ermittlungen anpacken sollten. Bisher hatte ich keine Idee und das war schlecht, weil wir dringend eine brauchten, wenn wir diese Leute stoppen wollten.
Als wir die Lagune der Blue Reef Highschool erreichten, begrüßte uns ein sehr aufgeregter Großer Tümmler. Ich darf mit, ich darf mit!, jubelte Shari in meinem Kopf und sprang in großen Bögen aus dem Wasser, sodass das Sonnenlicht auf ihrem grauen Körper glänzte. Gerade hat Mr Clearwater die Liste ausgehängt, wer auf den Klassenausflug nach Miami darf.
Das ist toll!, rief Chris, noch bevor ich reagieren konnte.
Ja genau, das ist super, fügte ich schnell hinzu und versuchte, die beiden einzuholen, die schon wild planschend durch die Lagune tobten. Mit einem hohlen Gefühl im Bauch blieb ich zurück. Was fühlte Shari für Chris? Dass sie ihn nett fand, wusste ich schon, aber wie gut gefiel er ihr? Leider war Chris bisher nicht so blöd gewesen, sie ganz offen anzuflirten und sich damit aus dem Rennen zu katapultieren. Wahrscheinlich wusste er, dass es Shari eher seltsam fand, dass so viele Jungs in der Schule für sie schwärmten. Sie konnte nicht verstehen, dass alle sie für total hübsch hielten, weil sie selbst ihre Menschengestalt hässlich fand.
Immerhin bist du schon mit ihr befreundet, was willst du mehr?, versuchte ich, mich zu trösten, schwamm zum Strand und verwandelte mich im Flachwasser. Dort lagen immer ein paar Handtücher bereit, damit man nicht vor aller Augen nackt aus dem Wasser steigen musste. Hilfsbereit wie immer, warf Jasper mir meine Badehose zu.
Zusammen gingen wir am Strand entlang und über die beiden kleinen Brücken ins Hauptgebäude. Hastig wateten wir durch die Cafeteria bis zum Schwarzen Brett und lasen uns auf dem Aushang durch, wer alles mitdurfte nach Miami. »Fast alle aus unserer Klasse sind dabei – außer denen, die sich eh nie verwandeln«, sagte ich erfreut. Nur unser Seepferdchen-Wandler fehlte auf der Liste, was daran lag, dass bei seiner Tierart die Männchen die Jungen ausbrüteten. »Linus kann nicht mit, weil er immer noch schwanger ist und sich nicht verwandeln darf. Aber warum ist Zelda nicht auf der Liste? Sie hat doch nur manchmal Probleme mit ihren Verwandlungen, oder?«
»Genau, es ist total ungerecht!« Zelda, unsere Quallen-Wandlerin, heulte fast. »Meine Eltern haben es verboten, sie haben Angst, dass ich in der Stadt austrocknen könnte oder so was. Obwohl ich versprochen habe, dass ich ganz viel trinke!«
Ach, sei froh, dass du nicht mitmusst – ich wollte das sowieso nicht, meinte eine kleine blaue Fischgestalt, die um unsere Schienbeine herumschwamm. Wenn ich dort Hunger bekomme, kann ich ja nicht einfach in ein Restaurant gehen und nach einer Portion Polypen fragen.
Jasper überlegte eine Weile. »Du könntest es mit Gummibärchen probieren, Nox. Die schmecken bestimmt fast genauso.«
Was ist eine »Stadt«?, fragte Lucy, deren Fangarm aus ihrem Lieblingsplatz, einem großen, auf der Seite liegenden Tonkrug herausragte. So was Ähnliches wie eine Unterwasserstation?
»Na ja, eher wie tausend Unterwasserstationen gleichzeitig, alle vollgestopft mit Menschen«, meinte ich.
Oh, sagte Lucy und zog ihren Fangarm in ihre Höhle zurück. Das sind großviele Zweibeiner. Zu viele.
Dabei hatte ich ihr noch nicht mal etwas von den Autos erzählt. Oder den nicht ganz so netten Zweibeinern, nach denen wir Ausschau halten wollten.
Nun kam auch Ella zum Schwarzen Brett und las sich neugierig die Namen durch. Ihre Eskorte war nirgendwo in Sicht.
Ich wusste sofort, dass das meine vielleicht einzige Chance war, sie auf diese Sache mit den Wasservergiftern anzusprechen, über die sie offensichtlich irgendetwas wusste. Jasper hatte es auch kapiert, er warf mir einen halb unsicheren, halb aufgeregten Blick zu. Ich versuchte, ihn in Gedanken zu erreichen, hörte aber nichts – ups, das ging nur, wenn mindestens einer von uns beiden in zweiter Gestalt oder teilverwandelt war.
Eins war klar, ich würde aus Ella nur etwas rauskriegen, wenn ich sie überrumpelte.
Also legte ich einfach los. »Sag mal, Ella … wer ist eigentlich Sweetling?«
»Was?« Ella blickte mich an, als hätte ich ihr einen Mülleimer unter die Nase gehalten. Einen Eimer mit drei Tage alten Fischresten.
»Du hast einen dieser Typen erkannt, beim Kampf an der Straße«, sagte ich. »Weil er manchmal für deine Mutter arbeitet.«
»Woher …«, begann Ella verblüfft. Doch dann checkte sie anscheinend, dass ich das alles nur wissen konnte, wenn ich das Gespräch mit ihren Freunden nach der Lernexpedition belauscht hatte. Ihr Gesicht schloss sich wie eine Muschel, die einen Feind näher kommen spürt. »Du hast sie wohl nicht mehr alle, für meine Mutter arbeiten doch keine Gangster! Meine Mutter ist eine tolle Frau, die erfolgreicher ist, als du es jemals sein wirst, kapiert?«, zischte sie, bedachte mich mit einem vernichtenden Blick und marschierte durch den Cafeteria-Ausgang nach draußen.
»Wenigstens haste es versucht«, sagte Jasper und seufzte. »Echt mutig.«
Wir scheiterten damit, von Joshua, dem Koch, einen Müsliriegel zu schnorren. Also schlenderten wir durch die Cafeteria, stiegen die Stufen in den ersten Stock hoch und von dort über eine an der Wand montierte Leiter und durch eine Luke aufs Dach. Wenn man die Pantherin Noemi besuchen wollte, die wir aus dem Sumpf gerettet hatten, schaute man am besten dort nach. Auf dem Dach war wegen der Solarzellen und den Trichtern zur Regenwassergewinnung nicht viel Platz, aber sie fand immer eine Ecke, um sich dort auszustrecken.
Es ist so katzig hier, schnurrte sie in unsere Köpfe, als wir uns neben sie setzten. Ihr schwarzer Pelz schimmerte in der Sonne. Ich mag es, so viel zu lernen. Nur schade, dass der Puma abreisen musste. Carag. Der war so nett!
»Stimmt«, sagte ich. »Ich schreibe ihm bald mal wieder und grüße ihn von dir, okay?«
»Der mochte das viele Wasser in der Cafeteria und den Klassenräumen nicht«, erinnerte sich Jasper. »Wie kommste damit klar, Noemi?«
Ach, das geht schon. Dafür sind die Leute nett und das Essen prima, noch besser als das Futter bei Bob, bei dem ich vorher gewohnt habe. Noemi gähnte, sodass wir ihre fingerlangen Reißzähne sahen, und betrachtete uns mit ihren grünen Raubkatzenaugen.
Ja, das haben wir auch gehört, mischte sich eine fremde Stimme ein. He, Leute, wir sind da, wo ist unser Begrüßungssnack? HALLO! Seid ihr alle taub oder was?
Wir spähten über die Dachkante und sahen, dass vor dem Gebäude ein schiefergrauer Alligator und eine große Tigerpython herumhingen.
»Oh«, sagte ich. »Das sind wohl Freunde oder Verwandte von Ella.«
»Nur zwei«, antwortete Jasper erleichtert.
»Ja, bisher – aber eingeladen hat sie ungefähr zwei Dutzend«, meinte ich mit einem verzerrten Lächeln und rief ein freundliches »Hallo« hinunter.
Wo ist der Chef? Wir sind neue Schüler und wollen den Chef sprechen!, kam es vom Alligator zurück. Sagt ihm, Tomkin ist hier, klar?
Genau, und er hat seinen besten Freund Jerome mitgebracht, ergänzte der Python-Wandler.
»Ich glaube, ich geh schnell mal Jack Clearwater holen«, meinte Jasper und rannte zur Dachluke.
»Gute Idee – beeil dich!« Weil die Echse gerade den Türknauf in die riesigen Kiefer nahm und begann, daran zu rütteln, kletterte ich hastig an der Feuerleiter nach unten. Sonst konnte man die Sekunden zählen, bis der Knauf abriss.
»Hi – ihr wollt also auf die Schule hier gehen?«, sagte ich, nachdem ich auf dem Boden angekommen war, und lächelte den Alligator und die Schlange an. Gut, dass mich dabei die Leute aus meiner alten Schule nicht sehen konnten. Wahrscheinlich hätten sie erst mal johlend Handy-Videos gedreht und danach im nächsten Irrenhaus angerufen, damit mich jemand abholte.
Ja genau, aber wir kommen nicht rein, maulte die Python, die sehr hell gefärbt war, beinahe ein Albino. Sie begann, sich um meine Beine ringeln und zog sich darum zusammen. Das fühlte sich an, wie in einem Schraubstock zu stecken. Lass uns rein, sonst setzt’s was, wir wollen nämlich den Schulleiter sprechen!
»Ihr bekommt sogar einen noch besseren Service, der Schulleiter kommt zu euch nach draußen! Wollt ihr euch bis dahin im See da vorne anfeuchten?« Ich schaute mich unauffällig um. Wieso war eigentlich nie ein Lehrer in der Nähe, wenn man einen brauchte?
Du willst uns nur loswerden, stimmt’s? Du magst keine Reptilien, richtig? Der Alligator kroch mit drohendem Blick näher und öffnete seine breiten, zähnegespickten Kiefer.
Doch bevor er bei mir ankam, schoss ein schwarzer Blitz zu uns herab und landete genau zwischen uns. Mit einem kräftigen Hieb ihrer Pranke – wenn auch ohne Krallen – brachte Noemi die Python dazu, ihren Griff um mich zu lockern. Dann fauchte sie dem Alligator ins Gesicht. Red gefälligst netter mit ihm, das ist ein Freund von mir!
Ach wirklich? Aber er ist ein Mensch, murrte die Panzerechse.
»Ist er nicht«, protestierte ich und versuchte als Beweis, eine meiner Hände teilzuverwandeln. Was leider nicht klappte. Aber auf mich achtete sowieso keiner mehr, alle Blicke waren auf Noemi gerichtet. Sie wirkte nun ruhig, aber wachsam und stand vor mir wie eine Leibwächterin. Echt nett von ihr.
Uff, da kam Jack Clearwater. Endlich. »Seid ihr Besucher oder wollt ihr euch um einen Platz an der Schule bewerben?«, fragte er die beiden und signalisierte Noemi und mir mit einem »Danke euch beiden«, dass unser Job hier erledigt war. Erleichtert zogen wir ab.
»Die waren nicht so helle, oder?«, meinte ich zu der Pantherin, als wir außer Hörweite waren. »Wir konnten uns ja in Gedanken verständigen, wie sind sie also darauf gekommen, dass ich ein Mensch bin?«
Im Fernsehen haben sie mal erzählt, dass das Gehirn von so einem Alligator nur so groß ist wie ein kleiner Menschenfinger, berichtete Noemi, sie schnurrte schon wieder. Jack schickt sie weg und alles wird wieder gut.
»Bestimmt. Danke fürs Verteidigen«, sagte ich zu ihr und mit einem kurzen Gruß verzog sie sich wieder aufs Dach.
Doch anscheinend schickte Mr Clearwater die beiden nicht weg, denn kurz darauf sahen Jasper und ich in der Cafeteria zwei fremde Jungen in etwas zusammengewürfelter, wahrscheinlich von der Schule geliehener Kleidung. Unser Koch und Hausmeister Joshua war dabei, sie herumzuführen. Einer der beiden hatte sich gerade den Kopf an der Tür gestoßen, weil er kaum durchpasste; er hatte zerrupft wirkende blonde Haare und fluchte mit etwas schriller Stimme. Seine Bewegungen waren schlangenhaft geschmeidig. Ah, das war bestimmt Jerome. Der andere – Tomkin, der Alligator – war als Mensch dunkelhaarig und muskulös. Er sah auf Hollywood-Art gut aus, aber selbst von hier aus fielen mir sein ausdrucksloses Gesicht und seine stumpfen Augen auf.
»Ernsthaft, die dürfen bleiben?«, sagte ich zu Jasper. »Selbst wenn sie nett wären … die können doch niemals das Schulgeld zahlen!«
»Mrs Misaki hat gesagt, das zahlt Lydia Lennox für die beiden«, meinte Jasper.
Verblüfft blickte ich ihn an. »Was? Warum? Wohl kaum, weil sie so nett ist!«
»Vielleicht ist sie nett zu anderen Pythons«, wandte Jasper ein.
»Kann sein. Oder sie fühlt sich dazu verpflichtet, weil ihre Tochter bei unserem Everglades-Trip diese ganzen Reptilien-Wandler zu uns eingeladen hat«, meinte ich. »Keine Ahnung, ob Ella das überhaupt durfte.«
Doch dann fiel mir die Bemerkung ein, die Ella auf unserem Bootssteg gemacht hatte, und mir wurde ganz anders. Steckte womöglich ein Plan hinter der ganzen Sache? Der Plan, immer mehr Reptilien an diese Schule zu bringen, sodass sie hier immer mehr zu sagen hatten? Ich wusste noch genau, was Lydia Lennox uns entgegengeschleudert hatte, nachdem Schüler und Eltern ihren Schule-als-Freizeitpark-Plan abgelehnt hatten. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt – das wird der Ruin dieser Schule sein! Ihr habt die falsche Entscheidung getroffen und daran werdet ihr zugrunde gehen.
»Vielleicht ist es ihre neuste Idee, aus der Blue Reef Highschool ein Reptilienzentrum zu machen«, sagte ich und musste selbst grinsen, weil es so unwahrscheinlich klang.
»Dafür brauchtse aber mehr als die beiden, die gerade aufgetaucht sind«, meinte Jasper.
Ich musste grinsen. »Außer die zwei sind Spezialagenten, haha.«
Beim Abendessen saßen die beiden Neuen, die überhaupt nicht wie Spezialagenten, sondern eher wie Schläger aussahen, zu zweit in einem der zu Tischen umgebauten Boote. Ungläubig sahen wir zu, wie sie dreifache Portionen verdrückten.
»Hat schon jemand mitbekommen, wie die heißen?«, fragte Shari in die Runde.
»Jerome und Tomkin«, antwortete ich.
»Jerome ist der Pythonkerl«, sagte Finny, die gerade an unserem Boot vorbeiwatete. Ihre blauen Haare leuchteten im Abendlicht, das durch die Glaswand hereinströmte. »Er hat mir erzählt, dass er gerne Waschbären jagt und dass er und Tomkin mal ein Airboat geklaut und geschrottet haben.«
»Ich hab ihn im Jungsklo dabei ertappt, wie er hingerissen sein Hautmuster bewundert hat«, berichtete Noah. »Er hat mich gefragt, ob ich es auch so toll finde.«
»Was hast du gesagt?«, fragte ich gespannt.
»Hab gesagt, dass ich mehr auf Karomuster stehe«, erklärte Noah schulterzuckend. »Und ihm angeboten, meine wasserfesten Stifte zu holen und ihm eins aufzumalen.«
Shari, Finny und ich grinsten breit.
»Hat der andere, der hübsche, sich auch selbst bewundert?«, fragte Shari.
»Nee«, sagte Noah. »Der hat nur gesagt, er haut mir gleich aufs Maul.«
Finny fragte in die Runde: »Habt ihr eigentlich gesehen, dass die beiden auf der Liste stehen? Der Liste von Leuten, die beim Schulausflug nach Miami dabei sein werden?«
»Oh«, meinte Jasper. »Dann brauchen wir auf jeden Fall einen Stock.«
Ich erinnerte mich noch gut an seinen Stock – die praktische Alligator-Maulsperre. »Äh … aber sie werden in Menschengestalt sein.«
»Na, dann eben ein ganz kleines Stöckchen«, sagte Jasper und riss den Mund auf, um mit den Fingern Maß zu nehmen.
»Selbst wenn die beiden dabei sind, wir werden trotzdem Spaß haben!«, rief Shari uns zu. »Und vom Nachforschen lassen wir uns auch nicht abhalten, oder?«
Jasper und ich schüttelten gleichzeitig den Kopf.
Das Thema »Nachforschen« erinnerte mich wieder an Chris und wie ich ihn bei seinen Kunststücken für die Menschen beobachtet hatte. Am liebsten hätte ich meinen Freunden davon erzählt, aber irgendwas warnte mich davor, das zu tun. Später, als ich mir den Nachtisch holte – Vanillecreme, yeah! –, bemerkte ich, dass Chris mich und die Delfine aus dem Augenwinkel beobachtete. Machte er sich Sorgen, dass ich sein Geheimnis verraten könnte? Oder bewunderte er einfach nur Shari? Das war leider eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.
Morgen war schon der Stadtausflug. Bis dahin brauchten wir einen Plan, wie wir den Müllgangstern auf die Spur kommen wollten. Und wir hatten nur zwei Anhaltspunkte, diesen eigenartigen Namen und das Phantombild, das ich gezeichnet hatte. Jasper und ich brachten den Abend damit zu, im Telefonverzeichnis von Miami nach Namen zu suchen, die ähnlich klangen wie »Sweetling«, und sie herauszuschreiben. Von denen gab es ungefähr dreißig. »Und was jetzt?«, fragte Shari gespannt.
»Jetzt rufen wir die alle an und stellen ihnen eine Fangfrage«, sagte ich und verzog kurz das Gesicht bei dem Gedanken daran, dass wir das über mein Handy machen mussten (Jasper und Shari hatten keins) und was das mit meinem Guthaben anstellen würde.
»Aber was sagen wir?«, rätselte Jasper.
Sharis Augen leuchteten auf. »Ich hab’s! Wir grüßen denjenigen, der drangeht, von Lydia Lennox – und wenn der Name ihm was sagt, ist das schon sehr verdächtig. Dann gehen wir bei ihm vorbei und schauen uns an, ob es der richtige Typ ist.«
Da mir nichts Besseres einfiel, nickte ich.
Damit uns niemand dabei störte, zogen wir uns in einen der Projekträume im ersten Stock zurück, in dem auch einige Computer mit Internetverbindung standen. »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, am besten, einer von uns steht vor der Tür Wache«, schlug Shari vor. »In unserem Delfinclan gab es auch immer Späher und Wächter, die uns gewarnt haben, wenn sie etwas Ungewöhnliches bemerkt haben.«
Ich fing mit dem Telefonieren an. »Hallo?«, meinte eine Männerstimme unter dem Anschluss von »Sweetling, Bradley« in Coconut Grove, Miami.
»Äh, hallo, ich soll Sie von Lydia Lennox grüßen und …«
»Von wem?« Die Verblüffung in seiner Stimme war echt. Außerdem klang der Typ zu jung.
»Entschuldigung, verwählt.« Ich drückte die rote Taste und wählte die nächste Nummer. Und dann die übernächste und überübernächste. Neben den Namen »Sweetkin, G.« malte ich ein Sternchen, weil er einfach nur schwieg, nachdem ich die Grüße ausgerichtet hatte. Sehr verdächtig. Andererseits hatte die Stimme älter geklungen als die unseres Verdächtigen. Ich telefonierte weiter.
Unter »Sweetking, C.« meldete sich eine Frau. »Könnte ich vielleicht Ihren Mann sprechen?«, fragte ich.
»Der hat schon vor fünf Jahren die Flatter gemacht«, zischte die Frau. »Dieser miese, verlogene …«
Ich legte auf. Dass der Kerl »die Flatter gemacht« hatte, deutete in diesem Fall eher nicht darauf hin, dass er ein Fledermaus-Wandler war.
In der Zwischenzeit hatte Jasper das Internet befragt, was es zu Lydia Lennox und dem seltsamen Namen hergab. »Tiago! Es gibt in Miami einen Laden, der heißt Sweet King, meinste, das hat was zu bedeuten?«
»Klar hat das was zu bedeuten«, brummte ich. »Das bedeutet sehr wahrscheinlich, dass dieser Laden Süßigkeiten verkauft.«
»Stimmt.« Jasper furchte die Stirn. »Aber glaubste nicht, dass das ein geheimer Treffpunkt sein könnte? Wo die Wasservergifter Nachrichten austauschen und so?«
»Jaja, bestimmt«, sagte ich, während ich die nächste Nummer wählte. »Vielleicht kaufen die Gangster zufällig gerade Brausebonbons, während wir da sind.«
In dem Moment, in dem ich mal wieder mein Sprüchlein mit den Lydia-Lennox-Grüßen brachte, ging die Tür auf. Ich zuckte zusammen, aber es war nur unsere Türwache Shari.
»Darf ich auch telefonieren?«, fragte sie. »Wir hatten Telefone zwar noch nicht in Menschenkunde, aber das macht nichts, oder? Was passiert eigentlich, wenn ich zehnmal die Acht wähle? Acht ist meine Lieblingszahl, weil sie wie Seetang aussieht.«
Jasper und ich blickten uns erschrocken an. Aber nicht wegen der zehn Achter, sondern weil draußen im Gang gerade Barry vorbeiging.
»Was habt ihr mit Lydia Lennox zu tun?«, fragte er misstrauisch. »Ich habe gehört, wie ihr eben ihren Namen gesagt habt.«
»Du irrst dich«, erwiderte ich und es überlief mich kalt.
»Ach wirklich?« Barry blickte mir voll ins Gesicht und wieder einmal fiel mir auf, dass er die kältesten Augen hatte, die ich je gesehen hatte. Mit wenigen schnellen Schritten ging er zu Jasper, wahrscheinlich um ihm über die Schulter zu blicken.
Ich verkrampfte mich, rechnete damit, dass mein Gürteltierfreund vor Schreck wie gelähmt sein würde. Weit gefehlt. Vor Schreck verwandelte sich Jasper … und wenn Gürteltiere sich erschrecken, springen sie hoch. Auf dem Weg nach unten landete er mit allen vier Pfoten auf der Tastatur und auf dem Bildschirm flackerte es wild, als sich Fenster ausblendeten und andere in den Vordergrund schoben. Barry bekam nur noch den Speiseplan der nächsten Woche zu sehen, auf dem schreckliche Dinge wie Muschel-Eintopf mit Seegras und Schnitzel mit Paprika-Plankton-Soße standen.
Der Barrakudajunge zuckte die Schultern, ging wieder zur Tür und warf noch einen Blick in die Runde. »Kleiner Tipp: Das Einzige, was ihr mit Lydia Lennox machen solltet, ist, ihr die Füße zu küssen.«
Nachdem er wieder weg war, war es einen Moment lang still. Jasper sagte mit kleiner Gedankenstimme: Meint ihr, er geht zu Ella und erzählt ihr, dass wir über ihre Mutter reden?
»Das ist so sicher wie Ebbe und Flut – aber es weiß ja keiner, worüber wir geredet haben«, versuchte uns Shari zu beruhigen.
»Super reagiert auf jeden Fall, Jasper«, lobte ich meinen Freund und schaute weg, während er sich zurückverwandelte und wieder anzog. »War das Absicht, dass du bei der Landung mit den Pfoten genau die richtigen Tasten getroffen hast, um das Bild wegzuklicken?«
»Tasten? Ach so, klar, das war Absicht!«, behauptete Jasper.
Wir waren alle nicht mehr in der Stimmung weiterzuforschen, also schlug ich vor: »Machen wir Schluss für heute. Immerhin haben wir schon eine verdächtige Person identifizieren können. Der Kerl wohnt in South Beach, weniger als eine Meile entfernt von der Ecke von Miami, die wir beim Schulausflug ansteuern. Wir können ihn leicht abchecken.«
»Machen wir«, sagte Shari. »Wie wär’s jetzt mit einer Runde Wasserball in der Lagune? Aber mit Tiago in Menschengestalt, bitte … sonst brauchen wir ständig neue Bälle.«
»Gute Idee!«, antwortete ich sofort. Mir war alles recht, wenn ich nur Zeit mit diesem Mädchen verbringen konnte.
»Ja, gute Idee, aber nur, wenn ich nich’ im Wasserball drin bin«, sagte Jasper ein bisschen misstrauisch.
Wir versicherten ihm, dass das natürlich nicht der Fall sein würde. Beruhigt versprach Jasper, dass er dann gerne den Schiedsrichter machen würde.
Der Countdown lief – morgen früh würden wir aufbrechen zum Stadtausflug.