Читать книгу Und keiner wird dich kennen - Катя Брандис - Страница 9
Einbrecher
ОглавлениеRobert Barsch ist zufrieden. Nach diesem langen Stück Autobahn ist die Batterie seines BMWs wieder voll und fast lautlos gleitet der dunkle Wagen durch die Straßen.
Offenbach. Wieso sind sie nach Offenbach gezogen? Nur ein paar Kilometer entfernt, in Frankfurt, ist er aufgewachsen. Ob es die Arztpraxis seines Vaters noch gibt? Mit ein paar Klicks könnte er es herausfinden, aber etwas in ihm sträubt sich dagegen. Wieder einmal sieht er die düstere Miene seines Vaters vor sich, hört ihn schimpfen und jammern. Zu wenig Patienten! Geizige Krankenkassen! Teure Geräte, die angeschafft werden müssen!
O Mann. Kein Wunder, dass es im Wartezimmer seines Vaters leer geblieben ist. Diese Jammerei war einfach unerträglich, das konnte keiner aushalten. Schon mit acht Jahren hat sich Robert vorgenommen, nie zu jammern, und dieses Versprechen hat er gehalten.
Sein Navi signalisiert ihm, dass es bis zum Ziel nur noch drei Kilometer sind, einmal quer durch die Stadt. Freudige Erwartung durchpulst ihn. Jetzt gerade denken Lila und ihre Kinder an ihn, da ist er sicher, sie denken an ihn und fürchten ihn vielleicht und fragen sich, was er als Nächstes vorhat. Dabei ist die Antwort ganz einfach: Er wird Lila überzeugen, dass sie unbedingt zu ihm zurückkehren muss!
„Das geht so nicht! Nein, wirklich nicht! Der Müll muss ordentlich getrennt werden – sehen Sie, das hier ist doch aus Plastik, wieso haben Sie das nicht in die Recyclingtonne geworfen?“ Frau Singerls Gesicht ist gerötet.
Wie wahnsinnig peinlich. Lila hat vermutlich nicht lange darüber nachgedacht, als sie die Packung verschimmelten Quark angeekelt in den Mülleimer geworfen hat. Dabei ist das eine interessante Kultur von Aspergillus niger, die sie vernichtet hat. Egal. Maja verzieht sich leise aus der Küche, während die Strafpredigt auf Lila niederprasselt, sie erträgt diese Frau einfach nicht mehr. Tausend Regeln gibt es in ihrem Haus, einmal kurz nicht aufgepasst und schon wieder gibt´s Stress. Das fühlt sich an, wie auf einem viel zu dünnen Balken zu balancieren. Am liebsten würde Maja jetzt rauslaufen, raus, nur weg, eine Stunde durch den Wald stapfen oder so was, damit die Wut verdampfen kann. Aber raus dürfen sie nicht, und das ist besonders für Elias schwierig, er wird immer zappeliger. Lila und Maja denken sich Spiele für ihn aus, so gut sie können, aber heute haben sie weder die Kraft noch die Lust dazu.
Wir haben alle einen schweren Hüttenkoller, denkt Maja und verschanzt sich in ihrem und Elias´ Zimmer. Als Lila zurückkommt, sieht sie niedergeschlagen aus. „Das geht nicht mehr lange gut“, sagt sie leise, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hat. „Klar, nach einer Woche fangen sogar erwünschte Gäste an zu nerven ...“
„Unerwünscht, genau, so fühle ich mich“, ätzt Maja. „Diese Frau hat einfach momentan keine sinnvolle Aufgabe im Leben, deshalb verbeißt sie sich in solche Sachen wie die richtige Mülltrennung.“
Lila verkneift sich knapp ein Lächeln, dann sieht sie wieder düster aus. „Da hast du vermutlich recht, aber wenn wir hier rausfliegen, haben wir ein Problem. Ich habe keine Ahnung, wo wir dann hinsollen.“
„Also noch mehr Öl aufs Feuer, Honig ums Maul und so was?“ Maja weiß nicht, ob sie das noch schafft.
„Wenn man Öl aufs Feuer gießt, brennt´s doch noch doller“, wendet Elias ein und Maja muss grinsen. Stimmt, die Redensart geht anders, der Versprecher hat wohl ihre wahren Gedanken verraten ...
„Ich rufe jetzt erst mal Andreas an“, sagt Lila, seufzt und schaut zur Tür, die nur aus dünnem Holz besteht – können sie hier überhaupt noch offen reden? Hat Frau Singerl gehört, was sie gesagt haben? Anscheinend nicht. Hätte die Frau an der Tür gelauscht, wäre schon ein ausgewachsener Shitstorm losgebrochen.
Andreas tröstet sie telefonisch, dass er bei den Behörden Dampf macht, damit sie möglichst schnell die neuen Papiere bekommen. Vielleicht ist es schon in einer Woche so weit.
Der Abend zieht sich endlos, Maja hört über ihren Player Musik. Fernsehen schauen geht nicht, außer man ist ein großer Fan von Quizshows, dann kann man Frau Singerl vor der Glotze Gesellschaft leisten. Der Geruch nach gekochtem Rosenkohl zieht durchs ganze Haus. Maja versucht, Sokrates zu lesen, was nicht so trocken ist, wie sie erwartet hat. Zum Tode verurteilt macht er sich Gedanken darüber, was ihn erwartet: Unmöglich können wir richtig vermuten, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel ...
Während der schlimmsten Zeit, ein paar Monate nach Lilas Trennung von Barsch, hat sie manchmal gedacht, dass es besser wäre, gar nicht zu leben als so zu leben. Doch jetzt schreckt Maja vor diesem Gedanken zurück, als habe sie eine heiße Herdplatte berührt. Niemals könnte sie Lila und Elias so etwas antun. Außerdem wird der Mistkerl sie ja nicht mehr finden, bald sind sie endgültig aus seiner Reichweite!
Irgendwie führen die düsteren Gedanken sie zu Lorenzo. In einer Woche schon wird sie ganz und gar weg sein aus seiner Welt, aus dieser Stadt. Und sie darf sich nicht einmal von ihm verabschieden. Der Gedanke wird immer unerträglicher, er brennt sogar die Tränen weg. Sie würde alles dafür geben, wenn sie ihn noch ein einziges Mal sehen könnte. Ist das so viel verlangt? Sie wird ja nicht bei der alten Wohnung vorbeigehen, obwohl sie furchtbar gerne ihren Datenstick geholt hätte. Und natürlich wird sie auch nicht ihr Handy benutzen. Dadurch ist das Risiko minimal.
In Maja wächst ein Plan, und auf einen Schlag schöpft sie wieder Hoffnung. Wenn sie spät nachts nochmal rausschlüpft, könnte sie zu seinem Haus fahren und sich mit ihm treffen... im Flur hängt der Ersatzschlüssel, den kann sie nehmen... keiner wird merken, dass sie überhaupt weg war... es schneit ja ein bisschen, innerhalb von ein paar Stunden sind ihre Spuren weg... wenn sie Steinchen an sein Fenster wirft, wacht er garantiert auf... er wird da sein, unter der Woche darf er ja nur bis elf weg...
Fast kann sie Lorenzos Kuss schon auf ihren Lippen spüren und ihr ist nach Lachen und Weinen gleichzeitig zumute. Ja! Ja, verdammt! Das Risiko muss sie einfach eingehen. Vielleicht ist heute Nacht die letzte Chance. Wenn die neuen Papiere da sind, ziehen sie sofort um in eine weit entfernte Stadt, dann ist es zu spät, dann wird sie Lorenzo nie wiedersehen.
Elf Uhr abends. Endlich legt sich auch Lila hin.
Maja liegt angezogen im Bett, Elias´ kleiner Körper ist warm und ein wenig schwitzig neben ihr. Um diese Uhrzeit schläft er unglaublich tief, es ist fast unmöglich, ihn zu wecken. Maja starrt in die Dunkelheit, lauscht auf Elias´ Atemzüge. Wartet. Dann endlich geht unten der Fernseher aus, sie hört die Schritte von Frau Singerl auf der Treppe. Wasser läuft im Badezimmer, dann knarrt nebenan das ehemalige Ehebett.
Zur Sicherheit wartet Maja noch eine halbe Stunde, dann hört sie Frau Singerls feuchtes, rasselndes Schnarchen. Scheußlich. Früher hat sie gedacht, dass nur Männer schnarchen.
Fast lautlos schlägt Maja die Decke zurück, steht auf und schleicht die Treppe hinunter. Zieht ihre Winterjacke über, schlüpft in die Stiefel. Um diese Uhrzeit fahren blöderweise nicht viele Busse, aber Frau Singerl hat im Schuppen ein Fahrrad.
Majas Atem geht schnell. Nichts wie los..
Soll er schwarze Sachen anziehen? Nein, sonst sieht Maja ihn womöglich nicht in der Dunkelheit. Lorenzo entscheidet sich für eine schwarze Hose und einen blauen Hoodie. Das Ding müsste zwar mal wieder gewaschen werden, aber egal, für heute genügt er. In den Rucksack stopft Lorenzo eine Taschenlampe und den Satz Dietriche.
Zum Glück ist sein Fahrrad schon repariert. Diesmal fährt er noch langsamer und vorsichtiger, der Neuschnee ist verflucht rutschig. Es dauert, bis er wieder vor Majas Haus steht. Absichtlich hat er bis nach der Dämmerung gewartet, denn jetzt würde er sehen, wenn in der Wohnung Licht ist. Lange Minuten steht er da, den Kopf in den Nacken gelegt, und späht nach oben. Noch kann er nicht glauben, dass die Familie Köttnitz ganz und gar verschwunden ist. Aber es scheint fast so, sämtliche Fenster sind dunkel. Obwohl er es erwartet hat, ist das trotzdem schwer zu ertragen.
Jetzt könnte er seinen Plan in die Tat umsetzen. Lorenzo tastet nach den Dietrichen in der Tasche und bekommt einen Moment lang Angst vor sich selbst. Was soll das? Will er das wirklich? Das ist Hausfriedensbruch, mindestens! Was ist, wenn es schiefgeht?
Egal. Er muss herausfinden, was mit Maja los ist, nichts anderes zählt mehr. Um sich am Nachdenken zu hindern, klingelt er bei einem der anderen Hausbewohner. „Ja?“, tönt es blechern durch die altmodische Sprechanlage. „Entschuldigen Sie die Störung“, sagt Lorenzo in die Sprechanlage, „ich habe meinen Schlüssel vergessen, könnten Sie mich reinlassen?“
Tatsächlich, die Tür summt, rasch drückt er sie auf. Der Typ hat nicht mal nach seinem Namen gefragt. Sekunden später steht Lorenzo vor Majas Haustür und umklammert die Dietriche in seiner Tasche. Es ist schon ewig her, dass er die beim Detektivspielen benutzt hat. Alte Schlösser bekommt man damit ganz gut auf, aber so fertig das Haus auch aussieht, das Schloss an dieser Tür wirkt fast neu. Aufgeben? Nein. Er muss es wenigstens versuchen. Vielleicht findet er drinnen den Hinweis, auf den er gehofft hat, den Anhaltspunkt, den er braucht, um Maja wiederzufinden.
Lorenzo zieht die Dietriche hervor und macht sich ans Werk.
Im Auto ist es zwar nicht sonderlich warm, doch Robert Barsch ist gut vorbereitet, er hat seinen dicksten Pulli und eine Daunenjacke angezogen. So lässt sich das Wachehalten vor dem Haus gut ertragen. In der Thermoskanne ist sogar noch ein Rest warmer Pfefferminztee. Schon seit drei Stunden beobachtet er das Haus, an dem er das Klingelschild Köttnitz entdeckt hat. Sein Nachtsichtgerät, das er sich vor ein paar Jahren mal gekauft hat, enthüllt alle Details des Hauses und seiner Umgebung. Lila scheint weg zu sein, anscheinend will sie ihn nicht sehen. Das ist eine furchtbare Enttäuschung. Wieso nur hat er aus dem Gefängnis bei ihr angerufen? Es wäre so viel klüger gewesen, sie zu überraschen, dann hätte sie vielleicht endlich, endlich mit ihm gesprochen und begriffen, wie sehr er sie liebt!
Interessiert beobachtet er den jungen Mann, der vorhin mit dem Rad eingetroffen ist. Was hat der vor? Er wirkt unsicher, zögerlich. Scheint nicht im Haus zu wohnen. Aber jetzt ist er anscheinend drinnen, Robert Barsch sieht Licht im Treppenhaus. Ist das womöglich jemand, der ebenfalls nach der Familie Köttnitz sucht? Mal schauen. Robert Barsch steigt aus und schließt die Fahrertür vorsichtig hinter sich.
Lorenzo zuckt zusammen, als er jemanden unten an der Tür hört. Dann wieder der Türsummer, Schritte, das Flurlicht geht an. O Mann – was jetzt? Instinktiv will er die Dietriche in seiner Tasche verschwinden lassen, aber das klappt nicht, sie haben sich im Schloss verhakt! Verzweifelt zerrt er an ihnen, während die Schritte näherkommen. Scheißdinger!
Im letzten Moment dreht sich Lorenzo um und lehnt sich gegen die Tür, jetzt verdeckt sein Rücken, dass die Metallteile immer noch verräterisch im Schloss stecken. Er versucht ganz locker zu wirken und ein bisschen gelangweilt, so als warte er auf jemanden, der noch immer nicht aufgekreuzt ist.
Nun kann er sehen, wer da die Treppe hochkommt. Ein schlanker Mann ungefähr Anfang vierzig. Glatte braune Haare im Seitenscheitel. Er ist gekleidet wie ein Geschäftsmann, aber sein schmales Gesicht erinnert Lorenzo an irgendeinen alten Western. Kevin Costner in der Prärie.
Hoffentlich will er in ein höheres Stockwerk. Los, geh schon vorbei!, betet Lorenzo.
Aber natürlich wirkt es nicht.