Читать книгу Feuerblüte III - Катя Брандис - Страница 4
Ärger im Roten Bezirk
ОглавлениеAls Jorak aus dem Geflügelten Dhatla trat, merkte er, dass ein Krug Polliak weniger besser gewesen wäre. Als er den Kopf drehte, um sich von Kerrik zu verabschieden, wurde ihm dabei beinahe schwindelig.
Auch Kerrik sah aus, als sei ihm schwindelig – aber das lag wohl eher daran, dass Jorak ihm in der Schänke erzählt hatte, was er und Alena in Rhiannon, dem Reich der Wolkentrinker, erlebt hatte. „Nicht zu fassen“, sagte Kerrik schon zum fünften Mal an diesem Abend. „Ich meine, ich gönne es dir natürlich, aber beim Erdgeist, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen!“
„An deiner Stelle wäre ich heilfroh darüber, dass du nicht dabei warst“, sagte Jorak. Er blickte zum dunklen Himmel hoch und sah am Stand der Sterne, dass der dritte Mond bald aufgehen würde. „Ich muss los. Grüß Lilas von mir und pass auf dich auf im Dschungel!“
„Mach ich.“ Kerrik schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter, was durch seine Kraft eine etwas schmerzhafte Angelegenheit war, und bog in den Weg zum Grünen Bezirk ein. Die meisten Menschen der Erd-Gilde wohnten dort.
Mit einem warmen Gefühl im Inneren blickte Jorak ihm nach. Die Verlegenheit zwischen ihnen war weg, sie hatten miteinander reden können wie früher. Sieht so aus, als wäre unsere Freundschaft auf einem guten Weg, dachte er. Ich könnte mir sogar vorstellen, wieder Expeditionen mit ihm zusammen zu führen. Immerhin ist die Sache mit Alena jetzt geklärt, sie hat sich entschieden, wen von uns beiden sie wirklich will.
Er schulterte sein Reisegepäck und machte sich auf den Weg zu seinem Quartier. Vorsichtig bewegte er sich am Stadtrand entlang und kaute dabei auf einem Stück Brot, das er aus dem Gasthaus mitgenommen hatte. Hier in der Nähe war der Schwarze Bezirk, in dem die anderen Gildenlosen lebten. Prompt heftete sich einer von ihnen auf seine Fersen – so, als hätte der Kerl das Essen gerochen.
Jorak kannte ihn. Fenk war ein Schläger, der ihm früher oft die wenige Nahrung abgejagt hatten, die Jorak irgendwo zusammengekratzt oder gestohlen hatte. Unter den Gildenlosen galt das Recht des Stärkeren, jeder war sich selbst der Nächste und kämpfte mit Zähnen und Klauen darum, am Leben zu bleiben. Doch in den letzten Wintern hatte Jorak gelernt, mit seinem Dolch umzugehen, und Kerle wie Fenk wussten inzwischen, dass sie ihn besser in Ruhe ließen. Warum kam er diesmal so dreist näher?
Bloß keine Schwäche zeigen, dachte Jorak und drehte sich um. „Na, Fenk, knurrt dir der Magen schon so laut, dass du dich mit mir anlegen willst?“, sagte er, grinste dabei und setzte den gemeinsten Blick auf, den er schaffte.
„Hab gehört, du hattest ´ne Audienz bei der Regentin“, knurrte Fenk und kam noch näher. Seit Jorak ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien es ihm nicht gut ergangen zu sein. Unter seinem dünnen Hemd konnte man die hervorstehenden Rippen sehen, und sein Gesicht, auf dem ein struppiger Bart wucherte, wirkte hager und eingefallen. In seinen Augen war ein fiebriger Glanz, der Jorak beunruhigte.
„Geht dich nichts an, Fenk.“ Jorak achtete darauf, dem anderen keinen Moment lang den Rücken zuzudrehen.
„Hast bestimmt viel mitbekommen, was? Gold, Juwelen, Wegzehrung frisch aus den Speisekammern?“ Fenk leckte sich die Lippen.
Jorak spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. „Gar nichts habe ich bekommen. Nur den neuen Umhang. Wahrscheinlich, weil sie vergessen haben, ihn zurückzufordern.“
Er merkte, dass Fenk nicht zuhörte. Das verstand Jorak gut. Wenn man Hunger hatte, echten Hunger, der schmerzhaft in den Eingeweiden wühlte, der die Kraft aus dem Körper stahl, dann genügte der Gedanke an etwas zu Essen, um einen schier um den Verstand zu bringen. Besser, ich mache mich aus dem Staub, und zwar schnell, dachte Jorak. Bevor Fenk auf die Idee kommt, mich anzuspringen und niederzuschlagen. Jorak hatte keine Lust, sich auf einen Kampf einzulassen. Der Lärm würde weitere Gildenlose heranlocken, die sich womöglich auf Fenks Seite schlugen.
Zum Glück war ein verlassenes Haus in der Nähe, das Jorak kannte – dank einer seiner Gewohnheiten. Er hatte einmal beschlossen, jeden Tag irgendetwas zu tun, was er nie zuvor getan hatte. So hielt er seinen Geist beweglich. Das Haus zu erkunden, war eines dieser Dinge gewesen.
Jorak riss die Tür auf, hechtete ins Innere und warf von innen den Riegel vor, der zwar rostig war, aber noch funktionierte. Brüllend wie ein verwundetes Dhatla warf Fenk sich auf die morsche Tür und machte sich daran, sie zu demolieren. Das störte Jorak nicht weiter. Zwei Atemzüge später war er aus der Hintertür geschlüpft.
Der Appetit war ihm allerdings vergangen. Er schenkte den Rest des Brotes einem mageren, verschüchterten Mädchen, das an einer Straßenecke bettelte. Auch sie war gildenlos, eine Ausgestoßene. Wenn sie ihren Körper jetzt noch nicht anbot, würde sie es vermutlich bald tun.
Nach der Sache mit Fenk ahnte Jorak, dass er den Schwarzen Bezirk in nächster Zeit besser mied. Vielleicht musste er sogar ganz aus Ekaterin verschwinden. Es würde sich in Windeseile herumsprechen, dass er jetzt „reich“ war – ein halbes Dutzend Banden würde versuchen ihn zur Strecke zu bringen. Ein Gildenloser stand nicht unter dem Schutz des Gesetzes, er war eine leichte Beute.
Jorak überlegte kurz, ob er es riskieren konnte, statt durch den Schwarzen Bezirk quer durch den Roten zu gehen. Gildenlose wie er durften sich dort nicht aufhalten. Aber die Straßen von Ekaterin waren um diese Zeit fast leer, und gerade erst war eine Patrouille der Stadtwache vorbeigekommen. Bis die hier wieder nach dem Rechten schaute, würde es noch dauern. Was soll´s, dachte Jorak und tauchte wieder in die Gassen des Vergnügungsviertels ein. Natürlich waren ihm auch die Schänken hier verboten, aber die Wirtin des Geflügelten Dhatla, in dem er mit Kerrik gewesen war, kannte ihn und riskierte es, ihn hier ab und zu einen Krug trinken zu lassen. Eine ihrer Schwestern war selbst gildenlos – ausgestoßen worden, weil sie Amulette gefälscht hatte, um einen höheren Meistergrad vorzutäuschen.
Die kühle Nachtluft klärte Joraks Kopf. Wie immer ging er schnell und verzichtete auf eine eigene Fackel. Seine Gedanken schweiften zu Alena und er kostete die Vorfreude aus, dass sie bald in Ekaterin sein würde. Unglaublich, ein paar Tage konnten einem erscheinen wie ein langer, eisiger Winter – nur weil man ohne den Menschen auskommen musste, den man liebte ...
Eine Straße weiter rief jemand etwas, ein Mann lachte. Jorak schreckte aus seinen glückgetränkten Gedanken auf. Da kamen Leute – und er hatte es viel zu spät gemerkt! Wieso war er nicht auf der Hut gewesen, besonders nach dem Zwischenfall vorhin?
Er schätzte, dass es vier oder fünf Männer waren. Ihrer Sprechweise nach Feuer-Gilde und ihrem Lärm nach ziemlich berauscht. Zum Glück verzweigte sich die Gasse hier. Schnell bog Jorak ab, um die Gruppe zu meiden. Doch als er sah, wer am anderen Ende gerade aus einem Haus kam, drehte er sofort wieder um. Ach du große Wolkenschnecke, eine zweite Patrouille. Jetzt saß er in der Falle.
Jorak entschied sich, es lieber mit den Feuerleuten zu riskieren. Er zwang sich zu gleichmäßigen, ruhigen Schritten und schlug den Kragen seiner Tunika hoch, damit man nicht so leicht sah, dass er kein Gildenamulett trug. Die vier Kerle waren jetzt nur noch fünf Menschenlängen entfernt und kamen schnell näher. Es waren kräftige Burschen, zwar nicht größer als er, aber breitschultriger und muskulöser. Alle vier trugen Schwerter.
Jorak ließ seinen Blick gleichgültig an den Männern vorbeistreifen, als sie ihn passierten, und versuchte keinerlei Unsicherheit zu zeigen. Das war seiner Erfahrung nach das beste Rezept, Ärger zu vermeiden. Doch diesmal nutzte es nichts.
„He, du da!“, grölte einer der Männer und trat ihm in den Weg.
Jorak schlug einen leichten Ton an. „Falls ihr mich ausrauben wollt, sucht euch lieber jemand anders – ich hab meine letzten Münzen gerade im Geflügelten Dhatla gelassen.“
Zwei der Männer lachten, der dritte sagte: „Ach wo, wir wollen nur wissen, wie wir von hier aus zum Gildenhaus kommen, tanu, Gildenbruder ... du bist doch einer von uns, oder?“
Einen Moment lang entspannte sich Jorak. Er wusste, dass er mit seinen dunkelbraunen Haaren und dunklen Augen wie ein Mensch der Feuer-Gilde aussah, und im schwachen Licht der Gasse erst recht. Vielleicht würde er doch noch davonkommen. Nur wäre es besser gewesen, wenn er seinen Calonium-Armreif abgelegt hätte, hoffentlich verriet ihn das Ding nicht. „Da müsst ihr die Straße hoch, dann links und anschließend bei der kleinen Statue rechts ...“
„Klingenbruch, der trägt ja gar kein Amulett – dafür spür ich irgendein komisches Metall an ihm!“, mischte sich einer der Männer ein und packte Jorak an der Vorderseite der Tunika. „He, Leute, das ist ein Gildenloser, mitten im Roten Bezirk!“
Jorak reagierte sofort. Flink wie ein Iltismensch riss er sich los, glitt zwischen den Männern hindurch und rannte die Gasse hinunter. Er war vielleicht nicht so stark wie sie, aber dafür viel schneller. Und während sie anscheinend nur auf der Durchreise waren, kannte er jeden Fußbreit dieser Stadt.
Er hörte, dass die Feuerleute ihn verfolgten, doch sein Vorsprung wurde immer größer. Bis er zum dritten Mal in dieser Nacht Pech hatte. Aufmerksam gemacht von dem Lärm kamen ihm zwei Männer der Luft-Gilde, wahrscheinlich Händler, entgegen. Viele Händler, die in Ekaterin lebten, kannten und mochten Jorak, aber diese beiden waren Fremde. Und als sie ihn fliehen sahen, versperrten sie ihm den Weg und kamen drohend auf ihn zu.
Jorak stoppte ab, sah sich um. Kein Ausweg in Sicht. Jetzt blieben ihm nur noch die Formeln. Natürlich durfte ein Gildenloser sie nicht benutzen, aber daran hatte er sich nie gehalten. Er konzentrierte sich und murmelte die Formel, die Feuer aus der Luft rief. Eine Flamme loderte zwischen ihm und den beiden Neuankömmlingen auf und ließ sie erschrocken zurückweichen.
Doch die Flamme war längst nicht so groß, wie er geplant hatte. Und als er versuchte, die Formel für die drei Tornados hinzukriegen, spürte er, dass auch das nicht klappen würde. Verdammt, ich habe zu viel getrunken, dachte Jorak verzweifelt. Außerdem fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder musste er daran denken, was passieren würde, wenn sie ihn zu fassen bekamen. Dann konnten sie ihn nicht nur straffrei verprügeln, sondern sogar töten, und die Stadtwache würde gar nicht daran denken, einzugreifen. Was für eine Ironie – hatte er die furchtbare Außengrenze Dareshs und den brutalen Stadtstaat Rhiannon überlebt, nur um hier auf seinem Heimatterrain erledigt zu werden?
Konzentrier dich, Jo, dachte er und schloss die Augen, um seine Kräfte zu sammeln. Wenn dieser letzte Versuch nicht klappte, musste er seinen Dolch ziehen und kämpfen.
„Moment mal“, sagte jemand laut. Eine klare, weibliche Stimme. Jorak erkannte sie sofort und sein Herz setzte einen Schlag aus. Alena!
Er riss die Augen wieder auf und sah, dass sich hinter den beiden Männern der Luft-Gilde die schlanke Gestalt eines Mädchens gegen den Hintergrund des Fackelscheins abzeichnete. Alena zog ihr Schwert und ging in Kampfpose, alles in einer einzigen geschmeidigen Bewegung. Das Licht glänzte auf der Klinge, auf dem grünen Edelstein im Griff ihrer Waffe.
„Ihr hattet doch nicht etwa vor, meinem Freund zu schaden?“ Die kalte Wut in Alenas Stimme ließ die beiden Händler zurückweichen. Sie verzichteten auf eine Antwort und verdrückten sich in eine Seitengasse. Doch gleich darauf echote der Lärm von rennenden Füßen, von aufgeregten Stimmen in der Gasse – die vier Feuerleute waren eingetroffen! Sie starrten Alena verblüfft an, dann rissen auch sie ihre Waffen heraus.
Besser, ich gehe aus dem Weg, dachte Jorak und zog sich in den Eingang eines kleinen Lagerhauses zurück. Keinen Moment zu früh, schon klang ihm das Geräusch von Stahl, der auf Stahl trifft, in den Ohren.
Es war ein ungleicher Kampf. Alena kämpfte leichtfüßig, mit kühler Präzision, während die vier Männer plump und langsam versuchten ihrer Klinge auszuweichen und dabei selbst irgendwie anzugreifen. Als ihnen klar wurde, mit was für einer Gegnerin sie es zu tun hatten, war es fast zu spät. Nach zehn mal zehn Atemzügen machten sich die Männer taumelnd und fluchend in Richtung der Gasthäuser davon. Jorak musste grinsen. Wetten, dass die Kerle nie jemandem von dem kleinen Zwischenfall erzählen würden? Wahrscheinlich hätte ihnen sowieso niemand geglaubt, dass sie zu viert nicht gegen ein siebzehnjähriges Mädchen angekommen waren. Aber auch er selbst hatte wenig Lust, jemandem von der Sache zu erzählen. Dass er sich von seiner Freundin retten lassen musste, war schon ein wenig peinlich.
Alena steckte das Smaragdschwert weg und kam besorgt auf ihn zu. „Alles klar mit dir?“
Jorak nickte, obwohl ihm noch immer die Knie zitterten. „Die Zeit in Rhiannon hat mich wohl unvorsichtig gemacht. So knapp ist es schon lange nicht mehr gewesen. Was machst du eigentlich hier? Du wolltest doch erst in ein paar Tagen nachkommen?“
„Bedank dich bei meinem Vater“, meinte Alena. „Der hatte irgendwie eine Vorahnung und hat mir geraten früher abzureisen. Erst habe ich drüber gelacht, dann hab ich´s doch getan.“
Sie nahmen sich in die Arme, küssten sich. Es war ein unglaubliches Gefühl, Alena wieder bei sich zu haben, und Jorak genoss jeden Atemzug. Doch viel Zeit hatten sie dafür nicht. „Besser, wir verziehen uns“, sagte er. „Bevor die Stadtwache doch noch auf die Idee kommt nachzuschauen, was hier los ist.“
***
Ohne sich abzusprechen, schlugen sie eine ganz bestimmte Richtung ein. Hier in Ekaterin hatten sie ein Versteck, das ganz ihnen gehörte und das für sie beide ein magischer Ort war. Alena wusste, dass sich der Haupteingang hier in der Nähe befand, aber um ihn zu erreichen, mussten sie ein stückweit in den Schwarzen Bezirk hinein, die Gegend der Gildenlosen. Alena schauderte, als ihr der Gestank nach menschlichen Ausscheidungen und verrottenden Dingen entgegenschlug. Im schwachen Licht konnte sie die ersten Hütten und selbst gegrabenen Erdhöhlen erkennen. Kein Wunder, dass Jorak das Risiko einging, immer irgendwo anders in der Stadt unterzuschlüpfen.
„Wo hast du eigentlich Cchraskar gelassen?“, fragte Jorak jetzt leise.
„Ach, der jagt sich gerade sein Abendessen. Ich schätze, er wird bald wieder auftauchen.“
Sie fanden die richtige Erdhöhle und krochen hinein. Alena war unruhig. Würde alles noch so sein wie letzten Winter oder hatte jemand das Versteck entdeckt? Vielleicht hatte sich irgendein anderer Gildenloser im Vorraum eingenistet, sodass sie nicht durch die geheime Tür in Keldos ehemalige Gemächer kamen?
„Keine Sorge“, flüsterte Jorak, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Gleich nachdem ihr aus Ekaterin weg wart, habe ich eine Familie von Iltismenschen gebeten, hier einzuziehen. Seither hat sich niemand mehr hergetraut.“
Alenas Gedanken wanderten zu Keldo. Der reiche Händler war, wie sich erst nach seinem Tod herausgestellt hatte, ihr Verbündeter gewesen. Ohne sein geheimes Wissen hätten sie und ihre Gefährten den Kampf gegen den Propheten des Phönix nicht überlebt. Und Keldos Kammern, in denen er sich vor der Welt zurückgezogen hatte, waren zu ihrem Versteck geworden. Ob es Keldo Recht gewesen wäre, dass sie und Jorak immer wieder hierherkamen? Bestimmt, dachte Alena. Schließlich ist auch er von seiner Gilde – den Wasser-Leuten – ausgestoßen worden.
Die Iltismenschen waren gerade auf der Jagd, und so durchquerten Alena und Jorak den Vorraum schnell und öffneten die verborgene Tür. Abgestandene Luft flutete ihnen entgegen. Alena nahm einen Kerzenhalter, rief eine Flamme herab und sah sich um. Sie wanderten durch die prächtigen Räume, in denen sich edle geschnitzte Möbel befanden, die Kissen darauf mit Goldfäden bestickt. Auf den Tischen standen kunstvoll geschmiedete Schalen und Kerzenleuchter. Der große Vorratsraum war gefüllt mit ganzen Krügen voller Wasserdiamanten, Ballen edler Stoffe, Gewürze und seltener Kräuter; in einer Ecke häuften sich Oriak- und Schneehörnchen-Felle.
„Sieht alles noch genauso aus wie zuvor“, stellte Alena fest. Plötzlich war sie verlegen. In jeder Ecke schienen Erinnerungen zu lauern. Als sie das letzte Mal zusammen hier, in Keldos Versteck, gewesen waren, hatte sie Jorak noch nicht ausstehen können. War sie damals ein anderer Mensch gewesen? Oder er? Ja. Und wahrscheinlich einfach zu blöd, um zu kapieren, dass er jemand Besonderes war.
Rasch durchsuchten sie den Lagerraum neben der Küche und sortierten mit spitzen Fingern alles aus, was in der Zwischenzeit verdorben war. Zum Glück waren noch genügend getrocknete Kräuter da. Sie brauten daraus einen Krug frischen Cayoral und setzten sich an den großen Tisch im Hauptraum. Jorak nahm seinen Becher in beide Hände und wärmte sich daran. Er ist ganz schön still, dachte Alena. Sie hätte gerne gewusst, was ihm durch den Kopf ging.
„Ich kann so nicht weiterleben“, sagte Jorak plötzlich. Seine Stimme klang gepresst. Als Alena ihm erschrocken die Hand auf den Arm legte, fühlte sie die Anspannung in seinem Körper.
„Früher hat mir das nicht ganz so viel ausgemacht“, fuhr er fort. „Ein Ausgestoßener zu sein, mich durchschlagen zu müssen, ständig auf der Hut zu sein. Aber seit Rhiannon ...“
Alena nickte und musste daran denken, was ihr Vater gesagt hatte. „Auf der anderen Seite der Grenze bist du ein paar Wochen lang ein normaler Bürger gewesen. Wenn du dortgeblieben wärst und dem Rat der Fünf nicht die Meinung gesagt hättest, dann müsste ich mich wahrscheinlich vor dir verbeugen und dich ´edler Herrscher´ nennen oder so was. Und hier ...“
Sie brauchte nicht weiterzusprechen, der Schreck über den Angriff vorhin saß ihnen beiden noch in den Knochen. Also fragte sie einfach: „Was wirst du tun?“
Jorak blickte hoch, sah ihr direkt in die Augen. „Gilt dein Angebot noch? Du weißt schon, welches.“
„Das war kein Angebot, das war ein Schwur. Natürlich gilt er.“ Alena wusste noch genau, was sie ihm in der Felsenburg der Regentin gesagt hatte. Ich schwöre, dass ich dir helfen werde von einer Gilde anerkannt zu werden. Und wenn die Vulkane von Tassos dabei verlöschen, dann sei´s drum. Alle hatten sie für verrückt erklärt. Denn Joraks Mutter gehörte der Luft-Gilde an, sein Vater der Feuer-Gilde – Jorak hatte das Pech gehabt, dass keine der beiden Gilden ihn anerkannt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Inzwischen war er zwanzig Winter alt. Weit über das Alter hinaus, in dem man sich noch um Mitgliedschaft bewerben konnte.
„Aber du musst dir überlegen, in welche Gilde du überhaupt eintreten willst“, fiel Alena ein. „Feuer oder Luft. Beides geht nicht.“ In ihren Tagträumen sah sie ihn längst im Schwarz der Feuerleute, das neue Amulett mit dem Flammensymbol um den Hals. Doch sie hatte nicht vor, ihm das zu gestehen.
Jorak verzog das Gesicht. „Das wird schwer. Beides wäre am besten, ich fühle mich ziemlich halb-halb. Lass mich darüber nachdenken, ja? Immerhin muss ich über meine Zukunft entscheiden. Morgen sage ich es dir.“ Er zögerte. „Übrigens ... es könnte sein, dass ich den Calonium-Armreif eine Weile ablegen muss. Das Ding verrät mich, jeder Mensch der Feuer-Gilde spürt es an mir.“
Ihre Armreife waren ein Symbol ihrer Liebe, sie hatten sie gemeinsam geschmiedet. Alena schmerzte es, dass Jorak den Armreif ablegen wollte, aber sie verstand seine Gründe. „Du kannst ihn abgeschirmt bei dir tragen“, erklärte sie ihm. Zum Glück fanden sie in Keldos Lager einige flache Dosen aus Nachtholz, in die der Armreif genau hineinpasste.
In dieser Nacht lagen sie lange wach. Alena starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in die Dunkelheit. Sie hatte eine bittere Ahnung davon bekommen, was es bedeutete, einen Ausgestoßenen als Gefährten zu haben. Wenn er gildenlos bleibt, dann werden wir ständig kämpfen müssen, dachte Alena. Wir werden nie einfach so in eine Schänke gehen, zusammen durch einen der Bezirke schlendern können. Zusammen leben? Können wir vergessen, die Gilde würde mich sofort ächten. Ich dürfte ja eigentlich nicht mal mit ihm reden. Ein kleiner Fehler und mein Leben ist genauso ruiniert wie seins.
Und was war mit ihrer eigenen Zukunft? Sie wusste noch immer nicht, was ihr Weg war, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen sollte – daran hatten ihre Erkundungen jenseits der Grenze nichts geändert. Alle anderen jungen Meister hatten längst ihren Platz im Leben gefunden, nur sie driftete noch herum und hatte nicht einmal eine vage Ahnung von dem, was sie machen konnte und wollte. Nicht mal die Schmiede ihres Vaters zu übernehmen ging jetzt. Natürlich, sie konnte ihre eigene Schmiede aufmachen, aber das reizte sie nicht wirklich.
Alena fühlte sich fast erdrückt von all diesen Problemen. Aber dann dachte sie trotzig: und wenn schon. Wir schaffen das – irgendwie. Und ich gebe Jorak nicht auf – komme, was wolle!