Читать книгу Und keiner wird dich kennen - Катя Брандис - Страница 6

Zu keinem ein Wort

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Das Haus am Stadtrand ist von hohen Hecken umgeben, hier verbarrikadiert sich jeder hinter grünen Mauern. Sie stehen vor einer altmodischen Haustür aus krisseligem Glas, schweigend drückt Lila den Klingelknopf, auf dem SINGERL steht. Schemenhaft kann Maja durch die Tür erkennen, dass jemand heranschlurft, dann öffnet eine alte Frau mit braun gefärbten Locken und Brille. Sie trägt einen dunkelblauen Pullover, der sich über ihrer enormen Oberweite wölbt, steinfarbene Hosen und klobige Hausschuhe mit Korksohlen.

„Na, da seid ihr ja schon“, sagt die Frau und lächelt ein wenig zögernd, als sei sie noch nicht ganz sicher, was sie von dieser ganzen Sache halten soll.

„Das ist furchtbar nett von Ihnen, dass wir erst mal bei Ihnen bleiben dürfen, Frau Singerl“, sagt Lila. „Mein Name ist Lila, das hier sind Maja und Elias.“

Frau Singerl nickt. Sie kneift ein wenig die Augen zusammen, als sie Lila mustert, und Maja stellt sich vor, was sie sieht: eine große, schlanke Frau in den Dreißigern, hübsch, lange dunkelbraune Locken, gesteppte schwarze Winterjacke, violetter Schal und kniehohe Stiefel. Vielleicht fragt sie sich, ob das die Kollegin sein soll, von der ihre Tochter erzählt hat, die Mechatronikerin, und wo ist eigentlich das Öl unter ihren Fingernägeln? Daneben ein Mädchen, fast ebenso groß wie die Frau, aber etwas unscheinbarer, mit einem ebenmäßigen, runden Gesicht und skeptisch blickenden dunklen Augen. Und ein Junge, der irgendwie so aussieht, als würde er nicht dazugehören, er ist so blond. Seine Haut ist sehr hell, fast durchscheinend, man sieht jede Ader.

„Sieht aus, als würd´s heute mal wieder schneien“, sagt Frau Singerl nach einem Blick zum Himmel und hält dann die Tür auf. „Bitte die Schuhe ausziehen, ich habe gerade gewischt.“ Im Haus riecht es nach Hühnersuppe, muffigen alten Kleidern und Frau Singerls Rosenparfüm, das sie anscheinend literweise verwendet.

Mühsam schleppen sie ihre Koffer eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort zeigt Frau Singerl ihnen das ehemalige Zimmer ihrer Tochter, viel ist nicht mehr darin: ein Kleiderschrank, ein Einzelbett mit Kissen darauf, ein zu oft gewaschener hellgrüner Teppich. „Hier könnt ihr schlafen.“ Frau Singerl schnauft nach dem Erklimmen der Treppe. „Es gibt leider nur ein Bett. Aber da passt ihr bestimmt zu zweit rein.“

Eingeschüchtert lugt Maja durch die Tür. Auch hier riecht die Luft abgestanden. An der Wand hingen vielleicht früher mal Poster von irgendwelchen Stars, man sieht noch die Löcher der Reißzwecken, doch jetzt prangt dort ein Reisebüro-Plakat: eine Küstenlandschaft mit Blüten im Vordergrund, wahrscheinlich Italien, ganz schön kitschig. Elias setzt sich auf das Bett, wippt zögernd auf und ab, haut mit der Hand auf eins der grünen Kissen und sagt noch immer kein Wort.

Frau Singerl nimmt das Kissen, legt es wieder ordentlich hin und zupft es in Form. Dann führt sie Lila zu einem anderen Zimmer, in dem ein wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz steht und Bücherregale die Wände bedecken. „Das war das Arbeitszimmer meines Mannes“, sagt sie und seufzt. Dann deutet sie auf eine rissige braune Ledercouch. „Hier, die bezieh ich gleich mal für Sie. Da vorne ist das Bad. Mein Schlafzimmer ist eins weiter.“

Dann gehen sie alle zusammen in die Küche und setzen sich an den mit einer Wachsdecke bezogenen Küchentisch. Auf einem alten Gasherd wärmt Frau Singerl Hühnersuppe mit Reis und Gemüse auf. „Es ist nicht viel, ich hab ja nicht gewusst, dass Gäste kommen“, entschuldigt sich Frau Singerl, und Lila versichert, dass es natürlich völlig ausreiche und sie froh seien, überhaupt etwas zu Essen zu haben und wie nett das von ihr sei.

Maja bekommt kaum etwas herunter, sie fühlt sich wie verbannt aus ihrer Welt, dieses Haus engt sie ein. Aber immerhin sind sie hier sicher, und ihre Angst lässt langsam wieder nach. Hier wird niemand sie finden, Robert Barsch nicht und seine Freunde auch nicht. Ganz bestimmt.

Missbilligend blickt Frau Singerl auf Majas und Elias´ noch fast volle Teller. Elias ist gerade dabei, sämtliche Gemüsestücke aus der Suppe auszusortieren, es sieht aus, als wären Karotten und Sellerie auf dem Tellerrand gestrandet. „Na, das gab´s bei uns aber nicht“, brummt Frau Singerl.

Lila lächelt verlegen und zischt Elias zu: „Das wird mitgegessen!“

„Alles?“

„Alles!“

Mürrisch und in Zeitlupe macht er sich ans Werk. Auch Maja zwingt sich, ihren Teller leer zu essen. Sie muss dreimal versichern, wie lecker die Suppe ist, bevor Frau Singerl wieder besänftigt wirkt. Schließlich sagt Lila, dass sie noch etwas zu besprechen hätten, und sie verziehen sich in das ehemalige Kinderzimmer. Es ist eine Erleichterung, die Tür hinter sich zumachen zu können. Endlich sind sie unter sich. Elias setzt sich aufs Bett, Maja lässt sich neben ihm nieder und Lila zieht sich den Schreibtischstuhl heran.

„Wie lange müssen wir hierbleiben?“, fragt Elias leise und drückt seinen Kuscheldrachen an sich.

„Ich weiß noch nicht.“ Lilas Stimme klingt angespannt. „Hoffentlich nicht sehr lange.“

„Kann er uns hier finden? Dieser Mann?“

„Das schafft er nicht“, versichert ihm Maja. „Aber jetzt müssen wir uns entscheiden, ob wir das mit den neuen Pässen machen, weißt du.“ Schon beim Gedanken daran krampft sich ihr Magen zusammen. Müssen sie wirklich ihr ganzes Leben zurücklassen, alles? Wieso eigentlich werden sie so furchtbar bestraft, obwohl sie nichts getan haben? Wieso sie, und nicht derjenige, der ihnen das antut? Sobald der Arsch aus dem Knast entlassen ist, kann er es sich wieder in seinem Leben gemütlich machen! Und wenn er eine neue Freundin findet, geht das Spiel von vorne los und jemand anders muss durch die Hölle gehen.

„Also ich fände es cool“, sagt Elias plötzlich und Maja starrt ihn verblüfft an. Cool? Äh, was genau? Alle Verwandten zurückzulassen und alle Freunde? Nie wieder ihre Gesichter zu sehen oder ihre Stimmen zu hören? Aber Moment, er hat ja sowieso keine Freunde.

Elias ist noch nicht fertig, er fragt: „Darf man sich den neuen Namen selbst aussuchen?“

„Ich weiß nicht“, erwidert Lila. „Wieso? Wie würdest du dich denn nennen?“

„Finn“, sagt Elias, ohne einen Moment zu zögern.

Wieso gerade Finn?, wundert sich Maja, doch sie fühlt sich zu aufgewühlt, um lange darüber nachzudenken. „Also ich kann mir das nicht vorstellen, sorry! Dass ich wegen dieser ganzen Sache Lorenzo verlassen soll!“ Sie versucht, halbwegs ruhig zu klingen, Maja Köttnitz, die Vernünftige, so kennen sie alle. Doch so fühlt sie sich jetzt überhaupt nicht. Am liebsten würde sie rausstürmen und zu Fuß durch die ganze Stadt laufen, meinetwegen sogar durch einen Schneesturm, um zu Lorenzo zu gelangen.

Ihre Mutter steht auf, geht unruhig umher. „Immerhin wäre es nicht allzu schlimm, unsere Verwandten nicht mehr zu sehen. Man muss es einfach mal laut aussprechen: Seit Oma gestorben ist, interessiert sich Opa Friedrich deutlich weniger für seine Enkel und mehr für seine Modelleisenbahn und dafür, mit seinen Kumpels ein Bierchen trinken zu gehen.“

„Bleibt nur Ralph.“ Maja denkt eher laut, sie horcht in sich hinein und versucht auszuloten, wie sie ihm gegenüber fühlt. Ihr Vater Ralph hat sich schon vor einer Ewigkeit von Lila getrennt, Maja hat keine Erinnerung mehr daran, sie war noch zu klein. Inzwischen hat Ralph in der Nähe von Hannover eine neue Familie mit zwei Kindern, die eigentlich Majas Halbgeschwister sind, sich aber nicht sonderlich für Maja zu interessieren scheinen. Sie haben kaum noch Kontakt, höchstens eine Weihnachtskarte kommt mal, auf der alle vier Familienmitglieder strahlend mit albernen rot-weißen Mützen posieren. Zum Kotzen.

Maja merkt, dass Lila sie beobachtet. Und weil es Zeit ist, vollkommen ehrlich Bilanz zu ziehen, sagt sie hart: „Ralph wird uns eigentlich nicht vermissen.“

Lila wirft ihr einen mitfühlenden Blick zu, widerspricht aber nicht. Und Elias´ Vater ist auch kein Thema, er stammt aus Norwegen und hat in einer Bank in Frankfurt gearbeitet. Lila war sehr verliebt in ihn, aber nach Ablauf seines Vertrages ist er in seine Heimat zurückgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt war Lila schon schwanger, wusste es aber noch nicht. Für ihn hätte es so oder so keinen Unterschied gemacht. Er zahlt keinen Unterhalt und schreibt auch nicht mehr. Elias hat sich zwar schon im Kindergartenalter vorgenommen, Norwegisch zu lernen, aber über „God dag“ – Guten Tag – und ähnliche Floskeln hinaus hat er es noch nicht gebracht.

„Wäre schon ein sehr mieses Gefühl, wenn ich Leonie, Mara und Simone nie wiedersehen könnte“, meint Lila. „Aber ich würde es überleben.“

Maja sieht, dass in ihren Augen Tränen schimmern. In Offenbach hat Lila kaum jemanden kennengelernt, doch den Kontakt zu ihrer „Mädels-Clique“ in Marburg hatte sie weiter gepflegt. Diese „Mädels“, vor allem ihre Sandkastenfreundin Leonie, die ziemlich schräge Boutiquenbesitzerin Mara und ihre ehemalige Kollegin Simone haben sie in der schlimmen Zeit so gut es ging unterstützt. Ob sie erraten werden, was geschehen ist, wenn sie gar nichts mehr von Lila hören? Oder werden sie einfach nur denken, sie sei eine schlechte Freundin?

Maja hält noch immer ihr ausgeschaltetes Handy fest, sie denkt an all die Nummern und Adressen, die darauf gespeichert sind. Wie es wohl wäre, all diese Nummern und Adressen zu löschen? Allein der Gedanke daran ist scheußlich.

Britta. Koray. Patrick. Jana. Martina. Cheyenne. Wie viel würde es ihr ausmachen, sie alle nie wiederzusehen? Viel. Aber sie kennt sie erst seit drei Jahren. Zur Abwechslung ist Maja froh, dass sie in Offenbach keine beste Freundin gefunden hat.

Nur der Gedanke daran, dass sie Lorenzo aufgeben soll, reißt ihr das Herz in Fetzen. Der Brief, den sie ihm geschrieben hat, brennt noch in ihrer Tasche, sie hat noch keinen Briefkasten gefunden, in den sie das Ding heimlich schmuggeln könnte. Wahrscheinlich macht Lorenzo sich jetzt gerade furchtbare Sorgen, wo sie abgeblieben ist. Schon jetzt sehnt sie sich so stark nach ihm, dass es fast wehtut. Wenn sie ihn wiedersieht, wird sie jede seiner Sommersprossen einzeln küssen.

Noch immer geht Lila im kleinen Zimmer hin und her, sie tastet nach ihren Kippen, lässt sie dann aber doch stecken. Besser so. Wahrscheinlich fliegen sie alle drei mitsamt Gepäck hochkant raus, wenn Lila hier drinnen qualmt.

„Es wäre heftig, noch mal ganz neu anzufangen – aber ich weiß wirklich nicht mehr, was wir anderes tun sollen“, sagt Lila. Sie streift Elias mit einem Blick und sagt dann: „Elias, ich habe wirklich furchtbaren Durst, könntest du mir aus dem Bad einen Schluck Wasser holen? Becher stehen da.“

Elias nickt und tappt auf Socken aus dem Zimmer. Grimmig blickt Maja ihre Mutter an – was genau darf Elias nicht hören?

Etwas leiser fährt Lila fort: „Robert will uns töten, das hat er uns oft genug angedroht. Wir sind in Lebensgefahr, das müssen wir uns einfach klarmachen. Ist dir das klar, Maja? Ich würde es nicht ertragen, wenn euch etwas passieren würde ...“

Auf einmal begreift Maja, was er Lila vor Gericht angedroht hat. Dass er ihre Kinder töten wird ... und ihre Kinder, das sind Elias und sie. Der Gedanke hat etwas Unwirkliches.

Schon ist Elias zurück und Lila bedankt sich lächelnd für das Wasser. Sie stürzt es herunter und sagt: „Wenn wir unsere Namen behalten, ist die Chance leider groß, dass er uns findet, auch wenn wir noch mal umziehen.“ Sie legt den Arm um Elias. „Ich weiß nicht, wie er es macht. Vielleicht per Computer, ihr wisst ja, das ist sein Spezialgebiet.“

„Wir könnten versuchen, ihn zu töten“, schlägt Elias vor, ohne eine Miene zu verziehen, und Maja und Lila bleibt der Mund offen stehen. Solche Sprüche hat Maja von ihrem Bruder noch nicht oft gehört, er ist eigentlich ein sanfter Typ – manchmal vielleicht zu sanft, um sich auf dem Schulhof zu behaupten.

„Besser nicht, Schatz“, versucht Lila zu scherzen. „Wir bekämen Ärger dadurch.“

Maja stellt sich vor, wie es Lorenzo gehen würde, wenn sie, seine Freundin, tot wäre. Blutüberströmt auf dem Boden, weil Robert Barsch sie mit einem Messer in der Hand vor der Schule abgefangen hat. Würde er neben ihr niederknien, ohne auf das Blut zu achten? Ihren Kopf in seinen Schoß betten? Weinen ganz sicher, Lorenzo weint auch schon bei traurigen Filmen, obwohl er sein Bestes tut, es zu verbergen.

„Was ist eigentlich mit der Schule?“, fragt Maja.

„Du gehst erstmal nicht mehr hin“, sagt Lila entschlossen. „Ich melde euch beide morgen krank.“

„Scheiße!“, rutscht es Maja heraus. „Morgen ist doch Probe.“ In zehn Tagen hat ihre Theateraufführung Premiere; Lorenzos Freund Cedric hat das Stück geschrieben und Maja hat eine wichtige Nebenrolle. Hatte, muss sich Maja korrigieren. Langsam wird ihr klar, dass es damit nichts werden wird. Und ihr Jugend-forscht-Projekt kann sie auch abschreiben, in ein paar Tagen sind die Schimmelkulturen alle außer Kontrolle und weiterarbeiten kann sie daran sowieso nicht mehr. Und eigentlich ist das alles auch gar nicht wichtig im Vergleich zu den Problemen, die sie gerade haben.

„Maja hat das Sch-Wort gesagt!“, meint Elias. „Bekommt sie jetzt eine gelbe Karte?“

„Nein“, sagt Lila müde. „Ich würde es auch gerne sagen, das Sch-Wort.“

Maja steht auf, geht zur Tür, lauscht. „Frau Singerl guckt Fernsehen. Ziemlich laut auch. Ich glaube, wir könnten es jetzt alle mal sagen, wenn wir Lust haben.“

Und dann brüllen sie alle zusammen „Scheiße!“, so laut sie können, und danach grinst Elias, Lila sieht nicht mehr so angespannt aus und Maja fühlt sich ein kleines bisschen besser.

Sie stützt den Kopf in die Hände. Was würde Lorenzo ihr raten? Klare Sache: Er würde sagen Geh!, so schwer es ihm auch fallen würde. Lorenzo liebt sie, und er würde nicht wollen, dass sie verletzt oder getötet wird. Oder dass ihrer Familie etwas passiert. Aber würde sie es überleben, von ihm getrennt zu sein? Maja ist nicht sicher.

Ihrer Mutter geht etwas ganz anderes durch den Kopf, wie es aussieht, denn plötzlich sagt sie: „Ich glaube, wenn wir noch mal neu anfangen müssen, dann will ich nicht mehr den gleichen Job machen wie bisher.“

„Wieso nicht?“ Maja ist verblüfft, bisher hat sie gedacht, dass ihre Mutter ihren Job mag. Zumindest hat sie sich nicht darüber beschwert, kein einziges Mal – aber sie ist auch nicht der Typ, der herumjammert. Vermutlich ist es nicht wahnsinnig spannend, bei einer Firma, die elektronische Bauteile herstellt, im Innendienst zu arbeiten, aber es hat sie ja niemand dazu gezwungen, oder? Oft genug hat Lila erzählt, dass es ihr in der Lehre Spaß gemacht hat, Fahrkartenautomaten auseinanderzunehmen und wieder zum Laufen zu bringen, sie mag Technik einfach.

„Aber was willst du denn dann arbeiten, Mama?“, fragt Elias, der ebenso erstaunt wirkt.

„Ich will schreiben. Autorin werden“, gibt Lila zurück. „Davon habe ich eigentlich immer geträumt, schon als Kind. Meine Eltern haben mir das dann ausgeredet. Vor ein paar Jahren habe ich schon mal einen Text an Verlage geschickt, da kamen leider nur jede Menge Ablehnungen. Aber ich glaube, inzwischen schreibe ich besser als damals ...“

Maja ist sprachlos. Autorin? Hä? Das ist doch eine brotlose Kunst. Poeten leben in Dachstuben, in die es reinregnet. Kann Lila das ernst meinen?

„Warum schaut ihr so?“ Lila beginnt in ihrem Koffer zu kramen, zieht ein Bündel Papier hervor. „Das sind Kurzgeschichten, außerdem habe ich einen fast fertigen Roman.“

Ja, natürlich hat Maja mitbekommen, dass ihre Mutter schreibt, aber das war doch nur ein Hobby! „Weiß Robert davon?“, fragt Maja und auch Elias richtet die Augen fragend auf die Mutter. Maja ärgert sich selbst darüber, dass sie so reagieren müssen. Robert Barsch ist zum Maßstab ihres Lebens geworden, er hat Macht über sie, ob sie wollen oder nicht.

„Nein“, sagt Lila knapp. „Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen, zum Glück. Bücher sind nicht so sein Ding, außer es sind Fachbücher über Wirtschaftsthemen oder so was. Gelesen hat er auch nie etwas von mir. Klar, er hat früher unsere Wohnung durchwühlt, aber ich bin mir sicher, dass er die Geschichten nicht gefunden hat, die waren für ihn bestimmt nur Altpapier.“

„Meinst du, wir können davon leben?“, fragt Maja müde. So viel Unsicherheit, so viele Zweifel. Dabei will sie doch einfach nur in Ruhe gelassen werden, sie alle wollen das.

Lila zögert, ergreift dann wieder das Wort. „Als Oma gestorben ist ... da haben wir was geerbt. Das heißt jetzt nicht, dass wir reich sind, aber es ist genug, dass ich mal eine Auszeit nehmen könnte. Ein halbes Jahr oder so was in der Richtung. Wenn es in der Zeit nicht klappt ... dann suche ich mir wieder einen normalen Job.“

Elias interessiert sich herzlich wenig dafür, er hat seinen Power Ranger aus dem Rucksack gefummelt und beginnt zu spielen.

Die Besprechung ist praktisch vorbei und sie haben nichts entschieden.

Eigentlich ist es für Elias längst Bettzeit, aber im Moment ist sowieso alles anders, er darf aufbleiben. Lila geht ins Bad, um zu duschen, das macht sie abends immer, besonders wenn es ihr nicht gut geht. Um sich abzulenken, schaut sich Maja die Bücher im Arbeitszimmer an, vielleicht findet sie dort irgendwas als Bettlektüre. Irgendwas komplett Harmloses, bloß kein Krimi oder Thriller, die erträgt sie nicht mehr – das Opfer des perfiden Serienkillers ist immer irgendwie Lila, und das Kind, das von skrupellosen Organhändlern entführt wird, Elias. Doch leider sehen sämtliche Bände staubtrocken aus. Ovid. Shakespeare. Lessing. Sophokles. Muss sie alles schon oft genug in der Schule lesen.

Im Kinderzimmer kämpfen, den Geräuschen nach zu urteilen, Superdrachen und Power Ranger gegen den fiesen Grunk, der die Welt beherrschen will. Superhelden erträgt Maja auch nicht mehr, seit das mit Robert Barsch angefangen hat. Es ist so unglaublich albern, dass irgendwelche Typen in bunten Kostümen die Menschen beschützen, die Welt retten und alles wieder in Ordnung bringen sollen. Als ihre Freunde zusammen in den neusten Spiderman gegangen sind, ist Maja daheim geblieben.

Plötzlich steht Elias neben ihr. „Maja?“, sagt er und zupft sie am Arm. „Sag mal, was würde eigentlich Jumpy machen, wenn wir wirklich wegziehen?“

„Jumpy?“, fragt Maja verdutzt, heute überrascht Elias sie ständig. „Aber die ist doch tot, Elias.“

„Weiß man doch nicht“, antwortet er geheimnisvoll. „Schließlich haben wir nur ihre Pfote gefunden, oder? Sie kann doch noch irgendwo leben, mit drei Pfoten halt. Natürlich humpelt sie dann, aber laufen könnte sie bestimmt noch.“

Majas Kehle wird eng, ihre Augen beginnen zu prickeln. „Ich glaube nicht, Eli. Aber vielleicht schon. Wer weiß? So, und jetzt gehst du langsam mal Zähne putzen, ja?“

Und aus irgendeinem Grund ist das der Moment, in dem ihre Entscheidung fällt. Wenn Lila und Elias dafür sind, unter anderem Namen irgendwo neu anzufangen, dann wird sie sich nicht mehr dagegen sperren.

Zehn Uhr abends. Elias ist im Bett, und Lila hat sich ebenfalls völlig erschöpft hingelegt, aber unten läuft noch der Fernseher. Maja schleicht sich die Treppe hinunter und geht zur Garderobe, tastet mit klopfendem Herzen nach dem Brief, der in der Innentasche ihrer Jacke steckt. Als plötzlich jemand in den Flur kommt, zuckt sie wie ertappt zusammen. Reiner Reflex. Hoffentlich denkt Frau Singerl jetzt nicht, dass sie ihr das Portemonnaie klauen wollte!

„Na, noch nicht müde?“ Zum Glück klingt Frau Singerl freundlich. Immerhin, sie scheint nicht zu falschen Verdächtigungen zu neigen, und mit etwas Glück hat sie von ihrem Gruppenschrei im oberen Stockwerk auch nichts mitbekommen.

„Ich ... dachte, ich schicke noch schnell einen Brief ab“, stammelt Maja. „Können Sie mir sagen, wo hier in der Nähe ein Briefkasten ist?“

„Gleich um die Ecke, einfach nach links gehen, wenn du aus dem Haus raus bist“, sagt Frau Singerl. „Musst nicht klingeln, wenn du wieder reinwillst, sonst weckst du ja das ganze Haus. Einfach kurz an die Tür klopfen.“

„Danke“, sagt Maja aus ganzem Herzen. Rasch schlüpft sie in ihre Jacke und windet sich ihren Schal halb ums Gesicht, damit sie nicht erkannt wird. Es ist ein Risiko, überhaupt nach draußen zu gehen. Aber in diesem Teil von Offenbach sind die Straßen nachts sowieso leer wie nach einem Atomkrieg.

Die Nachtluft ist kalt und klar. Majas Atem hüllt sie in einen dünnen Nebel. Sie findet den Briefkasten auf Anhieb, und als sie den Brief eingeworfen hat, fühlt sie sich einen Moment lang wie befreit. Endlich kann sie Lorenzo Bescheid geben. Schon ärgert sie sich, dass sie ihm keinen längeren Brief geschrieben hat, dazu wäre doch jetzt Zeit gewesen. Doch dann fällt ihr die Warnung der Polizeibeamtin ein. Denken Sie daran – zu keinem ein Wort.

Maja beißt die Zähne zusammen, dreht sich um und geht durch die dunklen Straßen zurück zum Haus von Frau Singerl.

Und keiner wird dich kennen

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