Читать книгу Feuerblüte III - Катя Брандис - Страница 8

Der Geschichtenerzähler

Оглавление

Alena stieg vorsichtig über einen toten Vogel hinweg, der mitten auf dem Pfad lag, und spähte voraus. „Da hinten wird es heller. Sieht so aus, als wäre der Wald dort zu Ende.“

Kurz darauf brach der Weg ab. Der Anblick, der sich ihnen bot, machte sie stumm vor Staunen. Vor ihnen erstreckte sich ein Wald ganz anderer Art. Die Morgensonne schien durch unzählige, fast durchsichtige Stämme hindurch. „Ein Wald aus Glas“, flüsterte Jorak. „Wunderschön ...“

Alena nickte und sah sich fasziniert um. Dünn waren sie, diese Bäume, lang und gerade wie Lanzen. Nur wenige waren überhaupt so dick wie Alenas Handgelenk, bei dieser Sorte war das Glas leicht trübe. Es gab alle Farbvarianten, von farblos bis zu einem zarten Rosa, Gelb oder Blau. Das Licht brach sich in den Glasstäben, zeichnete eigenartige Linien auf den Boden. So dünn die Gebilde auch waren, sie schienen so hoch zu sein wie normale Bäume. Weit, weit oben konnte man, wenn man genau hinsah, winziges, durchscheinendes Blattwerk erkennen. Seitenäste sah Alena gar keine.

Bei aller Schönheit dieses Waldes – Alena fand ihn auch unheimlich. Sie musste an die Vögel denken, die in dieser Gegend den Tod gefunden hatten. Wahrscheinlich, weil sie die durchscheinenden Stämme nicht gesehen hatten und dagegen geflogen waren. Verletzt hatten sie dann versucht zu fliehen. „Erkennst du irgendeinen Pfad?“, fragte sie Jorak, doch ihr Freund schüttelte den Kopf.

„Fürchte, wir müssen uns einen Weg mitten durch bahnen. Vielleicht sollten wir besser zurückgehen? Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir hier weiterkommen, ohne eine Menge kaputtzumachen. Und das wäre wirklich eine Schande.“

Alena musste ihm recht geben. „Aber zurückzugehen bringt auch nichts, wir würden uns nur verirren. Lass es uns mal mit dem Glaswald versuchen. Wir müssen eben vorsichtig sein.“

Cchraskar schnupperte an einem Baum, streckte dann die Zunge heraus und leckte daran. „Ccriecht nach nix, schmecckt nach nix“, stellte er enttäuscht fest. Er inspizierte den Boden und verzog das Gesicht, als er feststellte, dass hier an nicht wenigen Stellen Scherben lagen, die Reste von gesplitterten Stämmen. Alena opferte eine Ersatztunika und half ihm seine Pfotenhände mit dem Stoff zu umwickeln. Das war zwar kein echter Schutz, aber besser als nichts.

Alena übernahm die Führung. Vorsichtig schob sie sich zwischen den dünnen Stämmen hindurch, versuchte auf dem Boden irgendeinen Pfad oder Fußspuren zu erkennen. Vergeblich.

Es war Übungssache, sich zwischen den Glasbäumen hindurchzuwinden – zum Glück standen sie nicht allzu eng, immer war ein paar Fußbreit Platz zwischen ihnen. Es half, dass die Sonne schien, dadurch sah man die Stämme besser. Doch dann prallte Alena mit dem Gesicht gegen etwas Hartes und hörte ein scharfes, trockenes Knacken. „Au! Habe ich einen Baum abgebrochen?“ Aber wo war das Ding? Sie sah nichts!

Jorak riss sie zurück, zu sich hin. Instinktiv drehte Alena sich herum und barg das Gesicht an seiner Brust. Doch das gläserne Klirren hörte sie trotzdem. Ein Klirren, das schnell zu einem Splittern wurde. Cchraskar jaulte auf, und kurz darauf zuckte auch Alena zusammen, als sie einen scharfen Schmerz im Rücken spürte.

Irgendwann war es vorbei. Vorsichtig richteten sie sich auf und musterten grimmig die Reste des Baumes um sie herum. Er war nur fingerdick gewesen und so durchsichtig, dass die Bruchstücke selbst jetzt kaum zu sehen waren.

Sie zogen sich gegenseitig die Splitter heraus. Alena hatte etwas am Rücken abbekommen und Jorak am Kopf; zum Glück waren die Wunden nicht tief und hörten schnell auf zu bluten.

„Der Baum muss ein ganz junges Exemplar gewesen sein“, stellte Jorak fest; seine Stimme klang zittrig. „Die sind anscheinend noch nicht trübe, sodass man sie kaum sieht. Beim Nordwind, wenn man gegen so ein Ding stößt, dann kommt es auf einen herunter wie eine Lanze!“

Es half nichts, sie mussten weiter. Vorsichtig tasteten sie mit den Händen voran, immer darauf gefasst, auf einen der fast unsichtbaren Stäbe zu stoßen, ständig in der Angst, einen der größeren Bäume zu beschädigen, der dann alle anderen Lanzen in der Umgebung auf sie herunterreißen würde. Tiere sah Alena keine, von Menschen ganz zu schweigen. In diesem Wald schien nichts zu leben – nur ein paar Insekten bemerkten sie, auch sie waren durchsichtig. In ihren winzigen Körpern konnte Alena die Organe pulsieren sehen.

Es dauerte drei Tage, bis sie völlig erschöpft, verschwitzt und dreckig aus dem Glaswald herausstolperten.

Ungläubig sahen sie einen Ort vor sich, einen ganz normalen Ort der Erd-Gilde, in dem Menschen zwischen grün bewachsenen Erdhäusern hindurch schlenderten, unter freiem Himmel einen Baumstamm bearbeiteten, einen Hirschmenschen mit frischen Karededa-Wurzeln belohnten und Steinplatten von einem Wagen luden. Am liebsten hätte sich Alena einfach fallenlassen und auf diesem saftigen Gras ausgestreckt. Im Glaswald hatte es kaum einen Platz gegeben, an dem man liegen konnte, und so hatten sie nur wenig Schlaf bekommen.

Alena war zu müde, um so zu tun, als würde sie Jorak nicht kennen, als würde sie nicht mit ihm zusammen reisen. Außerdem widerstrebte ihr das im tiefsten Herzen. Sollen sie uns doch verpetzen, wenn sie wollen, dachte sie trotzig.

Als die Menschen sie sahen, unterbrachen sie ihre Arbeit und starrten sie an. „Seid ihr drei etwa durch den Lanzenwald gekommen?“, fragte einer von ihnen.

Jorak nickte. Er wankte vor Müdigkeit. „Wir wollten eine Abkürzung nehmen ... aber das war keine gute Idee ...“

„Können wir hier irgendwo Proviant kaufen, bevor wir weiterreisen?“, meinte Alena. Doch die Dörfler hatten sich schon grußlos abgewandt, beachteten sie nicht mehr oder gingen einfach davon. Verblüfft blickte Alena ihnen nach. „Was ist denn mit denen los?“

„Was wohl“, sagte Jorak schroff. „Sie haben gemerkt, dass ich ein Gildenloser bin. Hast du das vergessen?“

„Nein, habe ich nicht“, gab Alena ebenso patzig zurück. Warum regte er sich so darüber auf?

„Vielleicht sollte ich mich besser verstecken.“

„Lass mal, ist sowieso zu spät.“

„Verdammt, nächstes Mal müssen wir wieder drauf achten!“

Schweigend nickte Alena. Wir werden uns entscheiden müssen, dachte sie. Wenn wir die ganze Reise über so tun müssen, als würden wir uns nicht kennen, dann wird es anstrengend. Ach, Rostfraß, soll doch jeder sehen, dass wir zusammen sind, ich schäme mich nicht für ihn!

Wie sie erfuhren, hieß das Dorf Vidrano – und es gab auch einen normalen Weg, der aus ihm hinausführte. Ihre Strapazen hatten vorerst ein Ende. Erleichtert machte sich Alena auf den Weg zu einer kleinen Schänke in der Dorfmitte. „Wunderbar, da können wir ... äh, ich ... etwas zu Essen besorgen.“

„Ja, ich bleibe besser draußen – mir verkaufen sie sowieso nichts“, sagte Jorak und mühte sich ein Lächeln ab. „Na ja, Cchraskar wird mir Gesellschaft leisten.“

Jorak händigte ihr das restliche Geld aus, das er noch in der Tasche hatte, dann ging er mit Cchraskar davon.

Alena hatte gehofft, er würde sie noch einmal küssen. Traurig blickte sie ihm einen Moment lang nach, als er sich auf den Weg zum Rand des Dorfes machte. Es war sicher schwer für ihn, von den Menschen so schlecht behandelt zu werden – und noch dazu vor seiner Gefährtin. War das der Grund, warum er sich in letzter Zeit so seltsam benahm? Oder gab es noch andere Gründe? Hatte er sich das Zusammensein mit ihr anders vorgestellt? Vielleicht war sie doch nicht die Frau, die er sich erhofft hatte. Schließlich kannten sie sich nicht besonders gut, lange war er nur aus der Ferne in sie verliebt gewesen ...

Die Schänke lag in einem Erdhaus unter der Oberfläche, kühl und trocken war es darin. Ein Baum erhob sich direkt darüber und die Decke des Schankraumes war ein dichtes Netz aus Wurzelwerk. Manche der Wurzeln waren armdick und knorrig. Doch nicht das war es, was Alena erstaunte. Sie wunderte sich, dass selbst zu dieser Tageszeit ein Dutzend Menschen in der Schänke hockten. Bis sie sah, dass ein reisender Geschichtenerzähler hier war – das war immer ein Fest für die Einheimischen, besonders in abgelegenen Ortschaften wie dieser. Andächtig lauschend saßen die Dörfler um einen ziemlich seltsam aussehenden Kerl herum.

Alena hatte Hunger und der Wortwechsel mit Jorak echote noch in ihrem Kopf, ihr war nicht nach einer Geschichte zumute. Sie wollte gerade an der kleinen Gruppe vorbei auf den Wirt zugehen, als ihre Ohren einen vertrauten Namen auffingen und sie stutzte.

„... und als Alix Ekaterin verlassen hatte, wurden sie und Rena angegriffen von den Verschwörern des Roten Auges ...“

Den Namen ihrer Mutter zu hören – und ausgerechnet hier, im Nirgendwo dieser fremden Provinz! – berührte Alena tief. Sie blieb stehen und hörte zu.

„... Alix schaffte es, sie zu vertreiben, doch sie wurde verletzt dabei, und die Männer blieben ihr auf den Fersen, warteten, bis sie schwächer wurde. Also versuchten sie, Schutz bei den Iltismenschen zu suchen, obwohl das ein großes Risiko war, denn damals herrschte wenig Zuneigung zwischen Menschen und Halbmenschen ...“

Alena kannte die Geschichte. Damals, vor vielen Wintern, hatten Alix und Rena sich auf eine gefahrvolle Reise gemacht, um die verfeindeten Gilden gegen die Regentin zusammenzubringen. Rena hatte ihr davon erzählt, und gerade den Teil, wie sie bei den Iltismenschen Schutz gesucht hatten, mochte Alena besonders gerne. Der Geschichtenerzähler hatte Talent, wichtige Szenen schilderte er, indem er abwechselnd in die Rolle von Menschen und Iltissen schlüpfte und bei letzteren dramatisch fauchte und knurrte. Alena musste lächeln.

Sie besah sich den Mann genauer. Er war groß und blond wie viele Menschen der Luft-Gilde. Sein Gesicht mit dem breiten Mund war lebhaft in Bewegung, während er erzählte, und seine strahlendblauen Augen leuchteten – er genoss es offensichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Auf seiner Schulter saß ein kleiner dunkelbrauner Pfadfinder, der seine Jugend schon hinter sich zu haben schien. Gerade war er friedlich auf der Schulter des Erzählers eingenickt. Doch das Ungewöhnlichste an dem Fremden war sein langer Kapuzenumhang, den er über den Stuhl gehängt hatte. Er war aus Hunderten von verschiedenen bunten Stofffetzen genäht.

Nun war der Erzähler fast am Ende seiner Geschichte angelangt. „... und schließlich schafften die Iltismenschen es, Alix mit ihren eigenartigen Tänzen und Beschwörungen zu heilen, sodass sie und Rena ihre Reise wieder aufnehmen und ins Grasmeer weiterziehen konnten.“

Mit einer kleinen Verbeugung schloss der Geschichtenerzähler seinen Vortrag ab und sammelte die Münzen ein, die ihm seine Zuhörer hinschoben. Sein alter Pfadfinder schrak auf und blinzelte mit den Knopfaugen. Höflich beteiligte sich Alena an dem Applaus, obwohl der letzte Teil der Geschichte ziemlicher Blödsinn gewesen war. Iltismenschen tanzten und beschworen nicht. Rena selbst hatte ihr erzählt, dass die Halbmenschen Alix mit einem Pflanzenbrei geheilt hatten, und Alena neigte dazu, dieser Version zu glauben. Schließlich war Rena dabeigewesen.

Vielleicht sollte sie dem Luft-Gilden-Kerl berichten, wie es sich wirklich zugetragen hatte? Sie hätte auch gerne gewusst, welche Geschichten über ihre Mutter der Erzähler noch kannte. Alena zögerte. Doch dann steckte Cchraskar den Kopf durch die Tür und maunzte: „Wann kommt endlich das Essen, wann?“

Alena rief zurück: „Klingenbruch, du bist vielleicht verfressen!“ und ging nun doch zum Wirt hinüber.

Als sie – ausgerüstet mit einer Wildpastete, mehreren gerösteten Broten, einem Dutzend Pfeilwurzeln und einem Trinkbeutel mit frisch gebrauten Cayoral – zur Tür ging, merkte sie, dass der Geschichtenerzähler sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Plötzlich war es Alena zu peinlich, ihn anzusprechen, und verlegen ging sie an ihm vorbei nach draußen.

„Wo warst du so lange, wollte der Wirt nichts rausrücken?“, fragte Jorak missmutig.

Schon wieder Vorwürfe. Alenas Freude sickerte weg und sie küsste ihn nicht, wie sie es vorgehabt hatte. „Es war ein Geschichtenerzähler da, ich hatte Lust, einen Moment zuzuhören.“

„Meinssst du den da?“, erkundigte sich Cchraskar.

Alena blickte überrascht auf, als ein bunt gekleideter Mann aus der Schänke gestürzt kam. Der Geschichtenerzähler! Wild blickte er sich um, dann rannte er direkt auf sie zu.

„Schnell! Versteckt mich!“, flüsterte er und kauerte sich hinter sie und Cchraskar.

Verdutzt blickte Alena ihn an, aber Jorak reagierte instinktiv und warf seinen dunklen Umhang über den jungen Mann. Schnell setzten sie sich so, dass sie ihn verdeckten, und aßen weiter, um einen friedlichen und unschuldigen Eindruck zu machen. Vielleicht hat der Gute die falsche Geschichte erzählt, überlegte Alena neugierig. Oder einen Witz zum Besten gegeben, der nicht so gut angekommen ist ...

Ein paar Atemzüge nach dem Erzähler stürmte auch der Wirt nach draußen und blickte sich wutentbrannt um. Doch er sah nichts Verdächtiges und zog sich schließlich grollend wieder in sein Erdhaus zurück. Kaum war er verschwunden, warf der blonde Erzähler seine Abdeckung von sich und streckte seinen langen Körper.

„He, danke, Leute“, meinte er fröhlich. „Muss los!“

Innerhalb von ein paar Atemzügen hatte er den Waldrand gegenüber des Glaswalds erreicht und war zwischen den Stämmen verschwunden.

„Was war das denn?“, fragte Alena kopfschüttelnd.

Interessiert blickte Jorak dem Blonden hinterher. „Lustiger Vogel. Vielleicht hat er die Zeche geprellt.“

„Oh. Dann hat er uns ja zu Komplizen gemacht!“

Jorak zuckte die Schultern. „Und wenn schon. Ich helfe lieber jemandem, der verfolgt wird, als dem Verfolger.“

Alena nickte – es ging ihr genauso. Sie ärgerte sich nur darüber, dass sie den Geschichtenerzähler vorhin in der Schänke nicht einfach angesprochen hatte. Damit hatte sie sich eine wertvolle Chance entgehen lassen, mehr über Alix zu erfahren!

Doch die Gelegenheit, das nachzuholen, sollte schneller kommen, als ihr lieb war.

***

Von allen Farbwäldern, die es in Daresh gab, fand Jorak den Blauen Wald am eindrucksvollsten. Hier glänzten die Blätter in allen Schattierungen von Hellblau bis zum tiefen Indigo. Doch durch diesen Wald zu reisen war nicht sehr angenehm: Die Baumart, die hier wuchs, hatte kurze, massige Stämme und dichte Kronen. Es drang kaum Licht hindurch zum Boden, man brauchte selbst dann eine Lampe oder Fackel, wenn die Sonne am höchsten stand und den Wald in ein traumhaft blaues Licht tauchte.

„Niccht meine Lieblingsfarrbe“, teilte Cchraskar ihnen mit.

Alena blickte interessiert auf. „Hast du denn eine? Das wusste ich gar nicht.“

„Manchmal blaugrau. So wie das Fell von Nachtwisslern. Manchmal rot. Hübsch, das. Manchmal auch Gelb. Wie die Sonne. Wärmt so schön, wärmt.“

Jorak musste lächeln. „Wenn du ein Mensch wärst, würdest du dir wahrscheinlich auch so einen scheußlich-bunten Mantel zulegen wie dieser Geschichtenerzähler.“

Wie durch einen glücklichen Zufall stießen sie gegen Abend auf eine Schänke – es war das erste Haus, das sie seit ihrem Abschied aus dem Dorf sahen. Dem gedrungenen Gebäude der Erd-Gilde dienten vier lebende Bäume als senkrechte Eckbalken. Man konnte leicht sehen, dass das Haus schon sehr alt war. Dadurch, dass die Bäume wuchsen, hatten die Bewohner oben schon ein paar Stockwerke anbauen können.

„Ich glaube, heute können wir uns mal ein richtiges Bett leisten“, stöhnte Alena.

Jorak nickte grimmig. „Falls sie einen wie mich reinlassen. Einen Versuch ist es wert.“ Wie so oft schlug er den Kragen seines Umhangs hoch, damit er nicht so leicht als Gildenloser zu erkennen war. Er wollte auf keinen Fall, dass sich die Blamage von gestern wiederholte. Es war ihm furchtbar peinlich, dass Alena nun praktisch für ihn sorgen musste, weil niemand ihm etwas verkaufen würde. Natürlich hätte er problemlos etwas zu Essen besorgen können, er war gewohnt, sich zu beschaffen, was er brauchte. Aber nachdem Alena über die mögliche Zechprellerei dieses Erzählers so entsetzt gewesen war, hatte er seine Zweifel, ob eine zusammengestohlene Mahlzeit ihr schmecken würde – und das wäre dann noch viel, viel peinlicher!

Mit den Fackeln, die vor den Türen leuchteten, und dem traditionellen Gasthaus-Schild, das zwei ineinander verschränkte Hände zeigte, wirkte das Gebäude sehr einladend. Der Wirt, der ihnen entgegentrat, war ein dunkelhaariger, muskulöser Mann mit dichtem Bart – sein Amulett wies ihn als einen der friedlichen Erdleute aus. „Friede den Gilden!“, sagte er mit einer tiefen, heiseren Stimme. „Kommt doch rein.“

Jorak war froh, dass er es so problemlos geschafft hatte, ins Gasthaus zu gelangen. Aber nur, bis das Essen kam. Eine mürrische Frau brachte ihnen ein Mahl aus angebrannten Frühlingsmehl-Pfannkuchen und völlig zerkochten Kurg-Sprossen. „Entweder hat der Koch zu viel Beljas gekaut oder er ist einfach schlecht“, murmelte Alena und verzog das Gesicht.

Außer ihnen waren nur zwei andere Gästepaare da, die nach dem exotischen Schnitt ihrer Kleidung von weither zu kommen schienen – Jorak tippte auf Vanamee und den Süden von Nerada. Sie hatten schon ein paar Polliak intus, waren aber trotzdem noch klar genug im Kopf, um sich über das schlechte Essen zu beklagen.

„Komisch“, sagte Cchraskar und hob das Gesicht in die Luft, um zu schnuppern. „Der Witterung nach müssten eigentlich viel mehr Leute da sein, viel mehr.“

Alena blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. „Seltsam. Vielleicht riechst du die Gäste, die vorher hier waren?“

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür und ein blonder Mann mit buntem Mantel schlenderte herein. Jorak musste ein Auflachen unterdrücken. Da war er wieder, der Geschichtenerzähler! Na, diesmal würde er ihnen einiges erklären müssen.

Der Erzähler setzte sich, winkte den Wirt heran – und runzelte die Stirn. Jorak konnte verstehen, was er sagte: „He, wo ist Zentar? Krank etwa?“

„Krank, ja“, erwiderte der Wirt mit seiner heiseren Stimme. „Ich bin sein Cousin und helfe hier aus.“

Der Fremde betrachtete die Bedienung. „So. Und Arelyn?“

„Auch krank. Sie haben sich alle angesteckt. Ein Pech aber auch!“

Langsam stand der Geschichtenerzähler auf. „Schade, eigentlich wollte ich die beiden nur begrüßen und dann weiterreisen.“ Doch dann fiel sein Blick auf Jorak und Alena. Er zögerte, setzte sich dann ganz langsam wieder. „Aber vielleicht nehme ich doch ein Zimmer für die Nacht.“

Was geht hier eigentlich vor?, dachte Jorak. Gerade wollte er Alena vorschlagen, sich zu dem Fremden hinüberzusetzen und sich mit ihm zu unterhalten, da traf ihn ein warnender Blick des Erzählers. Irgendwie begriff Jorak, was der Fremde ihm damit sagen wollte. Zeigt nicht, dass ihr mich kennt!

„Lasst uns hochgehen auf unsere Zimmer“, schlug Jorak stattdessen vor, und Alena nickte. Cchraskar tappte hinter ihnen her, als sie sich vom Wirt ihr Zimmer zeigen ließen. Es war eine fensterlose, kleine Kammer ganz oben im Gasthaus, unter einer Dachschräge aus roh gezimmerten Balken. Außer einem Bett, einem runden Teppich aus Kirwani-Wolle und einer Waschschüssel enthielt sie nichts. Es roch nach Holz und frisch gewaschenem Bettzeug.

Beim ersten Blick auf das gemütlich aussehende Bett stellte Jorak fest, dass auch er todmüde war. Er hatte sich immer noch nicht ganz an den Luxus gewöhnt, in einem richtigen Bett zu nächtigen statt auf der Straße oder in einem Stall.

Aber auch das wäre ihm jetzt egal gewesen, Hauptsache er konnte mit Alena zusammen sein. Manchmal schien ihm sein Glück noch immer unfassbar. Kaum hatte der Wirt die Tür hinter sich geschlossen, nahm er Alena in die Arme und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe, Feuerblüte?“

Alena lachte. „Heute noch nicht“, meinte sie und küsste ihn, bis ihnen beiden die Luft ausging. Dann warf sich Alena angezogen aufs Bett. „Morgen unterhalten wir uns aber mit diesem Erzähler. Dann soll er uns nochmal erklären, was in Vidrano los war!“

Jorak nickte. „Er hat mir vorhin einen ganz seltsamen Blick zugeworfen. Keine Ahnung, was das alles soll.“

„Jedenfalls hat er uns schon mal die Erklärung geliefert, warum das Essen hier so schlecht ist. Wenn der Wirt und die Köchin krank sind, kann das ja nichts werden.“

„Na, hoffentlich stecken wir uns nicht an. Vielleicht hätten wir doch im Wald übernachten sollen.“

Jorak streifte sich das Hemd über den Kopf, um sich zu waschen. Das Wasser war eisig kalt, aber klar und frisch. Gerade als er sich gründlich abreiben wollte, klopfte es leise und verstohlen an die Tür. Mit einem Satz sprangen Alena und Cchraskar auf.

Draußen stand der blonde Geschichtenerzähler. „Schnell, lasst mich rein, bevor mich jemand sieht! Es ist wichtig!“

„Na, da bin ich ja mal gespannt“, sagte Alena.

„Du kannst gerne unterss Bett kriecchen, unters Bett, da findet dich keiner“, schob Cchraskar nach.

Der Blonde verzog das Gesicht und schlich sich herein. „Nur, dass eins klar ist“, flüsterte er. „Ich bin nur wegen euch geblieben – sonst wäre ich jetzt schon weit weg und in Sicherheit.“

„Was meinst du damit, in Sicherheit?“ Jorak legte den Lappen hin, mit dem er sich gewaschen hatte.

„Habt ihr nicht gemerkt, dass hier etwas gewaltig faul ist? Das Gasthaus in der Hand von völlig fremden Leuten, und dass der Wirt und alle seine Leute krank sind, nehme ich denen keinen Moment lang ab!“

Jetzt waren Jorak und Alena wieder hellwach. „Was hat das zu bedeuten?“

„Ganz einfach“, sagte der Fremde; seine blauen Augen funkelten im schwachen Licht. „Nach dem Aufgang des dritten Mondes, wenn man euch und die anderen Gäste im seligen Schlaf wähnt, werden vermutlich Bewaffnete von Zimmer zu Zimmer ziehen und alle Gäste um ihre Wertsachen erleichtern. Besagte Räuber warten im Moment sehr wahrscheinlich im Keller darauf, dass es endlich losgeht.“

Erschrocken blickte Jorak ihn an. Er wusste sofort, dass der Geschichtenerzähler recht hatte, und verfluchte sich dafür, dass er das alles nicht selbst rechtzeitig begriffen hatte. Zwar besaß er nicht viel, aber sein Dolch war wertvoll und er hätte lieber einen Finger seiner Hand hergegeben als seine selbst geschnitzte Flöte. Außerdem konnte es sein, dass die Räuber ihre Opfer anschließend umbrachten, damit es keine Zeugen gab. „Kommen wir noch raus?“

„Vergiss es. Die lassen euch nicht mehr gehen.“

„Aber warum haben sie sich die ankommenden Reisenden nicht gleich in der Gaststube vorgenommen?“, mischte sich Alena ein.

Der Erzähler zuckte die Schultern. „Anscheinend wollen sie keinen offenen Kampf riskieren. Es muss ja nur einer entwischen, um die ganze Sache auffliegen zu lassen.“

„Wir wissen nicht, wie viele Leute es sind“, überlegte Alena. „Wenn wir Glück haben, zu wenige, um es mit wachen und gewarnten Gästen aufzunehmen.“

„Aber vielleicht bekommen sie heute Nacht auch noch Verstärkung aus dem Wald.“

„Die sssollen ruhig kommen!“, fauchte Cchraskar. „Bisschen kämpfen ist gut für den Kreislauf, gut!“

Jorak verzog das Gesicht. Seinem Kreislauf wäre mit einer Runde Schlaf besser gedient gewesen. Er und Alena waren so erschöpft von ihrer Reise durch den Lanzenwald, dass sie im Moment besser keinen Kampf riskierten.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Alena den Blondschopf.

Der verzog den breiten Mund zu einem Grinsen. „Finley ke Nerada. Bin zwar Geschichtenerzähler, sage aber ansonsten meistens die Wahrheit. Und ihr?“

Nachdem sie sich vorgestellt hatten, beschlossen sie, dass sie sich vorübergehend trennen würden – Jorak und Cchraskar sollten sich durchs Haus schleichen und die anderen Gäste warnen. Alena und Finley würden nach unten gehen und möglichst weit unten auf der Treppe Wache halten, damit sie nicht von den Räubern überrascht werden konnten.

„Nar dann los“, brummte Cchraskar und trippelte neben Jorak her zu den anderen Zimmern.

***

Das Karénovia-Tal war eine abgelegene Gegend abseits der Handelsrouten – der nächstgrößere Ort, Novias, lag fünf Stunden Fußmarsch entfernt auf der anderen Seite der Berge.

Ganz ähnlich wie hier sieht es in den Vorbergen des Alestair-Gebirges aus, wo der Tempel des Orakels heute steht, dachte Rena, als sie über den Bergpass kraxelte und vorsichtig den von Wildblumen gesäumten schmalen Pfad zum Talgrund abstieg. Vielleicht mögen die Drillinge einfach die Berge und wollen ihnen nah sein?

Kleine Steinchen kollerten vor ihren Füßen davon, und Rena graute davor, zu stolpern und über die Kante in den Abgrund zu fallen. Wie alle Menschen der Erd-Gilde hatte sie Höhenangst. „Ich glaube, mir wird gleich schwindelig“, stöhnte sie und presste sich mit dem Rücken gegen die Felswand.

„Ist doch toll hiiier!“ Ruki schwebte über ihr vergnügt in den Aufwinden, die die Flanken der Berge hochströmten. Manchmal waren seine großen Schwingen kaum eine Menschenlänge von dem grauen Fels entfernt, der von Höhlen durchzogen war. In vielen der Höhlen nisteten Bergzarahs, wendige graue Vögel mit spitzen roten Schnäbeln. Das Piepen ihrer Brut klang wie ein vielstimmiger Chor.

Trotz ihrer Angst musste Rena zugeben, dass die Aussicht etwas für sich hatte. Wenn man sich um die eigene Achse drehte, konnte man gleich drei Provinzen sehen: Im Nordosten blickte man ins grüne Alaak, im Westen schimmerte das Seenland verheißungsvoll zu ihr herauf, und im Südosten, auf der anderen Seite der Berge, erstreckte sich das schroffe, trockene Tassos.

Von hier oben erkannte man, dass die Menschen im Tal nicht sehr gesellig zu sein schienen – der Kern des Ortes lag neben einem See und umfasste nur zwei Dutzend zusammengewürfelt aussehende Hütten. Der Rest verteilte sich in Form von abgelegenen Höfen. Auf einem davon mussten die Drillinge des Orakels geboren sein; mitten im Ort hätte man ihre Existenz nie geheim halten können.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie ihre Eltern gestorben sein könnten, überlegte Rena. War es wirklich ein Unfall und pures Pech? Hatten sie Selbstmord begangen? Hatte irgendein Erwachsener sie umgebracht – oder waren es die Kinder selbst gewesen? Noch konnte sie keine dieser Möglichkeiten ausschließen. Nur eines war sicher, der Rat hatte sich bisher nicht um die Angelegenheit gekümmert und keine Nachforschungen angestellt. Vielleicht wollten er gar nicht so genau wissen, was damals vor ein paar Wintern passiert war, Hauptsache, er hatte sein Orakel.

Je näher Rena dem Dorf kam, desto erstaunter war sie. Einige der Hütten gehörten unverkennbar zur Luft-Gilde, waren aus Gras geflochten und hatten nur dünne Strohdächer. Aber sie sah auch Erdhäuser, Pyramiden nach Art der Feuer-Gilde und aus Stein gebaute Gebäude. Und wenn sie nicht alles täuschte, dann war auch der See bewohnt – im flachen Bereich sah sie den silbrigen Stoff von Luftkuppeln schimmern, wie sie die Menschen der Wasser-Gilde bauten. Alle vier Gilden in einem Ort! Sieht so aus, als wäre man dem Rest von Daresh hier meilenweit voraus, dachte Rena erfreut.

Neugierig ging sie zu einem der Felshäuser, das ein Dach aus glattem schwarzen Stein und sorgsam zugemauerte Fenster hatte, und stieß den traditionellen Begrüßungsruf aus. Drinnen hörte sie ein Rumoren, dann wurde die Tür aufgerissen und aus dem Halbdunkel im Inneren spähte ein spitzes, misstrauisches Gesicht mit den großen Augen der Erd-Gilde. Rena begann freundlich: „Friede den Gilden, tani, ich ...“

„Was wollt Ihr?“

„Nur ein paar Fragen stellen ... ich interessiere mich für ...“

„Scher dich weg!“

Verblüfft machte Rena einen Schritt zurück. „Ich wollte doch nur ...“

Die Tür knallte zu.

„Wurzelfäule und Blattfraß“, sagte Rena. Warum hatte sich die Frau bloß so angestellt? Hasste man Fremde hier oder hatte sie etwas zu verbergen? Auf diesen Schreck setzte sie sich lieber erst mal ans Ufer des Sees und kühlte ihre Füße im Wasser. Mit rauschenden Schwingen setzte Ruki neben ihr auf und grub die Zehen in den Ufersand. „Beim Nordwind, iiich habe Hunger. Gibt´s hier was zu Essen?“

„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, seufzte Rena und lächelte.

Es dauerte einen halben Tag, bis sie herausgefunden hatten, welches Haus einmal den Eltern des Orakels gehört hatte. Ruki flog voraus und meldete ihr, wie weit es entfernt war und dass es leerstand. Rena wanderte los und gegen Nachmittag war sie da. Mitten auf einer bunten Sommerwiese kauerte ein flaches Steingebäude mit grasbewachsenem Dach, aus dem ein Schornstein hervorlugte. Hinter dem Haus strömte ein zwei Menschenlängen breiter Fluss entlang. Das Haus begann schon zu zerfallen; auf dem Dach erhoben sich stolz wie Eroberer ein halbes Dutzend junge Bäume.

Rena stapfte durch das hohe Gras der Wiese, umrundete das Haus und versuchte ins Innere zu spähen. Doch die Fenster waren zugenagelt, sie konnte nichts erkennen. Rena überlegte, ob sie einbrechen sollte, entschied sich aber dagegen. Unwahrscheinlich, dass da drinnen des Rätsels Lösung zu finden war.

Enttäuscht kehrten sie ins Dorf zurück. „Wir müssen noch einmal versuchen mit einem der Dorfbewohner zu reden“, meinte Rena. „Wie wär´s, wenn du mitkommst? Wir probieren´s mal bei der Luft-Gilde.“

Zu ihrer Überraschung wurde sie in der Grashütte sofort eingelassen. Das war allerdings nicht Renas Verdienst, sondern Rukis. Kaum hatte sich die Tür einen Spalt vor ihnen geöffnet, begann er schon die Bündnisformel zu schmettern. Obwohl die eigentlich dazu da war, dass Menschen die mit ihrer Gilde verbündeten Halbmenschen um Hilfe bitten konnten. „Windschwester, Wolkenbruder, Nestgefährte ...“

„Halt den Schnabel, beim Nordwind, weißt du denn nicht, dass das geheim ist?“, zischte es erschrocken hinter der Tür hervor. „Los, kommt rein!“

... im Namen des Nordwinds, hilf“, beendete Ruki seinen Spruch, tauschte einen triumphierenden Blick mit Rena und stelzte ihr voran in die Hütte.

Mit misstrauischen Blicken musterte sie der alte Mann, der ihnen geöffnet hatte. Er hatte lange, lockige silbergraue Haare und trug ein abgewetztes Gewand, das selbst genäht aussah. Ein großer Schrank aus dunklem Holz mit vielen Fächern bedeckte eine Wand, ansonsten war der Raum schlicht, fast kahl eingerichtet. Sein einziger Schmuck waren die verblassten Muster in den geflochtenen Wänden.

Ruki beäugte die Keksdose, die auf der Anrichte stand, mit gierigen Blick. Wahrscheinlich hoffte er, dass der Alte ihnen etwas daraus anbieten würde. Aber der machte keine Anstalten dazu.

„Es kommen selten Fremde in die Stadt“, bemerkte der Mann. Rena sah, dass seine Hände knotig und schwer beweglich waren, und beobachtete verlegen, wie er sich mühte ihnen einen Cayoral zu brühen. Wortlos half sie ihm, so gut sie konnte. Er dankte ihr mit einem Nicken.

„Wir sind auf der Suche nach Wissen“, sagte sie. „Es heißt, dass die Anderskinder, die jetzt das Mond-Orakel bilden, von hier stammen.“

Der Alte verzog den Mund, öffnete eine Schublade seines Schranks und reichte Ruki ein kleines Fläschchen mit der Aufschrift Nuss-Öl. „Da, Wolkenbruder. Könnte noch regnen heute.“

Rena wusste, dass viele Storchenmenschen dieses Öl benutzten, um ihre Flügel gegen Feuchtigkeit abzuschirmen. Ruki schien etwas enttäuscht, dass er nichts Essbares bekommen hatte und die Keksdose verschlossen geblieben war. Aber er griff trotzdem nach dem Fläschchen und machte sich an die Gefiederpflege. Damit war er, wie Rena wusste, erst einmal gut beschäftigt.

„Es ist besser, dass das mit den Kindern kaum jemand weiß“, sagte der Alte zu Rena gewandt. „Sonst wäre es aus mit unserer Ruhe.“

„Kanntet Ihr die Familie?“

„Ja, natürlich, ich habe mein ganzes Leben in diesem Tal verbracht“, sagte der Alte. „Nichts gegen sie zu sagen. Nein, nichts.“

Doch seine Stimme war zurückhaltend, und das machte Rena misstrauisch. „Zu welcher Gilde gehörten sie?“

„Hier ist das nicht so wichtig, Meisterin. Hier, am Schnittpunkt der Provinzen.“ Schwerfällig schlurfte er zum Tisch und goss ihnen den Cayoral ein.

Rena ließ nicht locker. „Hat es die Leute nicht misstrauisch gemacht, als die Eltern sich so plötzlich zurückgezogen haben, nachdem die Kinder geboren waren?“

„Wir mischen uns nicht in anderer Leute Angelegenheiten.“ Der Alte nippte an seinem Becher und blickte auf die geflochtene Wand. „Der Südwind weht mal wieder. Könnte regnen heute. Oder vielleicht morgen. Besser, Ihr reist weiter, bevor es Euch erwischt. Meine Kräfte reichen nicht mehr, um Regen aufzuhalten oder Wolken zu verscheuchen.“

Er will das Thema wechseln, dachte Rena. Gut, das kann er haben. „Wie sind die Eltern gestorben? Wisst Ihr, wer sie entdeckt hat?“

Schweigend blickte der Alte sie an. Er sah aus, als bedaure er, sie hereingelassen zu haben – und als würde er sie am liebsten wieder vor die Tür setzen, Regen hin oder her. „Wer ist es, der das wissen will?“, fragte er schließlich. „Wer seid Ihr? Kommt Ihr vom Rat?“

„Mein Name ist Rena ke Alaak“, sagte Rena sanft.

Das Gesicht des Alten entspannte sich. „Die Friedensbringerin. Euch kann ich es sagen. Ihr werdet mich nicht preisgeben.“

Rena schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Aber wieso habt Ihr solche Angst?“

Der Alte beugte sich vor, winkte sie zu sich heran. „Die Kinder dürfen nicht erfahren, dass ich von diesen Dingen gesprochen habe“, flüsterte er. „Nie, versteht Ihr! Und den Kerlen in der Felsenburg vertraue ich nicht.“

Angespannt wartete Rena ab. Ruki hatte aufgehört, sein Gefieder zu putzen, und hörte unruhig zu.

Und der Alte begann zu erzählen.

***

Finley war im Gegensatz zu Jorak offenbar nicht gewohnt, leise zu gehen. Er stieß ständig irgendwo an und ließ keine knarrende Stelle auf den Stufen aus.

„Probier´s mal mit Zehenspitzen“, zischte Alena ihm zu und drehte sich kurz zu ihm um. Erschrocken wich der Geschichtenerzähler vor dem blanken Smaragdschwert zurück. „He, vorsichtig mit dem Ding da!“

Alena seufzte und drehte sich wieder um. Sie konnte Stimmen aus der Gaststube hören, aber es schienen nur die beiden Reisenden vom Nebentisch zu sein. Hoffentlich kamen nicht noch mehr Leute an. „Wir müssen versuchen, die anderen Reisenden zu warnen, wenn sie die Treppe hochkommen. Zu blöd, dass wir sie nicht schon vor der Tür abfangen können.“

Sie zogen sich in einen kleinen Vorratsraum neben der Treppe zurück und ließen die Tür einen Spalt offen, damit sie kontrollieren konnten, wer heraufkam. In der Dunkelheit standen sie nebeneinander und atmeten den Duft von getrockneten Blättern und in Sirup eingelegten Corusyn-Blüten ein, der sie umgab. Aus den Küchen unten zog der Geruch von Kurg-Sprossen, die wahrscheinlich gerade zu einem faden Brei zerkochten.

Ein paar Atemzüge lang lauschte Alena auf das, was unten vorging, dann konzentrierte sie sich auf Finleys regelmäßigen Atem neben ihr. „Sag mal, was war da in Vidrano eigentlich los? Du hattest es ziemlich eilig ...“

Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Ach, das war nichts. Der Wirt hat es ein wenig übel genommen, dass ich keine Geschichte über seinen Lieblingshelden Gibra Jal erzählen wollte und auch ziemlich genau gesagt habe warum. Ich kann nichts dafür, ich finde manche Legenden der Erd-Gilde tödlich langweilig!“

„Na, zum Glück hast du wenigstens was für uns Feuerleute übrig“, sagte Alena. Ihr Herz pochte laut, als sie hinzufügte: „Deine Geschichte über Alix ke Tassos hat mir gefallen.“

„Ich kenne noch zwei Dutzend andere über sie, die kommen immer gut an.“ Finley klang sehr zufrieden mit sich. „Wieso interessierst du dich dafür, kanntest du Alix? Nee, geht nicht, dafür bist du zu jung.“

„Sie hatte eine Tochter.“

„Moment mal – bist du das etwa?“

„Bin ich.“

„Ich bin vom Glück verwöhnt! Dann weißt du sicher mehr über sie als ich und wir können unsere Geschichten vergleichen.“

Es war bitter, eingestehen zu müssen: „Leider kann ich mich nicht an sie erinnern und ich weiß bestimmt nicht mehr über sie als du. Eher im Gegenteil, fürchte ich.“ Alena wusste nicht genau, warum sie plötzlich hinzufügte: „Ich würde ihr gerne noch einmal begegnen. Bisher hat das nur im Traum geklappt ... “

Finley schwieg eine Weile und Alena lauschte wieder auf die Geräusche aus der Gaststube. Es klang nicht so, als wollten die anderen Besucher demnächst ins Bett gehen. Gut – so hatte Jorak genug Zeit, alle anderen Gäste zu warnen. Wo er wohl gerade herumschlich? Hoffentlich glaubten ihm die anderen Leute überhaupt ...

Plötzlich sprach Finley wieder. Doch jetzt klang seine Stimme anders. Nüchterner. „Ich will dir keine zu großen Hoffnungen machen, aber auf einer meiner letzten Reisen habe ich von einem Trank gehört, der genau das möglich macht. Tiefen-Elixir wird er genannt.“

Wollte dieser Kerl sich über sie lustig machen? „Soso“, sagte Alena knapp.

„Nein, wirklich! Man fällt in einen Schlaf und sinkt sehr, sehr tief in sich selbst hinein – bis man das Zwischenreich betritt, in dem man sogar Toten begegnen kann, wenn sie dazu bereit sind.“

Erst wollte Alena skeptisch schnauben, doch dann erinnerte sie sich an ihr Erlebnis im Tempel der Träume in Rhiannon. Dort war genau das geschehen, sie gelangte versehentlich in dieses Zwischenreich ... und konnte kurz mit ihrer Mutter sprechen, bevor eine Freundin sie zurückholte!

Aber Alena erinnerte sich auch daran, wie nah sie dem Tod damals gewesen war. „Das klingt nicht ganz ungefährlich.“

„Ist es auch nicht. Was ist, soll ich versuchen, das Elixir für dich zu besorgen?“

Alena überlegte lange – und merkte, wie in ihr eine unendliche Sehnsucht hochquoll, die ihre Augen feucht werden ließ. Alix sehen. Mit Alix sprechen, ihr sagen, was sie ihr bedeutete. Sie endlich ein klein wenig kennenlernen. Das war tausendmal mehr wert als irgendeine junge Feuermeisterin, die sich als ihre Stiefmutter aufspielte! „Ja“, sagte Alena mit fester Stimme. „Aber wie willst du das anstellen – und du tust das doch sicher nicht aus reiner Menschenliebe, oder? Was kostet das Zeug überhaupt? Ich habe nicht viel Geld ...“

„Habe ich mir schon gedacht. Aber es gibt noch andere Dinge, die mich interessieren.“

Alena zog die Augenbrauen hoch.

„Nicht was du denkst“, sagte Finley schnell. „Aber ein Mensch der Feuer-Gilde hat ja noch anderes zu bieten, oder? Ich denke darüber nach, in Ordnung?“

„Gut, mach das. Nur unsere geheimen Formeln kann ich dir nicht sagen, das weißt du.“

„Natürlich. Ich bin ja nicht lebensmüde. Du würdest sie mir verraten und müsstest mich gleich darauf töten!“

Alena grinste. „So in etwa.“ Sie wusste, dass sie Jorak nicht von diesem seltsamen Trank erzählen konnte. Er würde Angst um sie haben und heftig dagegen protestieren, dass sie ein so gefährliches Zeug nahm. Aber Angst brachte einen selten weiter. Manchmal musste man eben etwas riskieren. Und hatte er ihr nicht selbst dazu geraten, sich ihrer Mutter anzunähern?

Finley zuckte zusammen, legte ihr kurz die Hand auf den Arm. Jetzt hörte Alena es auch, jemand kam die Treppe herauf. Alenas Körper spannte sich, sie packte den Griff des Schwertes fester. Es sah so aus, als würde sich jetzt erst mal entscheiden, ob sie heil aus diesem Gasthaus herauskommen könnten oder nicht!

Feuerblüte III

Подняться наверх