Читать книгу Und keiner wird dich kennen - Катя Брандис - Страница 10
Eindringlinge
ОглавлениеDer Fremde verlangsamt seine Schritte und nimmt Lorenzo ins Visier. Kühle graue Augen hat er. „Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier machen?“
Großer Gott. Das wird gerade zum Worst-case-Szenario!
„Ich warte auf jemanden“, behauptet Lorenzo mit aller Dreistigkeit, die er jetzt noch aufbringen kann. Immerhin, es stimmt, er wartet auf Maja, oder etwa nicht?
„Auf wen?“
„Geht Sie das was an?“, gibt Lorenzo trotzig zurück. Der Typ ist ihm ungefähr so sympathisch wie ein Fisch, der seit einer Woche tot ist.
„Kann man so sagen“, meint der Mann. „Treten Sie mal einen Schritt zur Seite, bitte.“
„Warum?“
„Darf ich mich vorstellen?“, sagt der Mann in kühlem, ironischem Ton. „Robert Meinert, Kriminalhauptkommissar. Und jetzt treten Sie bitte beiseite.“
Lorenzos Eingeweide fühlen sich an, als würden sie sich gerade verflüssigen. Schweigend folgt er dem Befehl. Er weiß, wann er verloren hat.
Maja radelt durch die kahle, schweigende Stadt. Im künstlichen Licht der Straßenlaternen sieht sie Flocken vom Himmel schweben, aber kein einziger Stern glänzt auf sie herab. Die Angst sitzt ihr im Nacken, verlässt sie keinen Moment lang. Klar, es ist unwahrscheinlich, doch was ist, wenn sie jetzt zufällig Robert Barsch über den Weg läuft? Immer wieder sieht sie sich um. Niemand ist hinter ihr, kein Mensch folgt ihr.
Völlig durchgefroren kommt sie an dem Haus an, in dem Lorenzo wohnt, doch die Hoffnung wärmt sie, strömt fiebrigheiß durch ihre Adern. Sie merkt kaum, dass ein Lächeln auf ihr Gesicht kriecht. Lorenzo! Ihr wunderbarer karottenhaariger Italiener. Gleich kann sie ihn wieder umarmen, und alles wird gut sein, alles wird perfekt sein, wenn auch nur einen Moment lang. Er wird verstehen, dass sie weg muss, dass sie nicht anders kann, dass sonst ihre ganze Familie in großer Gefahr ist. Hauptsache, er denkt nicht, dass sie ihn einfach im Stich gelassen hat, allein der Gedanke ist unerträglich.
Sein Schlafzimmer ist im ersten Stock. Maja klettert über den Gartenzaun, der zum Glück nicht hoch ist und keine fiesen Spitzen hat, und stapft ums Haus herum. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie mit ihren Handschuhen den Schnee weggekratzt und ein paar Steinchen in der richtigen Größe aufgeklaubt hat. Als sie die Steinchen an Lorenzos Fenster wirft, kommt sie sich ein bisschen albern vor – solche Sachen machen doch eigentlich nur Leute in Filmen. Doch ihr ganzer Körper ist angespannt, als sie wartet, was jetzt passieren wird. Er hat einen leichten Schlaf, vielleicht geht jetzt schon seine Lampe an, jetzt gleich ...
Stille. Dunkelheit.
Maja wirft noch ein Steinchen, und noch eins. Nichts passiert. Die Kälte kriecht unter ihre Kleidung und Maja wehrt sich nicht mehr dagegen, starrt nur hilflos nach oben. Was ist los? Warum wacht er nicht auf? Ist er nicht da? Aber warum sollte er denn weg sein?
Sie ist umsonst hergekommen. Wahrscheinlich wird sie Lorenzo nicht wiedersehen. Das war´s dann wohl mit der letzten Chance.
Sehr, sehr langsam kehrt Maja um. Nicht mal ihre Fußspuren wird er morgen im Garten finden, wenn es so weiterschneit. Soll sie ihm irgendeine Nachricht hinterlassen? Aber sie hat kein Papier, keinen Stift, wie konnte sie die nur vergessen?
In der Einfahrt steht der Familienwagen, ein silberner VW. Maja ist trostlos zumute, als sie ein letztes Zeichen für Lorenzo auf die verschneiten Autoscheiben malt:
M ((Herz)) L
Dann schwingt sie sich wieder aufs Rad.
„Soso.“ Der Polizeibeamte verschränkt die Arme. „Da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen, um eine Straftat zu verhindern.“
„Ich ...“, bringt Lorenzo heraus, doch es gibt keine Ausrede, die auch nur halbwegs passen würde. Cedric hätte vielleicht einen Weg gefunden, sich aus dieser Situation rauszubluffen, aber Lorenzo kann längst nicht so gut lügen.
„Name und Ausweis, bitte“, sagt der Mann. In Zeitlupe gibt Lorenzo vor, in seinen Taschen zu suchen. Kann er an dem Typen vorbeisprinten, die Treppe runter, raus? Doch der Kerl scheint es zu spüren, denn er stellt sich so hin, dass er ihm den Weg versperrt. Lorenzo weiß, dass er trotzdem entkommen könnte ... wenn er jetzt lossprintet, ergeht es dem Typ nicht anders als denen, die ihn auf dem Weg zum Basketballkorb blocken wollen. Aber noch zögert er, Fragen drängen in ihm hoch, vielleicht ist das hier eine Chance, die er nicht wegwerfen darf. „Suchen Sie die Familie Köttnitz?“
„Ja“, sagt der Beamte knapp. „So, und jetzt weisen Sie sich bitte aus, oder wollen Sie lieber mitkommen auf die Wache?“
„Moment“, meint Lorenzo und wühlt weiter in seinen Taschen, obwohl er genau weiß, dass er keinerlei Ausweise eingesteckt hat. Zwischendurch blickt er auf. „Was ist denn mit denen los? Mit der Familie?“
„Wir verfolgen da mehrere Hinweise.“
Lorenzo kapiert gar nichts. „Was für Hinweise? Wissen Sie denn, wohin die Familie verschwunden ist?“
„Wie erwähnt, wir forschen nach.“
„Aha“, sagt Lorenzo. „Aber es ist kein Verbrechen geschehen, oder?“
„Über laufende Ermittlungen kann ich leider nur begrenzt Auskunft geben“, erwidert der Mann. „Aber wir haben nicht die Vermutung, dass es sich um ein Verbrechen handelt.“
Lorenzo fühlt einen Anflug von Erleicherung. Immerhin etwas. Hätte ja sein können, dass irgendetwas Schlimmes vorgefallen ist. Und es ist beruhigend, dass die Polizei schon eingeschaltet ist und sich bemüht, Majas Spur aufzunehmen.
„Wir tun unser Bestes, um die Familie zu finden.“ Abwägend blickt der Mann Lorenzo an, mustert ihn von oben bis unten, als wolle er ihn mit diesem Blick einscannen. „Und Sie? Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie kein gewöhnlicher Einbrecher, richtig?“
Lorenzo ist erleichtert. Sieht so aus, als würde er heute doch nicht mehr verhaftet, jedenfalls wenn er ein bisschen Glück hat. Spontan sagt er die Wahrheit: „Ich bin der Freund von Maja Köttnitz. Lorenzo Jaschke.“
„Ah.“ Der Mann deutet mit dem Kinn auf die Haustür, in der noch der Dietrich steckt. „Dann würde ich sagen, wir vergessen das jetzt mal. Kurzschlussreaktion, richtig?“
„Absolut“, bestätigt Lorenzo eilig. So langsam wird ihm dieser Kerl doch noch sympathisch.
Jetzt ist es der Beamte, der in seinen Taschen kramt; schließlich zieht er einen Zettel und einen Stift hervor. „Ich gebe Ihnen meine Nummer – rufen Sie mich bitte an, wenn Sie irgendwelche Hinweise finden. Wir tun unser Bestes, der Familie zu helfen, und wenn Sie uns unterstützen, dann haben wir vielleicht eine Chance.“
„Okay. Mach ich.“ Lorenzo nimmt den Zettel, steckt ihn ein und wundert sich dabei kurz, warum der Typ keine Visitenkarte hat. Aber schließlich ist es spät nachts, und er ist nicht in Uniform, sondern in Zivil; vielleicht hat er vergessen, welche einzustecken.
„Und jetzt ab mit dir.“ Der Mann deutet mit dem Kinn auf die Treppe.
Lorenzo zögert, wirft einen kurzen Blick auf die feststeckenden Dietriche. Tja, die müssen wohl hierbleiben. Haben ihm eh kein Glück gebracht. Nichts wie weg hier.
Auf dem Weg nach unten nimmt der Junge zwei Stufen auf einmal. Einen Moment blickt Robert Barsch ihm noch nach, dann erlaubt er sich ein Lächeln. Das war ja wirklich ein Volltreffer.
Irgendwie imponiert ihm, was der Junge sich getraut hat. Dazu gehört schon eine ordentliche Portion Frechheit. Vielleicht hätte er es sogar geschafft, das Schloss zu knacken, wenn er nicht unterbrochen worden wäre. Er selbst hat so was als Jugendlicher auch gemacht, ein paar Jahre lang ist er unzählige Male in verlassene Gebäude eingedrungen. Sie zu durchstreifen und nach Spuren der früheren Bewohner zu durchsuchen, war spannender als alles andere. Seine Eltern haben nie etwas davon erfahren, es hätte sie sowieso nicht interessiert.
Als Robert das Zuklappen der Eingangstür hört, überprüft er kurz, ob ihn jemand aus der Wohnung nebenan durch den Türspion beobachtet. Nein. Alles okay. Rasch streift er sich dünne Latexhandschuhe über, entfernt die Metallhaken aus dem Türschloss – diese Dietriche taugen nichts! – und macht sich daran, das Ding selbst zu knacken. Zwei Minuten später ist die Tür offen. Meine persönliche Fundgrube, denkt Robert vergnügt, tritt ein und schließt sorgsam die Tür hinter sich.