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Das Orakel

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Das Mond-Orakel lag am Rand der Alestair-Berge, nahe der Felsenburg der Regentin. Schroff, fast ohne Übergang, erhoben sich die grauen Zinnen des Gebirges aus der grün bewachsenen Ebene, ließen den Tempel an ihrem Fuß winzig erscheinen.

Neugierig blickte Rena von einem Hügel aus auf den Tempel des Orakels hinunter. Mit seiner Kuppelform glich er einem Erdhaus, aber er war nicht mit Gras überwachsen, sondern schien aus weißem Stein gebaut zu sein. Fünf Baumlängen weit um den Tempel herum schien eine Art Bannmeile zu verlaufen, dahinter sah Rena ein Lager, Dutzende von Menschen in Zelten und provisorischen Unterkünften aus Zweigen. Der Rauch der vielen Feuerstellen stieg ihr in die Nase.

„Sieht so aus, als hätte das Orakel jede Menge Besuch“, meinte Tjeri.

Als sie durch das Lager wanderten, sah Rena an Kleidung, Ausrüstung und Gildenzeichen, dass hier Menschen aus ganz Daresh, aus allen Provinzen und Gilden, zusammengekommen waren. Sie tauschte einen Blick mit Tjeri und er nickte. So eilig hatten sie es nicht – erst wollten sie herausfinden, was das hier für Menschen waren. Sie steuerten eine der Feuerstellen an. Fünf Leute der Luft-Gilde – zwei davon mit einem Pfadfindervogel auf der Schulter – saßen dort und kochten gerade in einer geschwärzten Eisenkanne Wasser für Cayoral auf.

„Friede den Gilden“, sagte Tjeri und hob die Hand. Eine seiner Libellen ließ sich davon nicht stören und hockte weiter auf seinem Handgelenk.

Ein bärtiger Mann etwa Mitte zwanzig winkte sie näher und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Er schenkte ihnen zwei Becher Cayoral ein. „Na, wollt ihr auch eine Deutung?“

„Ich nicht, ich habe in meinem Leben schon ein paar zu viel bekommen“, meinte Tjeri und zog eine Grimasse. „Aber meine Gefährtin hat eine Frage.“

Der Mann lachte bitter auf. „Na, dann viel Spaß beim Warten!“

„Wieso? Wie lange seid ihr denn schon hier?“, fragte Rena erstaunt.

Diesmal antwortete eine junge Frau. „Ich erst seit zwei Wochen, aber er da ist schon drei Monate hier und Grawo schon seit letztem Sommer.“

„Seit letztem Sommer?!“

Grawos Gesicht war zerfurcht, seine grauen Haare lang und zottelig. Ganz langsam blickte er auf. Seine Augen waren trübe. Erloschen, dachte Rena. „Meine Tochter wird vermisst“, murmelte er. „Seit letztdem Frühjahr. Wir waren auf Handelsreise durch Alaak, als sie verschwunden ist. Ich muss wissen, was mit ihr geschehen ist. Ob sie noch lebt.“

Mitleidig blickte Rena ihn an. Die Ungewissheit musste schlimm sein.

„Aber wieso habt ihr keinen Sucher beauftragt?“, fragte Tjeri verständnislos.

Der Alte seufzte. „Wisst Ihr, was das kostet? So was kann ich mir nicht leisten.“

Tjeris Augen waren ganz schmal geworden. Abrupt stand er auf. „Komm, Rena. Wir gehen jetzt zum Orakel. Ich hätte inzwischen auch eine Frage. Nämlich, warum diese Leute hier nicht wenigstens ihr Anliegen vortragen dürfen.“

Sie bedankten sich für den Cayoral und machten sich auf den Weg.

„Du wirst ihm helfen, nicht wahr?“, fragte Rena ihren Gefährten leise.

Tjeri ließ den Blick nicht von den Toren des Tempels, denen sie sich näherten. „Ja, ich übernehme seine Suche und verzichte auf den Lohn.“ Er verzog das Gesicht. „Jedenfalls, wenn wir heil wieder rauskommen und uns das Orakel nicht in ein paar wollköpfige Tunnelschnecken verwandelt.“

Die zwei Menschenlängen hohen Tore waren aus poliertem Silber, in das ein Abbild des nächtlichen Himmels eingraviert war. Dareshs drei Monde – Ellowen, Deeowen und Benawen – waren in verschiedenfarbigen Metallen eingefügt. Irgendjemand mit viel Geld hält große Stücke auf dieses Orakel, ging es Rena durch den Kopf.

Vier bewaffnete Wachen standen neben dem Tor stramm. Als Rena sich näherte, hoben sie ihre Schwerter – und ließen sie wieder sinken, als der kommandierende Offizier Rena erkannte und seinen Leuten ein Handzeichen gab.

„Seid gegrüßt, Rena ke Alaak“, sagte er. „Schön, dass Ihr wieder in der Gegend seid. Ihr sucht eine Deutung?“

Es hat doch seine Vorteile, berühmt zu sein, dachte Rena. Seit ihren Friedensmissionen war sie auf Daresh bekannt und geachtet. Der Mann vor dem Tor musste ein Offizier sein, der sie aus der Burg kannte. Zum Glück ließ ihr Namensgedächtnis Rena nicht im Stich. „Das tue ich, Lanjo. Außerdem bin ich schlicht und einfach neugierig.“

„Verständlich. Ich lasse Euch gleich anmelden.“

Einer der Soldaten verschwand durch einen kleineren seitlichen Eingang und kam kurz darauf zurück. „Geht klar, sie sind bereit.“

Das große Tor öffnete sich knarrend. Bevor Rena und Tjeri hindurchgingen, winkte Lanjo Rena noch einmal beiseite. Plötzlich war seine Stimme eindringlich. „Wenn ich euch einen Tipp geben darf, Meisterin – fragt sie auf keinen Fall nach ihren ...“

„Wo bleiben denn diese Besucher?“ Eine schrille Stimme aus dem Inneren schreckte Rena auf. Suchend blickte sie sich um und erkannte eine Erd-Gilden-Frau mit verkniffenem Gesicht, die eilig auf sie zuwatschelte. Sie trug eine kostbare silberne Robe mit dem gleichen Sternenmuster wie das Außentor, doch an ihr wirkte die Kleidung nicht elegant, sondern beulte sich aus wie ein Rübensack.

„Sie kommen ja schon, Ellba, reg dich ab“, brummte der Offizier.

Rena und Tjeri gingen in den Innenhof und sahen sich um. Sie standen in einem großen Garten mit Obstbäumen, Büschen und Wiesenflächen. In seiner Mitte erhob sich das weiße Gebäude. Unter den Bäumen liefen drei blonde, dünne und blasshäutige Kinder umher – die Drillinge! Gemeinsam bildeten sie das Mond-Orakel.

Rena schätzte die Kinder auf acht oder neun Winter. Sie sahen sich so ähnlich, dass es schwer war, sie zu unterschieden.

Anderskinder nannte man solche Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf Daresh. Es kam nur alle paar Jahrzehnte vor, dass eines geboren wurde, und meistens starben sie jung, nicht immer durch natürliche Ursachen. Ein solches Anderskind hatte Rena schon kennengelernt: Moriann, die Tochter einer früheren Regentin. Sie konnte Gegenstände zum Leben erwecken. Eines Tages machte sie den Fehler, in eine der Säulen des Sommerpalasts hineinzugehen ... und fand nicht mehr hinaus. Sie war Herrscherin und Gefangene des Palasts zugleich gewesen, bis das Gebäude im letzten Winter beim Kampf gegen Cano, den einstigen Propheten des Phönix, zerstört worden war.

Die Kinder beachteten die Besucher nicht. Unbekümmert spielten sie auf der Wiese, als gäbe es im Garten niemanden außer ihnen.

„Wer seid Ihr?“, keifte die Alte, als sie Rena und Tjeri sah. „Wichtige Persönlichkeiten, ha, Ihr kommt nicht vom Rat, das sehe ich! Wieso haben die Wachen Euch einfach so hereingelassen? Ihr wollt sicher nur die Kinder stören!“

In Tjeris dunklen Augen blitzte der Schalk auf. Er machte einen Schritt vor und ergriff die Hand der Frau. „Wir sind hier, weil wir schon viel von Euch gehört haben, alle haben uns gesagt, Ellba ist es, die ihr besuchen solltet, Ihr hättet so viel zu erzählen“, sagte er. Verblüfft starrte die Alte ihn an, versuchte wohl zu entscheiden, ob das alles Ironie war oder doch womöglich ernst gemeint.

Rena nutzte Tjeris Ablenkungsmanöver sofort und schlenderte auf die Kinder zu. „Hallo“, sagte sie beiläufig. „Wie heißt ihr? Ich bin Rena.“

Zwei der Kinder waren Mädchen, das dritte ein Junge. „Xaia“, sagte das eine Mädchen, „Daia“, das andere, „Taio“, meinte der Junge.

Sie schienen nicht sehr neugierig. Rena entschied sich noch ein bisschen mehr zu erzählen, vielleicht tauten die drei dann auf. „Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen und gerade da, um meinen Lebensbaum zu besuchen. Eine wunderschöne, zweihundert Winter alte Viveca auf einer kleinen Lichtung westlich von hier. Sagt mal, aus welcher Gilde seid ihr eigentlich? Erde?“

Keine Antwort, nur leere Gesichter. O je, falsche Frage, dachte Rena. Wahrscheinlich sind sie nie aufgenommen worden. Hätte ich besser vorher rausfinden sollen. War es das, was mir der Offizier sagen wollte – dass ich sie nicht nach ihrem Element fragen soll?

„Deutungen können wir nur machen, wenn die Monde aufgehen“, sagte eines der Mädchen, wahrscheinlich war es Daia.

„Inspiriert euch das?“ Rena war gespannt.

„Es geht eben vorher nicht.“

„Macht euch das eigentlich Spaß, Deutungen zu treffen, Vorhersagen zu machen?“

Die drei Kinder zuckten die Schultern. „Manchmal ist es ganz lustig“, sagte Xaia. Rena konnte sie nur dadurch unterscheiden, dass sie ein Armband aus geflochtenem Gras trug.

Rena entschied, sich ein Stückweit vorzuwagen. „Ihr habt wahrscheinlich ganz schön zu tun, was? Manche Leute vor dem Tor warten schon seit Monaten auf eine Antwort von euch.“

„Sie sind dumm“, sagte Taio. „Warum gehen sie nicht einfach wieder?“

„Weil ihre Fragen für sie sehr wichtig sind“, meinte Rena geduldig und dachte: Verurteil sie nicht. Wahrscheinlich haben sie ihr halbes Leben hier drin verbracht, sie wissen nichts von der Welt. „Ich hätte auch eine Frage. Es wäre toll, wenn ihr mir die beantworten könntet.“

„Vielleicht“, sagte Daia keck. „Sag mir, was du wissen willst!“

Rena schloss kurz die Augen. Plötzlich hatte sie Angst, ihre Frage zu stellen. Vielleicht war es besser, wenn sie die Antwort nicht wusste. Nein, sie musste es wissen, sie wollte nicht, dass Tjeri sich da in etwas hineinsteigerte. „Wer wird zuerst sterben, ich oder mein Gefährte?“

Die Kinder nickten. Im Hintergrund hörte Rena wieder die keifende Stimme ihrer Aufpasserin, die schnell näherkam. Anscheinend konnte Tjeri sie nicht länger in Schach halten. „O je, da kommt Ellba“, entfuhr es Rena. „Ist sie eigentlich mit euch verwandt, eure Mutter oder Tante oder so?“

In dem Moment, da Rena ihre Eltern erwähnte, veränderten sich die Gesichter der drei Kinder – kalt und hasserfüllt wurden sie. Plötzlich fiel Rena wieder ein, dass dies hier unberechenbare Anderskinder waren.

„Na, dann noch viel Spaß“, sagte Rena hastig und zog sich zurück.

Wie sich herausstellte, beruhigte sich Ellba sogleich, als Rena wieder Abstand zu den Kindern wahrte. „Sie sind sehr empfindlich, müsst Ihr wissen“, belehrte sie die Besucher mit strenger Miene.

Hab ich gemerkt, dachte Rena.

„Ellba ist schon seit zwei Wintern hier“, erzählte Tjeri munter. „Sag mal, Ellba, wo kommen die Kinder eigentlich her? Hier aus der Gegend?“

„Nein, nein, sie sind aus dem Karénovia-Tal an der Grenze von Alaak zu Tassos und Vanamee. Aus dem gleichen Dorf wie ich“, berichtete Ellba in wichtigem Ton. „Wir haben die Kinder erst entdeckt, als die Eltern einen Unfall hatten und gestorben sind, möge der Erdgeist ihnen gnädig sein! Sie müssen die Kleinen versteckt gehalten haben. Aber nach dem Unfall kam natürlich alles ans Licht, ha, so was geht schließlich nicht, so was kann man doch einfach nicht machen, Kinder verstecken!“

„Haben die drei um ihre Eltern getrauert?“, fragte Rena neugierig. Nach der Reaktion der Kinder vorhin zweifelte sie daran.

„Getrauert?“ Ellbas Stimme wurde noch ein wenig schriller. „Keine Träne, keine! Ehrlich gesagt, sie waren uns ein bisschen unheimlich. Niemand wollte sie aufnehmen. Schließlich habe ich mich erbarmt, ich, obwohl mir schon damals der Rücken wehtat und ich manchmal kaum gehen konnte!“

Tjeri fragte: „Wann hast du gemerkt, dass sie ... besondere Fähigkeiten haben?“

„Ich habe sie beobachtet bei ihren seltsamen Spielen und habe genau zugehört bei dem, was sie gesungen haben, ha, sonst hat das keiner gemacht! Dabei habe ich gemerkt, dass sie die Zukunft vorhergesagt haben. Gleich habe ich das dem Rat gemeldet. Tja, und heute weiß der Rat gar nicht mehr, wie er ohne meine drei auskommen soll. Jawohl!“ Stolzgeschwellt blickte Ellba zu Xaia, Daia und Taio hinüber, die die Erwachsenen nicht mehr beachteten. Doch dann stutzte sie. „O je, ich muss noch das Essen machen! Sie werden leicht wütend, wenn es nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Ihr könnt gerne hier im Garten warten. Aber nur bis der Mond aufgeht. Sie mögen es nicht, wenn man sie bei den Vorhersagen beobachtet, das mögen sie ganz und gar nicht!“

„Vielen Dank“, sagte Tjeri freundlich. „Wir machen es uns bequem.“

Sobald sie allein waren, wurde er schlagartig ernst. „Und, was hast du herausgefunden?“

„Leider nicht viel. Auf den ersten Blick wirken sie wie normale Kinder, aber das sind sie nicht. Bei vielen Themen blocken sie sofort ab.“

Er verzog das Gesicht. „Es würde mich sehr interessieren, was für ein seltsamer Unfall das war, bei dem ihre Eltern umgekommen sind. “

„Ja, mich auch“, gestand Rena und blickte hinüber zu den Kindern. „Glaubst du, dass wir hier in Gefahr sind? Ich fürchte, ich war ihnen nicht sonderlich sympathisch. Warum habe ich mich bloß nicht besser vorbereitet?“

„Womit denn vorbereiten? Habe ich irgendwo dicke Schriftrollen über das Orakel übersehen?“ Tjeri neckte die Libelle, die sich auf seiner Hand niedergelassen hatte. „Lass uns einfach mal abwarten, was die drei zu deiner Frage sagen. Meinst du, sie können wirklich in die Zukunft sehen?“

„Ich hoffe es sehr“, sagte Rena trocken. „Sonst wird der Rat gerade fein an der Nase herumgeführt.“

***

Es war eine warme Sommernacht, und da die beiden ersten Monde am Himmel standen, lag ein sanfter Schimmer über der Landschaft. Joraks Atem ging schnell, als er sich einen Pfad durchs hüfthohe Gestrüpp von Silberthymian und Disteln bahnte.

Es war ein Fehler, diesen Treffpunkt zu wählen, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, während er die Fackel hob, um einen guten Blick auf den Pfad zu haben. Zwar hatten sie auf dem Hügel außerhalb der Stadt einen guten Blick auf die Umgebung und reichlich Platz, um seine drei Tornados zu demonstrieren. Aber im freien Gelände war die Flucht auch viel schwerer, wenn sie Pech hatten und Elaudio sich als nicht vertrauenswürdig erwies. Und seit der Palast der Trauer im letzten Winter abgebrannt war, erschien ihm das Gemäuer noch unheimlicher als zuvor. Wie die Rippen eines toten Tieres ragten die übriggebliebenen Säulen in den Himmel, der einst weiße Stein war vom Feuer geschwärzt. Es beruhigte Jorak, dass er Alena und Cchraskar in der Nähe wusste. Sehen konnte er sie nicht, sie schlichen ihm gut versteckt nach und würden sich etwas westlich von hier auf Beobachtungsposten begeben.

Pünktlich kurz vor dem Aufgang des dritten Mondes war Jorak an Ort und Stelle. Von hier oben konnte man auf die Lichter der Stadt herunterblicken. Wer sich auskannte, konnte sogar die einzelnen Bezirke erkennen. Jorak hörte Elaudios Herannahen schon von Weitem. Schnaufend wie ein krankes Dhatla arbeitete er sich durchs Gebüsch, eine kleine Laterne in der Hand, und unterhielt sich dabei wütend mit sich selbst oder vielleicht mit seiner Spinne. Jorak musste lächeln, auch wenn er nervös war. Wachsam hielt er die Augen nach Leibwächtern offen, aber er sah keine. Wetten, die lagen irgendwo auf dem Bauch im Gebüsch – so wie Alena?

Jetzt hatte der Mann ihn erreicht. Sein Körper war fast tonnenförmig, und mit einem Schaudern sah Jorak die fast kopfgroße schwarze Spinne, die auf seiner Brust hockte. Eine so riesige Bolgspinne hatte er noch nie gesehen, sie musste mehr als zwanzig Winter alt sein.

Elaudio hob seine Laterne, musterte Jorak mit zusammengekniffenen Augen. „Ihr seid also der Kerl, der mich herzitiert hat“, brummte er. „Musste einen Gala-Empfang dafür sausen lassen! So was schätze ich gar nicht!“

Äußerlich gelassen hielt Jorak dem Blick stand. Er trug eine neue Tunika und hatte seinen Umhang so um Hals und Nacken drapiert, dass man nicht sehen konnte, ob er ein Gildenamulett hatte oder nicht. Die übliche Begrüßung Friede den Gilden hatte Jorak schon lange nicht mehr über die Lippen gebracht, also sagte er einfach: „Freut mich, dass Ihr hergefunden habt.“

Angewidert sah sich Elaudio um. „Scheußlicher Fleck Erde, das hier. Hoffe, wir brauchen nicht allzu lange zu bleiben. Wer beim Nordwind seid Ihr eigentlich?“

„Das tut erst mal nichts zur Sache“, sagte Jorak. Vielleicht hatte Elaudio schon von seinen vielen Versuchen gehört, in die Gilde aufgenommen zu werden – Jorak wollte nicht, dass der Mann zu früh ahnte, worauf das Geschäft hinauslaufen sollte. „Ich habe von Euren guten Verbindungen zum Rat gehört und brauche einen Fürsprecher. Vielleicht kann ich Euch ja davon überzeugen, mein Anliegen zu unterstützen.“

„Möglich“, knurrte der Mann. „Aber ich warne Euch, ich bin nicht leicht zu beeindrucken. Bin durch alle Provinzen gereist, hab schon viel gesehen. Also los, wollt Ihr mir Eure tolle Formel vorführen oder nicht?“

„Moment noch“, sagte Jorak vorsichtig. „Erst brauche ich Euer Versprechen, dass Ihr nur dem Rat von dem erzählen werdet, was Ihr heute hier sehen ...“

Mit erstaunlicher Schnelligkeit schoss Elaudios Hand vor und packte Joraks Umhang. Ebenso schnell hatte Jorak den Arm hochgerissen, um sich zu schützen. Doch der Händler hatte so viel Kraft, dass die Schließe des Umhangs aufsprang und der schwere dunkle Stoff zu Boden fiel.

„Dacht ich´s mir doch!“, brüllte Elaudio und stieß Jorak vor die Brust, dass er zurücktaumelte. „Gut angezogen, aber doch ein verdammter Gildenloser. An der Begrüßung verraten sie sich immer. Hast du mich nur herbestellt, um mich auszurauben? Wachen! Wachen!“ Es raschelte im Gebüsch und drei schwer bewaffnete, stämmige Männer stürzten heran.

Doch diesmal hatte Jorak nichts getrunken, er war ausgeruht und gesund. Er schloss einen kurzen Moment die Augen, konzentrierte sich, rief all seine Kraft zusammen. Dann murmelte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, die Formel, die er in Rhiannon entdeckt hatte. Er fühlte, wie die Kraft durch ihn hindurchströmte. Ein tiefes Brausen erklang, das in ein Donnern überging. Im schwachen Licht der Monde erhob sich eine wirbelnde Säule aus Luft, dann eine zweite, eine dritte. Sie schienen bis zu den Wolken zu reichen. Ein zweiter Befehl, und die Säulen begannen zu tanzen, auszuschwärmen, Elaudio und Jorak zu umkreisen und die Wachen zurückzudrängen.

Der Händler – und die Männer, die ihm zu Hilfe eilen wollten – blieben erschrocken stehen. Aber nicht lange. Dann rief Elaudio „Na warte!“ und begann ebenfalls die Lippen zu bewegen. Ein heftiger Windstoß fegte über den Hügel und brachte eine Seitenwand der Ruine zum Einsturz. Jorak musste die Arme um die Reste einer halb verfallenen Säule schlingen, um nicht umgeworfen zu werden. Seine Tornados wurden vom Wind zerfasert, sie schwankten, drohten in sich zusammenzustürzen.

Ach du große Wolkenschnecke, dachte Jorak erschrocken. Seine Demonstration war gerade dabei, ziemlich spektakulär in die Hose zu gehen! Stark war er, dieser Elaudio, und viel besser ausgebildet als er selbst. Doch Jorak war nicht bereit, aufzugeben. Er sammelte all seine Kraft, um den Wind zu besänftigen, zu bremsen und gleichzeitig seine arg wackeligen Tornados aufrecht zu halten. Es klappte.

Elaudio runzelte die Stirn und ganz plötzlich ließ der Wind nach.

Doch Jorak hatte keine Zeit, aufzuatmen. Etwas Schwarzes sauste ihm entgegen, prallte auf seine Brust. Haarige Beine liefen über seinen Hals, auf sein Gesicht zu. Die Bolgspinne! Giftig war sie nicht, aber dieses Biest war so groß, dass es sich auf sein Gesicht legen und dort festklammern konnte, bis er erstickt war!

Voller Ekel griff Jorak nach der Spinne, versuchte sie von sich herunterzureißen. Doch die Insektenbeine hakten sich in seine Kleidung, unaufhaltsam strebte das Tier auf seinen Mund zu. Irgendwo im Hintergrund hörte er Elaudio lachen.

Jetzt könnte Alena langsam mal eingreifen, dachte Jorak verzweifelt. Verdammt, wo ist sie? Wo ist Cchraskar?

Bilder rasten durch seinen Kopf. Er hatte mal mit Bolgspinnen zu tun gehabt, als er auf dem Tiermarkt ausgeholfen hatte. Der Händler hatte ihm erklärt, mit welchem Griff man sie wieder unter Kontrolle bekam, wenn sie Ärger machten. Es gab da einen bestimmten Punkt knapp hinter dem Kopf, wenn man den mit drei Fingern einklemmte ... aber wo hatte dieses Biest überhaupt seinen Kopf? Er fühlte nur einen runden Leib und jede Menge Beine! Und es hatte schon sein Kinn erreicht, er schaffte es nicht, es festzuhalten oder von sich herunterzureißen. Vielleicht sollte er sich auf den Boden werfen und das Vieh einfach unter sich zerquetschen ...

Es war sein Glück, dass Elaudio in diesem Moment die Fackel hob, vielleicht um das Schauspiel besser zu genießen. Jorak sah kreisrunde schwarze Augen ganz nah vor sich, und plötzlich wusste er wieder, wo der Lähmungspunkt war. Instinktiv griff er zu, richtig diesmal. Die Spinne spürte, dass es ihr an den Kragen ging, und begann zu zappeln, versuchte zu fliehen. Aber es war zu spät. Einen Atemzug später hing sie schlaff in Joraks Griff.

Jorak wartete einen Moment, bis er sich etwas beruhigt hatte und sein Atem wieder leichter ging. Dann sagte er in gespielt gleichmütigem Ton: „Dürfte ich Euch die hier zurückgeben?“ und hielt Elaudio die erstarrte Bolgspinne hin.

Vorsichtig nahm Elaudio das haarige Tier. Er massierte es kurz, bis es sich wieder bewegte, dann streichelte er es und setzte es sich auf die Schulter. Als Elaudio sich wieder Jorak zuwandte, lächelte er. „Du hast es geschafft, Junge“, sagte er. „Ich bin beeindruckt. Ein Schwächling bist du nicht, und diese drei Tornados sind ein nettes Spielzeug. Jetzt weiß ich auch, mit wem ich´s zu tun habe. Du bist der Kerl, der mit dem Feuer-Gilden-Mädel über die Grenze gegangen ist, stimmt´s?“

„Ja“, sagte Jorak. „Mein Name ist Jorak ke Tassos.“ Er war so erschöpft, dass er sich erst einmal auf einen Säulenstumpf setzen musste. Es kostetete ihn immer enorme Kraft, die Tornados zu rufen.

„Also, was willst du?“, fragte Elaudio. „Ich gebe dir fünfhundert Tarba, ein starkes Dhatla und ein Haus in einem meiner Handelsposten, wenn du mir die Formel nennst.“

Jorak schluckte. Ganz offensichtlich waren seine Tornados mehr als ein Spielzeug, sonst hätte Elaudio nicht so viel geboten – und ganz sicher würde er sich noch hochhandeln lassen. Das hieß, er, Jorak, wäre reich, von einem Tag auf den anderen. Aber er wäre immer noch der verdammte Gildenlose, den jeder mit Abscheu ansah. Er zwang sich „Kein Interesse“ zu sagen.

„Hm ... zusätzlich eine hübsche Frau, ganz für dich allein?“

„Danke. Hab ich schon.“

„... und dazu einen eigenen Pfadfindervogel, der dich durchs Grasmeer führt, der dir verbunden ist wie ein Freund und Bruder?“

„Seinen Pfadfinder bekommt man vom Rat und dazu muss man der Gilde angehören“, sagte Jorak bitter. Pfadfinder waren ganz besondere Vögel – sie waren sehr klug und standen mit „ihrem“ Menschen in geistigem Kontakt. Außerdem hatten sie einen untrüglichen Orientierungssinn. Ohne einen dieser Vögel als Begleiter verirrten sich im Grasmeer von Nerada selbst Menschen, die dort ihr ganzes Leben verbracht hatten. Jorak hatte, als er im Grasmeer aufgewachsen war, viele Winter lang von einem eigenen Pfadfinder geträumt, aber irgendwann die Hoffnung aufgegeben.

Gutgelaunt schlug Elaudio ihn auf die Schulter und störte sich nicht daran, dass Jorak zurückzuckte. „Jetzt weiß ich, was du willst. Lass mich raten. In unsere Gilde aufgenommen werden, stimmt´s? Im Austausch gegen die neue Formel?“

„Ja“, sagte Jorak schlicht. „Werdet Ihr mich unterstützen?“

„Jedenfalls werde ich dem Hohen Rat eine Botschaft schicken und ihnen empfehlen, dich dein Anliegen vortragen zu lassen. Mehr kann ich nicht tun.“ Elaudio lachte. „Du könntest sogar Erfolg haben, ja, möglich ist´s. Aber weißt du, was für ein gefährliches Spiel du spielst? Der Rat ist tausendmal mächtiger als du, und du willst ihm die Bedingungen diktieren. Ich hoffe für dich, Junge, dass du damit davonkommst!“

„Viel habe ich nicht zu verlieren“, sagte Jorak und sah zu, wie Elaudio sich mit seinen Leibwächtern den Weg durch die Sträucher zurück in die Stadt bahnte.

Als die Männer weg waren, kroch Alena ganz in der Nähe aus dem Gebüsch und klopfte sich den Dreck von der Tunika. Neben ihr klaubte sich Cchraskar mit verzogenem Gesicht Disteln aus seinem cremefarbenen Bauchfell. „Das hast du prima gemacht, Jo“, sagte Alena fröhlich. „Mit etwas Glück können wir schon bald nach Nerada aufbrechen!“

Jorak nickte, seufzte und setzte sich erst mal. Grinsend holte Alena eine kleine Flasche aus einer Tasche ihrer Tunika und hielt sie ihm hin. „Wie wär´s mit einem Schluck Grünkorn-Schnaps auf den Schreck?“

„Ja, ich glaube, den kann ich jetzt gebrauchen“, sagte Jorak verlegen, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen Schluck von der bitteren Flüssigkeit, die nach Kräutern und den Tiefen des Waldes schmeckte. Auf einmal war er froh, dass Alena vorhin nicht eingegriffen hatte. Hatte er sich schon zu sehr daran gewöhnt, dass sie ihn im Notfall aus der Patsche holte? Dabei war er immer so stolz darauf gewesen, sich selbst helfen zu können.

Jorak verdrängte den Gedanken. „Komm, lass uns zurückgehen nach Ekaterin“, sagte er und stand auf.

***

Vor dem Aufgang des ersten Mondes scheuchte Ellba Rena und Tjeri ins Haus, damit das Mond-Orakel ungestört seine Rituale vollziehen konnte. Kurz bevor Tjeri ins Innere ging und die Tür hinter sich schloss, warf er einen Blick zum Himmel und runzelte die Stirn. „Schau mal, eine Flederkatze! Seit wann gibt´s die denn hier?“

„Was? Nein, du musst dich irren, es leben keine Flederkatzen in Alaak.“

„Vielleicht hat sie sich verirrt und wollte ganz woanders hin.“ Tjeri setzte sich an den großen runden Tisch, an dem Ellba gerade die Essensreste abräumte. Sie hatte ihnen nichts angeboten; so weit ging ihre Gastfreundschaft dann doch nicht. Rena war nicht traurig deswegen; es roch muffig in dem niedrigen, dunklen Tempel und ein wenig nach angebranntem Blätterbrei.

„So, ich muss gehen – es ist so weit, ja, gleich geht der Mond auf“, sagte die alte Frau und raffte hastig Schreibzeug zusammen. „Ich lese ihnen die Fragen vor, sie singen die Antworten, ja, und ich schreibe natürlich mit, so schnell ich kann!“

Rena und Tjeri warteten schweigend. Die Atmosphäre im Erdhaus war so drückend, dass Rena sich an einen anderen Ort wünschte, egal wohin, nur weg. Sie ließ die Augen über das Innere des Hauses wandern. Über die drei Schlafmatten mit den drei Decken in verschiedenen Farben, über das kunstvoll aus Holz geschnitzte Spielzeug, das neu und unbenutzt herumlag, über den Vorrat an Schreibmaterialien. Schriftrollen gab es keine. Auch keinen Krimskrams. Kaum zu glauben, dass hier drei Kinder lebten.

Es schien endlos zu dauern, bis die alte Frau mit einem voll gekritzelten Pergament wieder zum Vorschein kam.

„Ha, sie waren sehr gut eingestimmt heute, meine drei!“ strahlte sie und rollte das Pergament umständlich auseinander, bis sie zu der Antwort auf Renas Frage kam. „Für Euch heißt es: ‚Er hat es auf der Insel gesehen, er weiß es schon!’ Na, Ihr werdet sicher wissen, was das bedeuten soll, das ist ja Eure Sache! Von mir kann keiner erwarten, dass ich die Sprüche auch noch erkläre.“

Rena nickte nur schwach, als Tjeri sich von Ellba verabschiedete, ging dann mit ihm den Gartenweg entlang zum Tor. Als sie draußen waren und außer Hörweite der Wachen, blieb Tjeri stehen und nahm sie in die Arme. „Nimm es nicht so tragisch, ich habe noch eine ganze Menge Zeit“, versuchte er sie zu trösten. „Zumindest wissen wir jetzt, dass das Orakel kein Schwindel ist – ich habe niemandem außer dir von dieser Traumsuche damals erzählt, und keiner weiß, dass sie mich auf die Insel Caris Terada geführt hat.“

Also konnten die Kinder wirklich die Zukunft vorhersagen. Seltsamerweise beruhigte das Rena überhaupt nicht.

Während Tjeri sich auf die Suche nach der Tochter des alten Mannes machte, wanderte Rena weiter nach Osten, um ein paar Verwandte in der Nähe zu besuchen. Der größte Teil von Renas Verwandtschaft lebte im Weißen Wald, im Dorf Fenimor. Rena übernachtete im Erdhaus ihrer Tante Nirminda. Dort gab es ein herzliches Willkommen, Neuigkeiten über Renas zahlreiche Cousins und Cousinen und jede Menge Nusskekse. Am zweiten Tag war ein Festessen zu ihren Ehren angesagt. Doch Rena konnte es nicht so genießen, wie sie gedacht hatte. Schon nach der ersten Hälfte des Abends protestierte sie schwach: „Nein, ich bin wirklich satt, ja, ganz wirklich, nein, ich will nicht noch ein Stück Pastete ...“

Sie brauchte dringend frische Luft. Rena stolperte nach draußen, lehnte sich schwer atmend an die grasbewachsene Außenwand des Erdhauses. Doch das nützte gar nichts, sie fühlte sich immer schlechter. Vielleicht vertrage ich keine Nusskekse mehr, dachte Rena. Doch dazu ging es ihr zu mies. Inzwischen war ihr ganzer Körper mit kaltem Schweiß bedeckt, sie zitterte. Dann schoss ein reißender Schmerz durch ihren ganzen Körper. Es war so schlimm, dass Rena kaum atmen konnte und es nicht einmal schaffte, um Hilfe zu rufen.

Zum Glück wunderte sich ihr Cousin Kip irgendwann, wo sie blieb, und fand sie. „Beim Erdgeist, was ist denn mit dir los?“, rief er erschrocken. Da er mehr als einen Kopf größer war als sie, machte es ihm keine Schwierigkeiten, sie aufzuheben und ins Haus zu tragen.

„Ich weiß nicht“, stöhnte Rena. „Es war ein ganz schlimmer Schmerz, aber ich glaube, es wird jetzt besser.“

Kurz darauf lag sie auf einer bequemen Schlafmatte und fünf ihrer Verwandten standen kopfschüttelnd um sie herum. Ihr Cousin kratzte sich den Kopf. „Es kam ganz plötzlich, sagst du ...“

Rena nickte schwach. In jedem anderen Haus hätte sie vermutet, dass gerade jemand versucht hatte sie zu vergiften. „Vorher ist mir der Schweiß ausgebrochen, ich war wie in Panik – ganz seltsam.“

„Die Pastete war jedenfalls noch gut, ich habe sie heute erst gebacken!“, sagte Tante Nirminda spitz.

„Darauf wollte ich nicht hinaus“, sagte Kip und blickte Rena ernst an. „Sag mal, wie steht es um deinen Lebensbaum? Geht es ihm gut? Ich finde, das klingt wie ein typischer Fall von Verbindungskrise. Dein Baum leidet und dir geht es ebenfalls schlecht.“

„Ich war erst vor ein paar Tagen da, es ging ihm prächtig“, murmelte Rena.

Ihre Tante verabreichte ihr Yerba Nierro, den gängigsten Heiltrank Dareshs, und irgendwann schaffte es Rena einzuschlafen. Als sie aufwachte, fühlte sie sich schwach und zittrig. Und immer wieder ging ihr im Kopf herum, was Kip gesagt hatte. Er war Holzmeister, kannte sich hervorragend mit Pflanzen aus. Was, wenn ihrem Baum tatsächlich etwas passiert war? Sie musste Gewissheit haben.

Vorsichtig schlug sie die rauen Leinendecken zurück, setzte sich auf. Ihr war schwindelig und es dauerte eine Weile bis sie sich traute aufzustehen. Mit zögernden Schritten ging sie in den Wohnraum hinüber, eine gemütlich dunkle Kuppel mit Wänden aus unverputzter Erde und Möbel aus weißem Colivar-Holz. Ihre Tante und Kip musterten Rena besorgt, als sie hereinkam.

„Ich muss los“, sagte Rena. „Zu meinem Baum.“

„Du kannst nicht alleine gehen – ich komme mit“, sagte Kip entschlossen, und Rena protestierte nicht. Schnell schrieb sie eine Nachricht an Tjeri und schickte sie mit einem Wühler auf den Weg, dann packte sie ihre Sachen.

Feuerblüte III

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