Читать книгу Feuerblüte III - Катя Брандис - Страница 7
Mit Axt und Schwert
ОглавлениеIm nächsten Ort lieh Rena ein Dhatla, damit ging es schneller. Kip half ihr, auf den Rücken des schnaubenden, zwei Menschenlängen hohen Reptils zu klettern und es sich hinter dem hornigen Nackenschild bequem zu machen. Sie brauchten nur einen halben Tag bis zu der Lichtung. Rena band das Dhatla ein Stückweit entfernt an; zu ihrer Viveca führte kein Pfad, man musste sich durchs Unterholz winden. Beunruhigt sah sie an geknickten Pflanzen und niedergetretenem Gras, dass Menschen hier entlanggegangen waren. Sie wechselte einen Blick mit Kip.
„Etwa vier Leute“, sagte er.
Renas ungutes Gefühl wurde immer stärker. Das letzte Stück bis zur Lichtung rannte sie. Als sie sah, was geschehen war, stockte ihr der Atem und ihr Körper schien taub zu werden. Tränen drängten aus ihren Augen, überschwemmten ihre Wangen.
Jemand hatte ihre Viveca gefällt. Nur noch ein kniehoher Stumpf war zu sehen, auch der Stamm war schon weggebracht worden. Abgerissene Blätter und Blüten lagen herum, in den Boden getrampelt.
Rena krümmte sich vor Kummer. Jetzt wusste sie also, was sie gestern gespürt hatte.
Inzwischen hatte Kip die Reste des Baumes und die Fußspuren untersucht und kam zurück, um ihr Bericht zu erstatten. „Das waren keine Erd-Leute. Erstens, weil keiner von uns so etwas tun würde. Eine lebende Pflanze! Zweitens haben die Kerle die Viveca mit ihren Äxten dermaßen laienhaft umgeschlagen, dass sie sich vermutlich um ein Haar selbst etwas abgehackt hätten.“
Rena wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und putzte sich die Nase mit einem Blatt. „Vielleicht haben sie nicht geahnt, dass es ein Lebensbaum ist. Nicht jeder, der zu einer anderen Gilde gehört, weiß, was das grüne Band um den Stamm bedeutet.“
Den Stamm, den es nicht mehr gab. Sofort strömten ihre Tränen wieder.
Kip legte den Arm um sie. „Ich schätze, es waren Soldaten. Denen sind Bäume so was von egal.“
„Aber warum haben sie es gemacht?“, schluchzte Rena. Doch dann stieg eine Ahnung in ihr hoch, eine Ahnung, die so furchtbar war, dass sie sie selbst kaum glauben konnte. Nur sehr wenige Menschen wussten von diesem Baum, wo er stand und was er ihr bedeutete. Aber vor zwei Tagen hatte sie jemandem davon erzählt – den Kindern des Mond-Orakels. Rena musste an den hasserfüllten Blick denken, den die drei ihr zugeworfen hatten, als sie nach ihren Eltern gefragt hatte.
Wenn das stimmt, dachte Rena, wenn sie es mich auf eine solche Art büßen lassen wollten ... dann gibt es dafür nur ein passendes Wort. Bösartig.
Rena ging hinüber zum Stumpf ihres Baumes, legte die Hände darauf, versuchte einen Lebensfunken darin zu spüren. Seine Aura war sehr schwach. Der Baum, den sie gekannt hatte, war tot und verschwunden. Kip half ihr, die Lichtung nach übriggebliebenen Früchten abzusuchen, nach Samen, aus denen neue Bäume wachsen konnten. Sorgfältig knotete Rena sie in ein Tuch und verstaute sie in ihrer Tunika. Wenigstens würde die Viveca Nachkommen haben. Rena beschloss ihren neuen Lebensbaum an einem sicheren Ort zu pflanzen, neben ihrem und Tjeris Haus in Vanamee.
Sie warf noch einen Blick zurück, bevor sie losritten. Es war fast unerträglich, wie leer der Himmel über der Lichtung jetzt war ohne die ausladende Krone der Viveca.
„Wohin reiten wir?“, fragte Kip, als sie wieder auf dem Rücken des Dhatlas saßen.
„Zum Orakel“, sagte Rena mit zusammengebissenen Zähnen.
Auf halbem Weg holte Tjeri sie ein. Als sie ihm erzählte, was passiert war, nahm er sie ganz fest in die Arme. Wir sind in letzter Zeit nur noch damit beschäftigt, uns gegenseitig zu trösten, dachte Rena erschöpft und fragte ihn: „Hast du wenigstens Erfolg gehabt?“
Er seufzte. „Ich habe es Grawo schon sagen müssen: Seine Tochter ist tot. Anscheinend hat sie sich nachts vom Lager entfernt und dabei haben Blitzranken sie erwischt. Alles, was ich finden konnte, waren ihre Knochen, und die waren völlig überwuchert.“
„O nein“, sagte Rena traurig. Blitzranken waren neben Lanzenbäumen eine der größten Gefahren in der Provinz Alaak. Sie wuchsen im Frühjahr so schnell, dass sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit bewegen und unvorsichtige Reisende umschlingen konnten.
Schon bald standen Rena, Tjeri und Kip wieder vor dem schimmernden Tor des Orakels. Doch diesmal schüttelten die Soldaten die Köpfe, als Rena Einlass forderte. „Wir haben Befehl, Euch nicht mehr vorzulassen“, sagte der Offizier Lanjo bedauernd. „Da kann man nichts machen. Die Kinder ändern ihre Meinung selten.“
Rena wusste nicht genau, was sie eigentlich erreichen wollte – eine Bestätigung, dass ihr Verdacht stimmte, Strafe, Rache, zumindest eine Erklärung. Aber sie wusste, dass sie nun den Weg über den Rat gehen musste. Anders kam sie an das Orakel nicht mehr heran.
Schon am frühen Nachmittag erreichten sie die Felsenburg. Tjeri und Kip lagerten ein Stück weiter weg im Wald – nach dem, was Tjeri in der Felsenburg erlebt hatte, bekam man ihn nicht mehr dazu, diesen von zahllosen Tunneln und Räumen durchzogenen Berg zu betreten. Als junger Agent seiner Gilde hatte er sich in der Burg dazu verleiten lassen, die geheimnisvolle Quelle zu berühren. Zehn Monate lang hatte die Regentin ihn im Kerker dafür büßen lassen.
Rena stürmte durch das Haupttor und sofort zu den Räumen von Dorota, einer Delegierten des Hohen Rates, die Rena gut kannte. Sie wirkte gemütlich und nicht besonders helle, doch das täuschte.
„Schön, dich zu sehen, Rena – beim Erdgeist, was ist dir denn passiert?“
„Jemand hat meinen Lebensbaum gefällt“, sagte Rena und unterdrückte mühsam die Tränen. „Eine Viveca auf einer Lichtung westlich von hier.“
Entsetzen breitete sich auf Dorotas Zügen aus. „Wir haben angeordnet, dass eine Viveca gefällt wird. Blattfäule, war das dein Lebensbaum? Die Soldaten haben nichts Auffälliges an ihm bemerkt.“
„Ihr habt das angeordnet?“
„Wir hatten keine Wahl. Das Orakel hat es gefordert. Es meinte, der Baum würde die Energien des Mondes stören. Wenn wir ihn nicht geopfert hätten, dann hätten wir keine Vorhersagen mehr bekommen.“
Rena war sprachlos. Immerhin hatte Dorota den Anstand, beschämt dreinzublicken. Sie konnte sich wohl denken, dass das mit den Energien des Mondes ein großer Unsinn war.
„Ihr habt euch erpressen lassen“, sagte Rena schließlich mühsam beherrscht. „Das Orakel wollte sich an mir rächen und durch euch konnte es das ohne jede Gefahr machen.“
„Was hätten wir denn tun sollen?“ Dorota ließ sich in einen gepolsterten Stuhl nieder. „Der Rat muss Daresh regieren, seine Zukunft sichern. Wenn man dabei die Möglichkeit hat, in die Zukunft zu sehen, dann macht man viele Fehler erst gar nicht. Natürlich wäre es zu viel von dir verlangt, dass du deinen Lebensbaum als Opfer für Dareshs Zukunft siehst.“
„Ja, das ist zu viel verlangt“, sagte Rena. Als sie sich an den kalten Blick der drei Kinder erinnerte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. „Und wenn das Mond-Orakel die Zukunft von Daresh ist, dann habe ich Angst um uns alle.“
***
Die Nachricht, dass der Hohe Rat der Luft-Gilde Jorak empfangen würde, kam schon drei Tage später. Er sollte sich zum Mittsommertag in Eolus einfinden und eine Bestätigung seiner Mutter mitbringen, dass sie zur Luft-Gilde gehörte und er tatsächlich ihr Sohn war.
Staunend drehte Jorak den kleinen Pergamentzettel in den Händen. So weit war er noch nie gekommen, in all den Wintern nicht. Bisher waren seine Anliegen immer von untergeordneten Bediensteten des Rates abgewimmelt worden.
Er zeigte Alena den Zettel, sie las ihn und dann lagen sie sich jubelnd in den Armen, tanzten wie wild im unterirdischen Versteck herum.
„Nerada, ich komme!“, brüllte Jorak.
„Und diesmal werden die Kerle vom Rat dich nicht so leicht wieder los!“, schrie Alena.
Mit geröteten Gesichtern und glänzenden Augen ließen sie sich schließlich auf die dicken Teppiche des Wohnraums fallen. „Eigentlich können wir sofort los“, überlegte Jorak. Sein Herz pochte wild vor Aufregung und Vorfreude. „Wir müssen nur noch Ausrüstung, Proviant und so weiter organisieren.“
Alena lächelte zufrieden. „Ich wollte schon immer mal das Grasmeer sehen.“ Sie stützte sich auf einen Ellenbogen. „Wie war das eigentlich, als du damals dem Rat vorgestellt worden bist?“
Auf einmal war Joraks Hochstimmung weg. Die Erinnerung schmerzte noch immer. „Zuerst waren wir beim Rat der Feuer-Gilde, frag mich nicht warum. Vielleicht hat meine Mutter gehofft, dass sich mein Vater doch noch für mich interessieren würde, wenn die Feuerleute mich aufnehmen.“ Jorak seufzte. „Damals war ich sieben. Ich war völlig eingeschüchtert von diesem riesigen Turm mit den silbernen Flammen, den Schwertern und dem ganzen Drumherum, ich habe kaum ein Wort rausbekommen. Und weil ich keinen Unterricht gehabt hatte, konnte ich natürlich nicht mal eine winzige Flamme herbeirufen. Obwohl ich heute weiß, dass ich die Fähigkeit dazu habe. Kurz, sie wollten mich nicht.“
Jetzt war auch von Alenas Gesicht das Lächeln verschwunden. „Aber was war mit der Luft-Gilde?“
„Als ich mit neun da vorgestellt worden bin, waren ich und meine Mutter schon ein bisschen verzweifelt, weil wir wussten, dass das meine letzte Chance war. Ich hatte mich monatelang vorbereitet, um nicht wieder die gleichen Fehler zu machen. Aber denen war ich unheimlich, weil ich so sehr nach Feuer-Gilde aussah. Obwohl meine Mutter mich nach den Traditionen der Luft-Leute aufgezogen hatte.“
Alenas Augen blitzten. „So was eine Chance geben zu nennen ist ein schlechter Witz.“
„Diesmal wird alles anders“, sagte Jorak, und einen Moment lang glaubte er tatsächlich daran. Doch tief in ihm saß ein kalter, harter Kern der Angst. Nicht die weite Reise nach Eolus machte ihm Sorgen. Es war ein Ort namens Torreventus – im Norden von Nerada, direkt auf dem Weg nach Eolus –, der seine Gedanken beherrschte. Dort war Jorak aufgewachsen, dort lebte seine Mutter noch immer. Mit dreizehn Wintern hatte Jorak sich einer Händlergruppe angeschlossen, um seinen Vater zu suchen, und war schließlich in Ekaterin gelandet. Seither hatte er seiner Mutter jedes Mal, wenn er irgendwie das Geld für einen Wühler hatte zusammenkratzen können, eine Nachricht geschickt. Aber es waren nur wenige Sätze gewesen, die sie alle paar Monate austauschen konnten. Und vor ein paar Wintern waren die Botschaften seiner Mutter seltsam zurückhaltend geworden. Er hatte nach Torreventus reisen wollen, um sie zu sehen, aber sie hatte ihm davon abgeraten – und danach hatte sie ihn nie wieder gefragt, wann er sie denn nun besuchen würde. Das tat weh. Ein Dutzend mögliche Erklärungen hatte er sich für ihr Verhalten ausgedacht. Nun, bald würde er wissen, was wirklich los war – wenn er diese Bestätigung wollte, hatte er keine Wahl, er musste nach Torreventus.
In den letzten Wintern hatte er versucht, nicht mehr so oft an seine Mutter und seinen Heimatort zu denken. Es war leichter so. In einer großen Handelsstadt wie Ekaterin war es möglich, als Gildenloser zu überleben, hier hatte er echte Freunde gefunden. Auch in Torreventus hatte es Menschen gegeben, die ihn mochten, aber viele Bewohner hatten mehr als deutlich gemacht, dass er unerwünscht war.
Schade, dass ich nicht erst auf dem Rückweg dort vorbeischauen kann, dachte Jorak. Wie sich das wohl anfühlen würde, mit einem brandneuen Gildenamulett um den Hals dort hinzukommen?
Feigling, Feigling, Feigling!, schrie seine innere Stimme. Wenn Alena wüsste, dass du dich nicht nach Hause traust! Sie ist so viel stärker als du.
Jorak zwang seine innere Stimme, Ruhe zu geben, und half seiner Gefährtin, das Versteck nach möglichem Tauschgut durchzugehen. Keldo war ohne Erben gestorben, und auch er war aus der Gilde ausgestoßen worden, deshalb gehörte das Versteck und alles darin im Prinzip den Findern, also Alena und ihm. Es tat Jorak in der Seele weh, einige der wertvollen Gegenstände verkaufen zu müssen. Aber es ging nicht anders – sie brauchten dringend Ausrüstung, und Geld hatte keiner von ihnen. Jorak entschied sich, ein paar Wasserdiamanten anzubieten, und zum Glück fand er unter den Händlern schnell einen Abnehmer. Einen Tag später war alles bereit und sie machten sich auf dem Weg nach Nerada.
Durch Alaak – die Provinz der Erd-Gilde – zu reisen war längst nicht so beschwerlich wie der Weg ins Grenzgebiet und die Wüste jenseits davon. Wiesen voller Blumen und Felder, auf denen Flachs, Pfeilwurzeln und Grünkorn wuchsen, umgaben Jorak und Alena. Hin und wieder durchquerten sie ein kleines Wäldchen, in dem die Luft kühl und frisch war. Nahe Ekaterin wanderten sie über breite Straßen aus gestampfter Erde, in denen man die Spuren von Dhatla-Krallen sah. Familien, Händler und Boten waren unterwegs, und an fast jeder Kreuzung standen kleine, aus Holz gezimmerte Stände, die Waren und Wegzehrung verkauften. Cchraskar schnupperte jedes Mal erwartungsvoll. Aber nur einmal schaffte er es, Alena davon zu überzeugen, dass er jetzt unbedingt ein Stück gebratenes Torquil brauche.
„Das ist ja fast ein Spaziergang“, meinte Alena. Sie schritt kräftig aus und ihre knöchelhohen Lederstiefel wirbelten den gelbgrauen Straßenstaub auf. „Müssen wir jetzt einfach weiter nach Osten?“
„Erst mal ja“, sagte Jorak nach einem Blick auf die Karte, die er mit der übrigen Ausrüstung einem Händler abgekauft hatte. „Aber in der Stadt habe ich gehört, dass ein Erdrutsch vor ein paar Tagen möglicherweise den Hauptweg nach Nerada blockiert hat. Kann sein, dass wir ausweichen müssen, dann brauchen wir ein paar Tage länger.“
„Ach, auf ein paar Tage kommt es doch nicht an“, meinte Alena. „Im Gegenteil, ist doch schön, so zu reisen.“
Das stimmte. Hier im Wald konnten sie sich küssen, ohne dass jemand zuschaute – außer dem garantiert nicht neidischen Cchraskar – und niemand störte sich daran, dass sie sich beim Einschlafen in den Armen hielten. Als sie an ihrem ersten Lagerplatz an einem Waldsaum in Alaak mit einer Formel ein Kochfeuer entzündeten, fühlte sich Jorak einfach nur glücklich. Es wurde gerade dunkel und die Flammen beleuchteten Alenas ovales Gesicht und tanzte auf ihrem rotbraunen Haar. Jorak konnte sich kaum an ihr sattsehen.
Alena blickte ihn unverwandt an. „Was ist, wollen wir mit dem Schwerttraining weitermachen? Selbst wenn du einmal zur Luft-Gilde gehörst, wirst du dich wehren müssen.“
Freude durchflutete Jorak – und verebbte gleich wieder. „Furchtbar gern. Aber ich weiß nicht, ob wir dieses Risiko jetzt, so kurz vor dem Ziel, noch eingehen sollten. In Rhiannon war das mit den Übungen in Ordnung. Aber wenn hier in Daresh jemand beobachtet, dass du mir etwas beibringst ...“
Alena zuckte die Schultern. „Wir lassen uns einfach nicht erwischen. Cchraskar kann Wache halten, während wir üben. Der wittert eine Grollmotte aus einer Tagesreise Entfernung.“
„Eher zwei“, behauptete Cchraskar.
„In Ordnung“, sagte Jorak zögernd.
Alena stand auf und stapfte in den Wald. Nach ein paar Atemzügen hatte sie zwei glatte, gerade Äste gefunden und mit einigen gezielten Tritten auf die Länge eines Schwerts zurechtgestutzt. Dann warf Alena Jorak einen der Äste zu und ging mit dem anderen in Grundstellung. „Ich warne dich“, sagte sie, „das wird anstrengend für dich und blaue Flecken wirst du in nächster Zeit reichlich haben.“
„Blau ist meine Lieblingsfarbe“, behauptete Jorak. Zwar hatte er nicht die Hoffnung, einmal so gut kämpfen zu können wie Alena, aber er wollte sich und sie auf keinen Fall mit seiner schlechten Schwerttechnik blamieren.
Er kreuzte sein Übungsschwert mit ihrem und kurz darauf flogen Rindenstücke in alle Richtungen. Wie versprochen schonte Alena ihn nicht und hatte keine Hemmungen, ihn herumzukommandieren. Das machte Jorak nichts aus. Denn es gehörte eben dazu, wenn man von jemandem lernen wollte, und er lernte für sein Leben gern. Außerdem war Alena trotz ihres rauen Tons eine gute Lehrerin. Sie erfasste schon nach wenigen Atemzügen, wo seine Stärken und Schwächen lagen, und improvisierte Übungen für ihn, die ihn forderten, aber nicht überforderten.
Als sie eine kurze Pause einlegten und sich keuchend an einen Baum lehnten, meinte Jorak: „Du hast echtes Talent dafür, einem etwas beizubringen. Hast du so was schon öfter gemacht, Leute unterrichtet?“
„Nein, aber das sollte ich vielleicht, es macht Spaß“, sagte Alena und trank einen Schluck aus ihrem Trinkbeutel. „Los, weiter geht´s! Wir müssen an deiner Abwehrtechnik arbeiten.“
Sie übten so konzentriert, dass sie beide zusammenzuckten, als Cchraskar ein warnendes Fauchen ausstieß. „Acchtung, jemand kommt! Haben sich gegen den Wind genähert, nah sind sie schon, nah!“
„Wie war das mit der Grollmotte und den zwei Tagesreisen?“, beschwerte sich Jorak. Es war zu spät, um sich zu verstecken, sie schafften es nur noch, ihre Äste ins Gebüsch zu werfen. Keine drei Atemzüge später traten die Wanderer – zwei stämmige Frauen der Erd-Gilde – aus der Dunkelheit in den Lichtkreis des Feuers. Als sie die beiden jungen Leute sahen, wirkten sie erst verblüfft und kamen dann näher. „Wir haben Lärm gehört. Alles in Ordnung, Mädchen, belästigt er dich?“
Der verächtliche Blick, mit dem die beiden Frauen ihn musterten, traf Jorak bis ins Mark. Zum Glück ließ sich Alena nicht aus der Ruhe bringen und antwortete: „Nein, natürlich nicht, ich habe ihn nur nach dem Weg gefragt.“
Das war nicht sehr überzeugend; sie waren beide durchgeschwitzt und Jorak ahnte, dass ihm nach mehreren Stürzen beim Üben vermutlich Gras und Laub in den Haaren hingen. Außerdem war da noch ihr Lagerfeuer, das darauf hindeutete, dass zumindest einer von ihnen sich hier für die Nacht eingerichtet hatte. Es überraschte ihn nicht, als eine der Frauen die Stirn runzelte. „Mädchen, weißt du nicht, dass es verboten ist, mit Gildenlosen zu tun zu haben?“
„Soll ich mich denn lieber verlaufen als nach dem Weg zu fragen?“ Alena stemmte die Arme in die Hüften.
Misstrauisch blickten die beiden Frauen zwischen Alena und Jorak hin und her. Die ahnen was, dachte Jorak. Er grub die Hände in die Taschen seiner Tunika, senkte den Kopf in der typischen Haltung der Ausgestoßenen und begann davonzugehen. Das wirkte endlich. Als die beiden Frauen verschwunden waren, hob Alena ihr hölzernes Übungsschwert wieder auf und rief: „Du kannst zurückkommen, sie sind weg!“ Als er wieder herangekommen war, fügte sie hinzu: „Hoffentlich sagen sie nicht dem nächstbesten Gildenvertreter Bescheid.“
Das schien Alena wenig Angst einzujagen. Doch Jorak ließ den Ast liegen, mit dem sie geübt hatten. Ihm war der Spaß an der Lektion vergangen. Alena hat etwas Besseres verdient als einen Gildenlosen, ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Ich bin nicht gut für sie. Ich bringe sie in Schwierigkeiten. Wie soll das nur weitergehen? Vor allem dann, wenn keine dieser verdammten Gilden mich aufnimmt?
„Lassen wir´s gut sein für heute, ich bin müde“, sagte er laut. Schon bald darauf rollte er sich in seine Decke.
***
Alena schielte zu Jorak hinüber. Er hatte sich auf die andere Seite ihres Feuers verzogen und mit dem Rücken zu ihr gelegt. Es war ziemlich klar, dass er jetzt keine Gesellschaft wünschte.
Ich war zu ungeduldig mit ihm, dachte Alena schuldbewusst. Rostfraß, ich hätte ihn nicht so anbrüllen sollen, als er diesen Abwehrschlag verpatzt hat. Das war sowieso ziemlich dumm von mir, weil uns dadurch diese Erd-Gilden-Glucken gehört haben. Ich scheine doch kein Talent zum Unterrichten zu haben. Schade!
Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, zog Alena ihr Smaragdschwert, legte es quer über ihre Knie und kramte einen Lappen und Polierpaste aus ihrem Gepäck. Sie strich über den grünen Edelstein im Griff, begann dann geduldig die schmale Klinge auf Hochglanz zu bringen. So ein Schwert braucht Jorak, dachte Alena. Einen leichten Zweihänder. Der passt zu dem Kampfstil, den ich ihm beibringen will.
Wenn man die Klinge etwas schräg hielt, konnte man die fein eingravierten Buchstaben lesen, das Gedicht ihres Vaters. Ein Hauch der Ewigkeit, begann es. Das hatte Tavian für Alix geschrieben. Alena seufzte. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, ihre Mutter „wiederzuentdecken“, wie Jorak es vorgeschlagen hatte. Vielleicht sich mit Menschen treffen, die in Alix´ Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten? Aber mit wem zum Beispiel? Sie wusste nichts über das Leben von Alix, bevor sie Rena und Tavian kennengelernt hatte. Pa hatte nur erzählt, dass sie Agentin für den Rat der Feuer-Gilde gewesen war.
Als Alena beim besten Willen kein Stäubchen mehr auf ihrer Klinge erkennen konnte, legte auch sie sich zum Schlafen nieder – eine Armlänge von Jorak entfernt, um ihn nicht aufzuwecken. Sie behielt die Hand am Griff ihres Schwerts, denn ihre eigenartige Waffe hatte die Macht, ihr Träume zu senden. Träume, die etwas über die Zukunft verrieten oder ihr halfen.
Doch Alena schlief traumlos und tief.
Am nächsten Tag schien zu Alenas Erleichterung alles wieder im Lot, keine wütenden Gildenvertreter waren erschienen und Joraks Guten-Morgen-Kuss war verliebt wie eh und je. Bei Sonnenaufgang wanderten sie weiter. Je weiter sie sich von Ekaterin, der großen Handelsstadt, entfernten, desto schmaler wurden die Wege; aber immerhin waren sie noch breit genug, um sie mit einem Dhatla benutzen zu können. Sie sahen kaum noch Felder und wanderten jetzt fast nur noch durch tiefe Wälder, rechts und links des Pfades war das Dickicht undurchdringlich. Kühl war es hier, die Kronen der Bäume ließen kaum Sonnenlicht durch.
Cchraskar schlurfte nicht mehr gelangweilt hinter ihnen her, sondern lief voran und witterte immer wieder neugierig, die dunklen Augen blank und aufmerksam. „Nicht viel Dörflinge hierrr“, knurrte er und Alena nickte. Stimmt, ihnen war schon seit längerer Zeit niemand mehr entgegengekommen.
Woran das lag, stellten sie am Nachmittag ihres zweiten Reisetages fest. Erschrocken musterten sie die Verwüstungen vor ihnen: Der Pfad war durch eine gewaltige Schlammlawine verschüttet, feuchte Massen von Matsch und Steinen, durch die sich noch immer Wasserrinnsale schlängelten. Kreuz und quer ragten entwurzelte Bäume aus dem Schlamm hervor. Cchraskar verschränkte die Pfoten. „Iccch gehe da nicht rein, ich nicht!“
Alena versuchte es, sank bis zu den Schienbeinen ein und machte, dass sie wieder zurückkam. „Rostfraß, hier kommen wir nicht weiter!“
Auf einem Baumstamm hockend diskutierten sie, was sie tun konnten. „Vor einer Stunde habe ich gesehen, dass ein Weg abgezweigt ist“, meinte Alena. „Wie wäre es, wenn wir den nehmen?“
Jorak nickte. „An den kann ich mich auch erinnern. Er führt wenigstens in die richtige Himmelsrichtung.“
Der Pfad, der abzweigte, war so klein, dass sie ihn fast übersehen hätten. Aber er war besser als nichts. Cchraskar trippelte auf seinen kurzen Beinen voran, Alena und Jorak folgten ihm. An diesem Abend fanden sie keine Lichtung, auf der sie rasten konnten, und sie mussten sich einen Lagerplatz freihacken. Alena benutzte ihr Smaragdschwert dafür und spürte seinen Widerwillen dagegen, die Pflanzen zu durchschneiden. Schwer und plump lag es in ihrer Hand.
Am nächsten Tag wanderten sie weiter. Und als die Sonne im Zenith stand, fanden sie die toten Vögel. Aufgeregt flitzte Cchraskar im Unterholz umher. „Hier ist einer, und hier noch einer!“, fauchte er. Überall lagen tote Vögel herum, alle Arten waren darunter, vom Rubinvogel bis zum Quidipa. Sie befanden sich in verschiedenen Stadien der Verwesung. Manche schienen gerade erst gestorben zu sein, andere waren nur noch ein zerfleddertes Bündel Federn und Knochen. Ratlos stupste Alena einen der kleinen Körper mit der Schwertspitze an. „Schwer zu sagen, woran der hier gestorben ist. Gebrochener Flügel, glaube ich.“
„Bei dem hier auch“, rief Jorak, der bekümmert einen toten Gelbfeder-Bussard inspizierte. „Was kann hier passiert sein? Es sieht aus, als wäre er gegen ein Hindernis geflogen. Aber er hätte ja blind sein müssen, um die Bäume nicht zu sehen!“
Verstört setzten sie ihren Weg fort.
***
Rena und Tjeri mussten zu ihrem Haus in Vanamee zurückkehren. Noch immer ging es Rena schlecht, sie fühlte sich schwach und apathisch. Es war, als hätte der Tod ihres Baumes ihren Körper jede Kraft gekostet. Die Heilerin der Erd-Gilde, die sie kommen ließen, zuckte nur die Schultern: „So was dauert, du musst dich eben eine Weile schonen.“ Schlimm fand Rena auch, dass ihr nicht einmal ein Stück Holz von ihrem Baum geblieben war – die übereifrigen Diener der Burg hatten den Stamm schon zu Wagenrädern verarbeitet. Ihre Viveca, zu Wagenrädern!
Tjeri wies alle Ratsuchenden ab, die Rena sprechen wollten. Er brachte ihr einen Trank mit Yerba Nierro ans Bett, betrachtete sie besorgt und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Rena musste die Tasse mit beiden Händen halten, um sie nicht fallenzulassen. „Ich muss irgendetwas unternehmen“, sagte sie.
„Verdammt, Rena, du bist krank.“ Tjeri seufzte. „Außerdem gibt es genug andere Leute, die für Daresh verantwortlich sind.“
„Ja, und?“ Rena dachte nach. „Ich glaube, der erste wichtige Schritt wäre, mehr über die Kinder herauszufinden. Dann können wir uns ja immer noch entscheiden, wie man mit ihnen umgehen sollte.“
Tjeri nickte. „Auf jeden Fall wird es besser sein, bald etwas zu tun ... jetzt kann man sie vielleicht noch lehren, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen sollten. Vielleicht kann man sie sogar noch dazu bringen, dass sie sich für das schämen, was sie anderen Menschen angetan haben.“
Rena fröstelte und wickelte sich enger in ihre Decken. „Aber wenn sie verwöhnt und mächtig aufwachsen und schließlich Erwachsene sind ... dann sieht´s böse aus für uns alle.“
Sie beschloss in der kommenden Woche nach Karénovia zu reisen. Dort, in der abgelegenen Gegend am Schnittpunkt dreier Provinzen, waren die Kinder aufgewachsen und entdeckt worden.
Wie erwartet war Tjeri nicht begeistert von ihren Plänen. „Nächste Woche? Brackwasser, ich fürchte, dann müsstest du allein losziehen. Ich habe ein paar wichtige Aufträge.“
„Ich komme schon klar“, versicherte ihm Rena, obwohl ihr beim Gedanken, allein zu reisen, nicht ganz wohl war. Was, wenn sie einen Rückfall hatte?
„Weißt du was – Ruki könnte mit dir kommen“, schlug Tjeri vor. „Er kann mir oder einem anderen deiner Freunde schnell Bescheid geben, falls du in Schwierigkeiten gerätst.“
Rena lächelte. „Gute Idee.“ Ruki, ein Storchenmensch, hatte sie bei ihrer Reise zum Smaragdgarten begleitet. Damals war er ein kleiner, fetter Außenseiter gewesen, den seine Sippe verstoßen hatte. Nach der Reise mit ihr hatte er im Grasmeer neue Gefährten gefunden. Inzwischen war er längst ausgewachsen und arbeitete hin und wieder als fliegender Kundschafter und Bote im Dienst des Rates.
Keine drei Tage später – es war ein windiger, regnerischer Tag – landete jemand vor ihrem Haus. Er schüttelte lautstark seine nassen Federn und hob abwechselnd die Klauenfüße, wenn mal wieder eine Welle den Steg überspülte. „Alles nass, nass, nass!“
„Ruki! Sag bloß, du hast dich immer noch nicht ans Wasser gewöhnt!“ Lachend umarmte Rena ihren alten Freund. Seidig-glatt fühlten sich die großen schwarz-weißen Schwungfedern seiner Arme an, als er sie an sich drückte. Inzwischen überragte er sie und sie musste zu ihm aufblicken, wenn sie ihm ins Gesicht sehen wollte. Wirklich dürr – so wie die anderen Storchenmenschen – war er nie geworden, aber seine Flugmuskeln schienen kräftig genug, das auszugleichen.
„Iich habe eiine Nachricht für diich, Rena“, verkündete er stolz und zog ein Pergament hervor. Neugierig rollte Rena die Nachricht auseinander. Sie war von Alena. Schnell überflog Rena die wenigen Zeilen.
„Sie reisen gerade nach Nerada, dort darf sich Jorak dem Hohen Rat der Luft-Gilde vorstellen“, berichtete Rena ihrem Gefährten. „Ich wünsche ihm so sehr, dass er wirklich von einer Gilde aufgenommen wird!“
„Eher wird der Regen von unten nach oben fallen, fürchte ich“, sagte Tjeri. „Aber ich wünsche ihm auch, dass es klappt. Wenn wir Kinder gehabt hätten, wären sie heute wahrscheinlich in der gleichen Lage wie er.“
Rena verzog das Gesicht. „Ja. Leider denken noch viel zu viele Leute, dass Schlamm rauskommt, wenn sich Erd- und Wassergilde vermischen.“
Sie kannte Alena schon von Kindheit an, ihre Mutter Alix war Renas beste Freundin gewesen. Doch wirklich befreundet waren sie und Alena erst seit einem Winter, seit ihren Erlebnissen in Ekaterin. Auch Tjeri verstand sich gut mit ihr und Jorak. Als die beiden zu Besuch im Seenland gewesen waren, hatte er sie zwar nicht zu einem Bad im See überreden können. Dafür hatte er ihnen ein paar Tricks beigebracht, wie man beim Tauchen länger die Luft anhalten konnte. Also genau das, was jemand wissen musste, der die meiste Zeit in einer Wüste lebte.
Rena war gespannt, wann sie und Alena sich wiedersehen würden. Vielleicht schon bald? Das Schicksal würde es zeigen.