Читать книгу Und keiner wird dich kennen - Катя Брандис - Страница 5
Flucht
ОглавлениеZur Schule zu gehen, kommt nicht mehr in frage, zu riskant. Eine halbe Stunde später sitzen sie alle drei bei der Polizei, vor ihnen eine Beauftragte für Familie und Kinder. Lila schreit beinahe. „Wie konnte denn das passieren? Wie kann dieser Mistkerl überhaupt an ein Telefon herankommen, wenn er in Haft ist?“
Die dunkelhaarige Polizeibeamtin, die Koretzki heißt oder so ähnlich, verzieht das Gesicht. „Natürlich darf er im Gefängnis normalerweise nicht telefonieren, das versteht sich von selbst. Aber wenn die wirklich entschlossen sind, schaffen sie es doch irgendwie, sich ein illegales Handy zu besorgen. Oder Drogen, oder sonstwas. Aha, ich sehe in den Unterlagen, dass die Gefängnisverwaltung mehrere seiner Briefe an Sie gar nicht erst an Sie zugestellt hat, weil sie Drohungen enthielten.“
Um Maja dreht sich alles, sie kann kaum klar denken. In ihrem Gehirn läuft eine Endlosschleife. Ihr dachtet, ihr seid mich los, was? Wieso hat sie den Hörer überhaupt abgenommen? Das hat sie jahrelang nicht getan, wer etwas von ihr wollte, musste auf den Anrufbeantworter sprechen. Aber ich weiß, wo ihr seid. Wie hat er das nur herausgefunden? Und die Nummer?
Das Gespräch rauscht an ihr vorbei. „Was ist mit Sicherheitsverwahrung? Können Sie ihn nicht drinbehalten, wegen Rückfallgefahr oder so was? Diese Briefe zeigen doch klar und deutlich, dass er mit uns noch etwas vorhat!“ Lilas Stimme ist noch immer laut, viel zu laut.
„Ich fürchte, so etwas ist rechtlich leider nicht möglich. Wir werden ihn uns natürlich vorknöpfen und ihm klarmachen, dass wir ihn im Auge behalten.“
„Gefährderansprache, ja klar. Hat die Polizei in Marburg auch schon gemacht, aber besonders beeindruckt hat ihn das nicht! Er hat einfach weitergemacht! Dieser Mann meint es ernst, wenn er uns droht!“
„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Köttnitz. Ich weiß, das ist eine wirklich schwere Situation für Sie. Ich werde auf jeden Fall den Kollegen Bescheid geben, damit sie auf Streife besonders häufig an Ihrem Haus vorbeifahren.“
Lila hat den Arm um Elias gelegt, hält ihn ganz nah bei sich. Stumm und verstört hört er zu, am liebsten würde Maja ihm die Ohren zuhalten.
Mit einem schnellen, besorgten Blick prüft Lila, wie es ihm geht, dann atmet sie tief durch. „Danke.“ Maja erkennt den Ton in ihrer Stimme – ihre Mutter versucht gerade, ruhig und vernünftig zu klingen. „Aber ich glaube nicht, dass das reicht. Sie wissen natürlich nicht, was in Marburg schon alles passiert ist. Ist Ihnen klar, dass Herr Barsch wahrscheinlich nicht allein handelt?“
„Sind Sie sicher?“ Die Polizeibeamtin klingt skeptisch. „Stalking und häusliche Gewalt sind gewöhnlich...“
Maja spürt, wie ihre Mutter neben ihr tief Luft holt. „Anders ist nicht zu erklären, was wir erlebt haben. Auf uns ist geschossen worden, während Robert Barsch schon in Haft war. Das steht sicher auch in irgendeiner Akte, vielleicht können Sie mal nachschauen.“
„Zum Glück sind wir nicht getroffen worden“, meldet sich Elias schüchtern zu Wort. „Es hat nur ziemlich laut geknallt.“
„Du erinnerst dich noch daran?“ Die Polizeibeamtin ist erstaunt. „Obwohl das drei Jahre her ist? Wie alt bist du denn?“
„Sieben“, sagt Elias leise und schmiegt sich noch enger in Lilas Arm.
Auch Maja erinnert sich daran. Sie waren gerade von einem Besuch bei Majas Opa Friedrich in einem Vorort von Marburg zurückgekommen und zu ihrem Auto gegangen, als sie plötzlich ein lautes Knallen gehört hatten. Feuerwerk, hatte Maja gedacht ... und dann hatte sie das Loch in der Plakatwand neben sich gesehen. Lila war in einen Blumenladen gerannt, an dem sie gerade vorbeikommen waren, und hatte Elias mit sich gezerrt. Maja war hinterhergestolpert und hinter der Theke in Deckung gegangen, während die Besitzerin des Ladens noch völlig verwirrt das Einschussloch in ihrer Ladentür angestarrt hatte. Während die Spurensicherung am Werk war, hatte eine Streife Lila, Elias und Maja auf die Wache und später zurück zu ihrem Auto gebracht. Kurz darauf waren sie nach Offenbach gezogen – bloß weg!
„Möglicherweise hat er Verbindungen zur Mafia“, berichtet Lila. „Es gab da seltsame Telefonate und Treffen ... Robert hat darauf geachtet, dass ich nichts mithören kann und diesen Leute nicht begegne, aber einmal habe ich gesehen, wie er sich mit zwei Typen, die ziemlich brutal wirkten, vor dem Haus unterhalten hat ... vielleicht hat er diese Leute im Gefängnis kennengelernt? Er war ja schon mal ein paar Monate drin ...“
„Und man weiß gar nichts über diese Leute, die auf Sie geschossen haben? Das ist tatsächlich besorgniserregend.“ Die Polizeibeamtin macht sich Notizen und tippt etwas in den Computer. „Andererseits ist in den letzten drei Jahren nichts passiert, oder?“
Lila wirkt nicht, als fände sie das beruhigend. „Aber wenn er es jetzt geschafft hat, zu seinen Freunden Kontakt aufzunehmen ... das heißt doch, dass wir wieder auf irgendeiner Abschlussliste stehen! Und wenn Robert erst mal draußen ist, wird es noch viel schlimmer ... Es sind nur noch vier Tage, was sollen wir denn machen, verdammt? Wir haben doch schon alles getan!“
Ihr dachtet, ihr seid mich los, was? Ihr dachtet, ihr seid ...
„Maja?“ Jemand redet mit ihr. Mühsam reißt sich Maja zurück in die Wirklichkeit.
„Bist du ganz sicher, dass er wir gesagt hat bei diesem Anruf?“, fragt die Polizeibeamtin.
„Ja, ich bin ganz sicher“, sagt Maja fest.
Sag deiner Mutter, sie soll zu mir zurückkommen. Sonst killen wir euch! „Nach dem, was Sie mir bisher erzählt haben, ist es zumindest möglich, dass er Verbündete hat“, sagt die Polizeibeamtin nachdenklich. „Moment.“ Sie geht in ein anderes Zimmer, redet mit einem Kollegen, dann hört Maja, wie sie telefoniert.
Erschöpft sitzen sie alle drei in diesem Büro, in dem es nach alten Akten, Kaffee und Angst riecht. Elias hat die Ellenbogen auf die Knie gestützt und starrt auf seine geliebten Turnschuhe, in denen bei jeder Bewegung kleine LEDs aufblinken. Lila zieht ihn wieder in ihre Arme, gibt beruhigende Geräusche von sich, doch Maja sieht, dass ihre Augen weit aufgerissen sind. Sie ist völlig fertig, das ist klar. Und um Majas Nerven steht es nicht viel besser, sie fühlen sich an wie angesägte Drähte, die jeden Moment reißen können. Maja überlegt, ob sie Lorenzo anrufen kann, sie sehnt sich so sehr danach, ihm alles zu erzählen. Doch auf dem Weg zur Wache hat sie ihr Handy ausgeschaltet, es ist nicht mehr sicher, vielleicht hat Robert Barsch auch diese Nummer?
Auf irgendeinem Brief steht der Name der Beamtin. KHK Nina Koretzki. Kriminalhauptkommissarin. Maja kennt sich längst mit den Abkürzungen aus. Auf dem Schreibtisch stehen ein paar gerahmte Fotos, eines zeigt ein Pferd – einen Schimmel mit langer Mähne –, ein anderes KHK Koretzki beim Skilaufen mit einem dunkelhaarigen Mann und beim Felsenklettern, unternehmungslustig lächelt sie in die Kamera. Ob sie Kinder hat? Ob sie verstehen kann, wie das ist, wenn einen jemand bedroht und man sich nicht wehren kann?
Dann ist Nina Koretzki zurück, sie sieht noch ernster aus als zuvor. „Vielleicht können wir Ihnen etwas anbieten“, sagt sie. „Aber Sie müssen gründlich darüber nachdenken.“
„Okay“, sagt Lila mit rauer Stimme und legt den Arm um Elias. „Um was geht es?“
„Um einen Platz im Opferschutzprogramm. Das würde bedeuten, dass die ganze Familie eine neue Identität bekommt. Neue Papiere, neue Zeugnisse. Sie könnten an einem weit entfernten Ort neu anfangen.“
Im ersten Moment klingt das wunderbar. Neu anfangen, o ja, nach nichts sehnt sich Maja mehr. Nach einem Leben ohne diesen Hass, ohne diese Angst. Doch schon spricht die Kriminalhauptkommissarin weiter. „Aber das würde bedeuten, dass Sie sämtliche Brücken zu Ihrem alten Leben abbrechen müssten. Kein Kontakt mehr zu den bisherigen Freunden, zu Verwandten. Sie müssen Ihr altes Leben komplett zurücklassen, nur so ist gewährleistet, dass diese Leute Ihnen nicht wieder auf die Spur kommen.“
„Was soll das heißen?“, fragt Maja erschrocken. „Man darf seine Verwandten nie wieder sehen? Aber das ist doch...“
„Das ist ganz, ganz schwer, ich weiß“, sagt Nina Koretzki und kramt aus ihrem Schreibtisch ein Bonbon für Elias hervor.
Elias blickt das Bonbon an, als wüsste er nicht mal mehr, was das sein soll. „Willst du nichts Süßes?“, fragt die Beamtin und schaut drein, als wolle sie ihm am liebsten durch die Haare wuscheln – auf Erwachsene wirkt Elias manchmal so, während die anderen Kinder sich darüber lustig machen, dass er so zart, fast mädchenhaft gebaut ist.
Stumm schüttelt Elias den Kopf.
Nina Koretzki schenkt ihm noch einen mitleidigen Blick und wendet sich an Maja. „Es bedeutet, sich ein ganz neues Leben aufbauen, und keiner wird dich kennen dort, wo du hinziehst.“
Lorenzo. Maja hat eine Gänsehaut, plötzlich fällt es ihr schwer zu atmen. „Was ist mit ... jemandem, den man liebt?“
„Keine Ausnahmen“, sagt Nina Koretzki und begegnet ihrem Blick. „Und keine Abschiedsrituale. Wenn jemand wirklich in Lebensgefahr schwebt, dann darf niemand etwas davon wissen, dass und wann derjenige untertaucht.“
Maja ist noch immer nicht sicher, ob sie richtig verstanden hat. Heißt es, dass sie sich von Lorenzo trennen müsste? Dass sie sich nicht einmal von ihm verabschieden dürfte? Das kann doch nicht sein, oder?
Fahrig streicht Lila ihre dunklen Locken zurück. „Was ist mit meinem Beruf? Könnte ich den weiter ausüben? Wie sollte ich denn beweisen, dass ich überhaupt eine Ausbildung habe?“
„Die Abteilung, die mit Zeugen- und Opferschutz befasst ist, würde Ihnen natürlich neue Zeugnisse organisieren“, versichert die Polizeibeamtin. „Sie wären von einer anderen Firma ausgestellt, damit es keine Verbindung zu Ihrem alten Leben gibt.“
„Haben wir dann einen falschen Pass und so?“ Elias wirkt fasziniert.
„Nein, eure Pässe wären echt. In solchen Fällen wird einfach für den neuen Namen ein Pass bei den Behörden beantragt und ausgestellt.“
Doch Maja hörte kaum noch zu. Sich von Lorenzo zu trennen kommt überhaupt nicht in frage, niemals, das können die so dermaßen von vergessen! Der alte, ungeheure Hass auf Robert Barsch steigt wieder in ihr auf. Dieser Lebenskaputtmacher, dieses Riesenarschloch, sie würde so gerne quitt werden, ihm zur Abwechslung auch mal irgendetwas antun.
„Denken Sie darüber nach, ja?“, sagt Nina Koretzki. „Ich will Ihnen nichts vormachen, es wäre furchtbar schwer für Sie alle, aber ...“
„Es ist jetzt schon furchtbar schwer“, gibt Lila bitter zurück. „Was denken Sie denn? Dass es Spaß macht, sich wie ein gejagtes Tier zu fühlen?“
Darauf geht die Kriminalhauptkommissarin gar nicht erst ein. „Lassen Sie uns darüber nachdenken, was Sie als nächstes tun sollten, in Ordnung? Können Sie und die Kinder ein paar Wochen lang irgendwo anders unterkommen? Da jetzt offensichtlich bekannt ist, wo Sie wohnen...“
Lila atmet aus, knetet sich mit den Fingerspitzen die Stirn. „Ich ... ich weiß nicht ... wir ...“
Tröstend legt Nina Koretzki ihr die Hand auf den Arm. „Denken Sie ganz in Ruhe nach. Sie können auch mein Telefon benutzen. Ihr bisheriges Handy lassen Sie besser ausgeschaltet, besorgen Sie sich möglichst bald ein neues Prepaid – du auch, okay?“ Sie blickt Maja an und Maja nickt.
Die Polizeibeamtin gibt ihnen die Nummer des Weißen Rings, einer Opferschutzorganisation; die hätten einen Spezialisten für neue Identitäten und könnten vielleicht auch mit ganz praktischen Dingen wie dem Handy helfen. Dann geht sie für Lila und Maja einen Kaffee holen, vielleicht auch, damit sie in Ruhe nachdenken können.
Inzwischen hat Lila sich wieder etwas erholt, erleichtert sieht Maja, dass ihre Mutter entschlossener aussieht, nicht mehr so hin- und hergerissen ist zwischen lähmender Angst und Wut. Früher war sie oft so fertig, dass sie beim kleinsten Anlass in Tränen ausgebrochen ist und fast nichts mehr auf die Reihe bekommen hat. Ohne ihren Therapeuten Dr. Salzmann ging in dieser Zeit gar nichts mehr. Und Maja ging es nicht viel besser. Aber in den letzten drei Jahren haben wir Kraft gesammelt, denkt Maja. Drei Jahre normales Leben ... sind die jetzt vorbei, einfach so? Noch kann Maja es nicht begreifen, der Gedanke weigert sich, einzusinken.
„Lasst uns mal überlegen, wo wir unterkommen könnten“, sagt Lila und gibt Elias einen Kuss auf die Nasenspitze. Majas kleiner Bruder sieht so verloren aus wie ein Tier, das man ausgesetzt hat. Auch er scheint langsam zu begreifen, dass sich vieles ändern wird, so oder so.
„Wie wäre es mit einem Hotel?“, schlägt Maja vor. „Oder ist das zu teuer?“ Es ist ein seltsames Gefühl, dass sie noch nicht weiß, wo sie heute übernachten wird. Oder die Tage danach.
Lila verzieht das Gesicht. „Die Hotels in der Gegend wird er garantiert abtelefonieren. Besser wäre irgendein privates Ferienhaus oder ein Gästezimmer in einem Haus.“ Sie überlegen schweigend, dann wählt Lila von Frau Koretzkis Apparat aus eine Nummer. „Eine Kollegin von mir. Rosi. Teamassistentin“, sagt sie dabei, ohne aufzublicken. „Die hat mal angeboten, mir zu helfen. Sie hat selber schon Probleme mit einem Stalker gehabt, sie weiß, wie das ist. Hoffentlich ist sie noch nicht heimgefahren, ich hab nur ihre Büronummer.“
Das Wunder geschieht – diese Rosi ist nicht nur da, sondern ihre Mutter hat auch ein Haus am Stadtrand, in dem mehrere Zimmer leer stehen, seit ihr Mann gestorben ist und die Kinder aus dem Haus sind.
„Sie ruft gleich bei ihrer Mutter an und fragt, ob das in Ordnung geht“, sagt Lila und schweigend warten sie. Warten. Warten. Auch Elias sagt kein Wort.
Lila ruft noch einmal an. Besetzt. Die Zeit dehnt sich endlos, während sie in diesem fremden Büro sitzen, zu sagen gibt es nichts mehr. Maja lässt den Blick über Akten und Flyer wandern. Elias´ kleine, schwitzige Hand wandert zu ihrer, und sie halten sich aneinander fest. In der anderen Hand – ihr ausgeschaltetes Handy. Schon Viertel nach sechs. In weniger als einer Stunde ist sie mit Lorenzo verabredet, sie muss ihm doch Bescheid sagen, was los ist, dass sie wahrscheinlich nicht kommen kann ... soll sie darum bitten, dass sie ihn über dieses Büro-Telefon anrufen kann? Doch ihre Lippen scheinen aufeinander zu kleben.
Frau Koretzki kommt mit dem Kaffee zurück und hat sogar einen Kakao für Elias organisiert. Dankbar trinken sie, obwohl Maja der Kaffee unglaublich bitter vorkommt.
Die Finger der Beamtin klackern über die Tasten, sie schreibt schon mal ihren Bericht. Zehn Minuten später versucht Lila es wieder bei ihrer Arbeitskollegin. Während sie zuhört und nickt, beginnen ihre Augen seltsam zu schimmern. Maja ist alarmiert. Was ist denn jetzt los, warum weint sie? Klappt es doch nicht?
„Alles okay“, sagt Lila, als sie auflegt. „Es gibt doch noch nette Menschen.“
Maja wird klar, dass es Tränen der Erleichterung sind.
Ihre Mutter wendet sich an die Hauptkommissarin. „Aber was ist mit unseren Sachen?“
Nina Koretzki bittet zwei Kollegen, Lila, Maja und Elias noch einmal zu ihrer bisherigen Offenbacher Wohnung zu fahren, das Familienauto muss hier stehen bleiben, es ist ein roter Toyota, der ist in den nächsten Monaten viel zu auffällig. Leicht zu verfolgen. „Denken Sie daran – zu keinem ein Wort“, gibt ihnen die Polizeibeamtin noch mit. „Ihr Leben kann davon abhängen, dass Sie dichthalten.“
Und dann – daheim. Maja sprintet die vertrauten Treppenstufen hoch, ihr Herz hämmert. Schnell holen sie die Koffer aus der Abstellkammer, ihre Hände sind ungeschickt vor lauter Eile. Die Polizisten haben anderes zu tun, als auf sie zu warten, mehr als eine halbe Stunde Zeit ist nicht zum Packen.
„Nur ganz wichtige Sachen und ein bisschen Anziehkram“, schärft Lila Elias ein. Dann steht Maja in ihrem Zimmer, sieht sich hilflos um. Was ist wichtig, was nicht? Als Erstes natürlich ihr Laptop, auf dem ihre Daten und Fotos sind, der kommt in ihren Rucksack, sie schiebt noch den MP3-Player und ein paar Zeugnisse dazu, ihre Bankkarte und das Fotobuch, das sie und Lorenzo mit gemeinsamen Bildern gestaltet haben. Die Riesenmuschel, die sie von ihrem Vater bekommen hat, muss mit, und ihre Sammlung von Vogelfedern, die nimmt nicht viel Platz weg. Drei ihrer Lieblingsbücher, die wichtigsten. Ihr Schmuckkästchen aus Spanien mit schwarz-weißen Einlegearbeiten aus Holz, das hat ihr Lila aus dem Urlaub mitgebracht. Die edle Schreibfeder, die Lorenzo ihr mal geschenkt hat. Sie hat sich furchtbar mit Tinte bekleckert, als sie die ausprobiert hat. Was ist mit ihrer Gitarre? Muss wohl dableiben, die Transporttasche ist kaputt, und außerdem ist sie zu sperrig.Zwischendurch wirft Maja immer wieder Blicke aus dem Fenster, bemerkt eine Bewegung in der Dunkelheit – dort draußen ist jemand! Nur irgendein Nachbar, der mit seinem Hund spazieren geht? Robert Barsch? Nein, kann nicht sein, noch nicht, aber vielleicht einer seiner Komplizen? Instinktiv hält Maja sich vom Fenster fern, die Angst krallt sich in ihren Magen.
Was geschieht mit ihrem kleinen Zitronenbaum, den sie selbst gepflanzt hat und der jetzt auf dem Fensterbrett die Blätter ausbreitet? Wird wohl vertrocknen. Die Patchwork-Decke, die Oma ihr gemacht hat und auf der Majas Name steht? Muss hierbleiben, viel zu groß, hoffentlich wirft die keiner in die Altkleidersammlung. Es ist eine ihrer wenigen Erinnerungen an Oma Helene, die vor einem Jahr gestorben ist. Schon spürt Maja, wie Tränen in ihre Augen drängen. Alles verschwimmt vor ihren Augen, als sie den Kleiderschrank aufreißt, ihre Lieblingsjeans und ein paar andere Klamotten herauszerrt. Zahnbürste, Deo, Bürste.
Auch Elias weint, er hat einen kleinen Berg mit Spielzeug im Flur angehäuft, über den jetzt alle drüberstolpern. „Das ist zu viel, das können wir nicht mitnehmen“, wiederholt Lila immer wieder, während sie Pässe, Impfausweise und ihr Tagebuch in ihre lederne Umhängetasche stopft. Aber dann ist es doch Lila, die das meiste Gepäck hat, gerade verfrachtet sie mehrere Akten über den Prozessgegen Robert Barsch in einen Pappkarton.
Maja zwingt sich zur Geduld und hilft dem schniefenden Elias, seine Sachen in ganz wichtige und weniger wichtige zu sortieren – Lila ist dafür anscheinend zu nervös. Als Maja ihn ganz fest umarmt, beruhigt sich Elias nach und nach wieder. Gemeinsam bringen sie sein Zeug in einem der Koffer unter.
„Ich muss noch mal auf den Dachboden, wir nehmen noch die Reisetasche mit“, ruft Lila und hastet ins Treppenhaus.
Maja weiß, das ist ihre Chance. Hastig rennt sie in ihr Zimmer zurück, reißt ein Stück Papier aus dem Drucker, kritzelt ein paar Worte für Lorenzo darauf.
Liebster Lorenzo, wir müssen weg, es liegt nicht an dir. Ich liebe dich! Maja
Rein in den Umschlag und Briefmarke drauf, zum Glück hat sie noch ein paar da, obwohl sie selten Briefe schreibt. Gut, dass es eine dieser selbstklebenden ist, Majas Mund ist so trocken, dass sie nicht geschafft hätte, eine Marke anzulecken. Jetzt muss sie den Brief nur noch einwerfen, erst mal bleibt er in ihrer Jackentasche.
Höchste Zeit zu gehen. Hier zu sein, fühlt sich an, wie in der Mitte einer Zielscheibe zu sitzen. Was ist, wenn jemand in der Nähe lauert, wenn er dem Polizeiauto folgt und so auf ihrer Spur bleibt? War es ein Fehler, überhaupt noch einmal herzukommen?
„Mein Vulkan!“, schluchzt Elias. Er reißt sich von Lilas Hand los und rennt zurück in sein Zimmer, der vollgepackte Schulranzen rumpelt auf seinem Rücken. Aber der Vulkan ist zu groß, sie können ihn kaum tragen, und bepackt mit Koffern schon gar nicht.
„Wir basteln dir einen neuen“, verspricht Lila hastig und zerrt Elias praktisch die Treppe hinunter. Sie wirft noch schnell den Hausschlüssel und eine kurze Notiz, dass sie unerwartet wegmüssen, bei den Nachbarn ein. Dann hasten sie zum Polizeiauto, das mit abgeblendetem Licht in der Feuerwehrzufahrt wartet. Zum Glück passen ihre Sachen gerade so in den Kofferraum, dann drängen Lila, Maja und Elias sich auf den Rücksitz. Elias mit seinem Plüschdrachen in der Mitte, Maja schmerzhaft gegen die Seitentür gedrückt, den schweren Rucksack auf dem Schoß. Es ist keine Zeit für einen letzten Blick. Schon fährt der Streifenwagen los, bringt sie fort. „Bitte erst mal zu einer Bank, Geld abheben“, bittet Lila.
Ab jetzt sind sie auf der Flucht.