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Totensee und Lebensbaum

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Es war das erste Mal, dass Rena eine Todes-Zeremonie der Wasser-Gilde miterlebte. Still stand sie neben Tjeri, ihrem Gefährten, zwischen den anderen Leuten und wartete ab. Ihre bloßen Füße gruben sich in den feuchten Sand des Ufers und fühlten sich an, als würden sie bald abfrieren. Es war früher Morgen, noch schwebte Nebel über dem Heiligen See nahe Xanthu. Mit einem Schauder sah Rena, dass sich Hunderte von weißen Fischen im Flachwasser eingefunden hatten – sie wussten aus Erfahrung, was bald kommen würde.

Nur wenige Schritte von den Fischen entfernt, am Ufer, hatte sich eine dichte Menschenmenge versammelt. Der Große Udiko war ein berühmter Sucher gewesen, er hatte vielen Bewohnern Dareshs geholfen. Viele von ihnen waren heute gekommen, um Abschied zu nehmen. Rena bemühte sich mit ihnen gemeinsam das Ner´uljipa zu sprechen, die Abschiedsformel der Wasser-Gilde. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich im fünften Satz verhaspelte, und bewegte lieber nur noch die Lippen.

Sie spürte, wie Tjeri neben ihr mit den Tränen kämpfte, und nahm tröstend seine Hand. Als er von Udikos Tod erfahren hatte, hatte er seinen Suchauftrag in Alaak sofort abgebrochen, um hier sein zu können.

Udikos massiger Körper wurde in ein Kanu getragen und von zwei Hütern hinausgerudert. Rena wandte den Blick ab, als die Leiche in den See fiel – sie wollte nicht sehen, wie sich die Fische darüber hermachten. Tjeri hatte ihr das Ritual schon oft erklärt, aber so richtig hatte sich Rena nie an diese Art der Bestattung gewöhnen können. Sie war einfach zu verschieden von dem, was sie aus der Erd-Gilde gewohnt war. Wie der Grund des Gewässers wohl aussah – der Boden dicht bedeckt von weißgebleichten Knochen und Schädeln?

Die Hüter des Heiligen Sees hatten sich zurückgezogen, hielten sich im Hintergrund. Es war die Aufgabe der Gäste, die Totenreden zu halten. Jeder, der eine Erinnerung beitragen wollte, konnte es tun. Tjeri war der Erste, der vortrat.

Rena ließ die Augen nicht von ihm. Er sah gut aus in seiner förmlichen dunkelblau-silbernen Tunika. Sein kurzes dunkles Haar glänzte wie poliertes Nachtholz. Zwei Libellen umschwirrten ihn, und aus dem Gestrüpp an den anderen Seiten des Sees lugten viele Augen; auch seine nichtmenschlichen Freunde spürten seine Trauer und blieben in seiner Nähe.

„Dass Udiko mich damals als seinen letzten Lehrling annahm, hat mein Leben bestimmt“, sagte Tjeri. Er hatte sich wieder gefangen, und nur wer ihn gut kannte, konnte hören, dass seine Stimme leicht zitterte. „Der Alte konnte ein echter Bastard sein, grob und respektlos. Besucher, die ihm nicht gepasst haben, hat er einfach aus der Kuppel geworfen. Aber wer ihn besser kennengelernt hat, der merkte schnell, dass er ein wunderbarer Mensch war, einer, dem man bedenkenlos vertrauen konnte.“ Tjeri erzählte ein paar Anekdoten aus seiner Zeit mit Udiko. Dann sagte er schlicht: „Er hat mir mehr bedeutet als mein wirklicher Vater“, senkte kurz den Kopf und überließ dann seinen Platz einer Frau, die berichtete, wie Udiko ihrem Kind das Leben gerettet hatte.

Es dämmerte schon, als endlich der letzte Besucher seine Erinnerung an Udiko vorgetragen hatte. Renas Füße schmerzten und fühlten sich gleichzeitig an wie Eisklumpen; am liebsten hätte sie sich vor einem Lagerfeuer aufgetaut. Doch als Tjeri vorschlug „Lass uns in einem See übernachten, unter freiem Himmel“, nickte sie. Sie wusste, dass er das jetzt brauchte.

Langsam wanderten sie Richtung Norden und ließen sich in das ruhige silberne Wasser des Vanatu-Sees gleiten, der sich Hunderte von Baumlängen weit erstreckte, bis fast vor ihre Haustür. Im Wasser war Tjeri in seinem Element, er schwamm kraftvoll und geschmeidig. Aber nach fünfzehn Wintern mit ihm in Vanamee war auch Rena eine gute Schwimmerin, und sie schaffte es, mitzuhalten.

Als sie ein gutes Stück vom Festland entfernt waren, gaben sie etwas Luft in die Schwimmhaut, ließen sich auf dem Rücken treiben und blickten in den sternbesetzten Himmel. Nur die Rufe der Gelbspötter und das leise Sirren einzelner Mücken begleiteten sie. Sie begannen zu reden – über das Leben, über das Sterben, über Freunde, die sie an den Tod verloren hatten. Schon seltsam, wie man nach einer Bestattung auf einmal über so was spricht, dachte Rena. Dabei zähle ich erst fünfundreißig Winter und Tjeri ist nicht viel älter.

„Ich muss unbedingt mal wieder meinen Baum besuchen“, sagte Rena.

„Ja, mach das“, meinte Tjeri. „Möchtest du, dass ich mitkomme?“

„Das wäre schön. Du musst dir ganz genau einprägen, wo er steht. Du weißt ja, was du zu tun hast, falls ich vor dir sterbe ...“

Er grinste. „Ich habe mir längst gemerkt, wo er steht. Du hast mal wieder vergessen, dass du den Bund mit einem Sucher geschlossen hast.“

„Gib bloß nicht so an“, gab Rena lächelnd zurück, rollte die Kapuze ihrer Schwimmhaut aus und legte den Kopf hinein, um zu schlafen. Sie war froh, dass es Tjeri schon etwas besser ging.

Sie hatte ihren Baum im Alter von zehn Wintern gefunden, als ihr Onkel sie mal wieder zum Holzsammeln in den Weißen Wald ausgeschickt hatte. Erschöpft und hungrig war sie auf eine Lichtung gehinkt – und hatte die Luft angehalten beim Anblick einer großen, freistehenden Viveca, die ihre Äste majestätisch über die Lichtung wölbte. Ihre Blätter waren silberweiß und glänzten, als der Wind in die Baumkrone fuhr, wie Tausende von kleinen Spiegeln im Sonnenlicht. Wie alle Menschen der Erd-Gilde konnte auch Rena Bäume im Wind sprechen hören, und das Gedicht, das die Viveca flüsterte, verzauberte sie mit seiner schlichten Schönheit.

Sofort entschied sich Rena, bei diesem Baum zu rasten. Um ihn herum wuchs dichtes weiches Wintergras, und Rena machte es sich darin gemütlich und lehnte sich gegen den Baumstamm. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über die Lichtung. Es war ein kalter Tag, doch der Stamm schien Wärme auszustrahlen. Zwischen den Blättern hingen noch ein paar kleine dunkle Früchte, ein wenig verschrumpelt, aber süß von der Herbstsonne. Rena brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu pflücken. Sie fühlte sich geborgen wie selten zuvor.

Seit diesem Tag kehrte sie immer wieder zu der Viveca zurück, zu ihrem Lieblingsplatz. Im Frühling und Sommer blühte der Baum in prachtvollem Rot, im Herbst war er überladen mit schmackhaften Früchten, die er freigiebig anbot. Dieser Baum war ein einziges Geschenk, das Wunder ihrer Kindheit.

Als ihr Onkel und Lehrmeister sie drängte, endlich einen Lebensbaum zu pflanzen – so war es in der Erd-Gilde Sitte –, sagte Rena: „Brauche ich nicht. Ich habe schon einen.“ Als er die Stirn runzelte, nahm sie ihn zum ersten Mal mit auf die Lichtung, zu der Viveca. Ihr Onkel warf einen langen Blick auf den Baum und nickte. Dann half er ihr, den grünen Stoffstreifen mit ihrem Namenszeichen am Stamm zu befestigen und sich mit dem Baum bekannt zu machen. Seitdem war die Viveca ganz offiziell ihr Baum und Renas Herz klopfte vor Freude.

Inzwischen wohnte Rena mehrere Tagesreisen entfernt an der Grenze zu Vanamee, sie konnte ihren Lebensbaum nicht mehr so oft besuchen. Zu ihm zurückzukehren war wie immer ein Fest. Obwohl es Spätsommer war, blühte die Viveca noch und der Duft durchzog die geschützte, sonnenbeschienene Lichtung. Tjeri ließ sich ein Stück entfernt im Gras nieder und stützte sich auf einen Ellenbogen. „Lass dich nicht stören, ich schaue unauffällig zu ...“

Rena setzte sich neben den Stamm und streckte sanft die Hand aus, legte sie auf die glatte Rinde. Die Aura der Viveca war stark und warm, hüllte Rena ein wie eine Umarmung. „Ich bin es“, sagte Rena leise, aber das war gar nicht nötig, schon veränderten sich die Gedichte, die ihr Baum im Wind flüsterte, hießen sie willkommen.

„Kann gut verstehen, dass du hier begraben sein willst“, seufzte Tjeri zufrieden und kaute auf einem Grashalm. „Das hier ist einer der schönsten Flecken von ganz Daresh. Das Seenland mal ausgenommen.“

Rena ging zu ihm hinüber. „So, jetzt muss ich dir noch genau zeigen, wo ich später mal zwischen den Wurzeln liegen will. Du wirst das schließlich mal organisieren müssen.“

Doch Tjeri schüttelte den Kopf und zog sie neben sich ins weiche Gras. Sanft nahm er ihre Hand. „Erklär das vielleicht besser auch jemand anders.“

„Wie meinst du das?“ Gedanken rasten durch Renas Kopf. Er schien zu denken, dass er früher sterben würde als sie! War er krank? Hatte er ihr etwas verschwiegen? Hatte der Angriff des Eis-Dämons im letzten Winter ihn irgendwie vergiftet?

„Erstens habe ich als Sucher eine Berufung, die nicht ganz ungefährlich ist“, sagte er ruhig. „Und zweitens hatte ich, als ich damals aus dem Kerker der Felsenburg zurückkam, so eine Art Vision, eine Traumsuche. Ich weiß, wie alt ich werde, und ich habe kein Problem damit. Es ist noch einige Winter hin, keine Sorge.“

„Ah. Eine Vision.“ Rena war etwas wohler zumute. Sie glaubte nicht an solche Dinge. Aber gefährlich war an Visionen, dass sie zu selbsterfüllenden Prophezeihungen werden konnten. Wenn er an die Vision glaubte, verhielt sich Tjeri vielleicht so, dass er nicht alt wurde ... und dann würde wahr werden, was er gesehen hatte.

„Weißt du was, wir könnten mal beim Mond-Orakel vorbeischauen“, schlug Rena vor. Sie schaffte es schon fast, heiter zu klingen. „Das ist nur ein paar Stunden Fußmarsch von hier. Dann soll uns das Orakel einen Tipp geben, wer wessen Begräbnis organisieren muss.“

Tjeri horchte auf. „Das Orakel, diese drei eigenartigen Kinder? Ja, das fände ich interessant. Man hört ja so viel davon in letzter Zeit. Warst du schon mal da?“

„Nein – aber das wäre doch ein guter Anlass“, meinte Rena. Sie gestand sich ein, dass auch sie neugierig war auf das Orakel. So etwas hatte es auf Daresh noch nicht gegeben. Ein guter Grund, um es sich anzusehen, selbst wenn ihre Frage nicht gewesen wäre.

***

Als Alena erwachte, merkte sie, dass Jorak wieder – oder immer noch? – mit offenen Augen an die Decke des Verstecks starrte. Sie legte den Arm über ihn. Ob er sich schon entschieden hatte? „Na, hast du gar nicht geschlafen?“

Ein brauner pelziger Kopf mit runden Ohren und menschlichen Zügen tauchte über der Kante des Bettes auf. „Nee, die Jagd war zzu gut heute, viel zzzu gut.“

Alena warf ein Kissen nach ihm und brüllte: „Cchraskar, du sollst mich nicht immer erschrecken! Außerdem will ich nicht, dass du hier einfach so reinplatzt!“ Sie war froh, nicht bei Zärtlichkeiten mit Jorak ertappt worden zu sein.

Jorak lächelte nur. Er hatte wohl tatsächlich kein Auge zugetan und mitbekommen, dass der junge Halbmensch früh am Morgen eingetroffen war. „Schade um das Kissen. Ich wette, gleich fliegen die Federn.“

„Yau! Gute Idee“, maunzte Cchraskar, warf sich auf das Kissen, verbiss sich darin und rollte damit durch den Raum.

„Gut, dass es im Versteck reichlich Bettzeug gibt“, meinte Alena und stützte sich auf die Ellenbogen, damit sie Jorak besser in die Augen sehen konnte. „Gut, fangen wir nochmal von vorne an. Hast du dich für eine Gilde entschieden?“

Er seufzte tief. „Nach stundenlangem Grübeln, ja. Für Luft.“

Alena war enttäuscht. Er wollte nicht in ihre Gilde! Sie hatte gehofft, sie könnte ihre Welt mit ihm teilen. Die Talente, die er dafür brauchte, hatte er ja.

„Ich musste auch daran denken, wofür ich die besseren Voraussetzungen habe“, versuchte Jorak zu erklären. „Ich bin in Nerada aufgewachsen, bei den Luft-Leuten, meine Mutter hat mir alles beigebracht, was ein Händler können muss. In der Feuer-Gilde wäre ich vermutlich nie gut genug, um irgendeiner Berufung zu folgen. Diese Welt ist mir noch zu fremd.“

„Das ist kein Problem – ich könnte dir alles beibringen, was du wissen musst!“

„Nein“, sagte Jorak, und auf einmal war sein Gesicht eine Spur kühler als zuvor. „Ich will es bei Luft versuchen.“

„Gut“, sagte Alena schnell. Er sollte nicht denken, dass sie ihn bevormunden wollte. „Dann müssen wir uns jetzt überlegen, wie wir es anstellen, dass du aufgenommen wirst.“

„Das ist genau das Problem.“ Jorak wand sich eine von Alenas glatten rotbraunen Haarsträhnen um den Finger. „Ich habe mich schon ein halbes Dutzend Mal beim Rat beworben und ich fürchte, die kriegen höchstens einen Wutanfall, wenn ich mich schon wieder melde.“

„Aber du bist nicht mehr derselbe Mensch, der sich damals beworben hat! Du hast die Grenze überquert, hast im Thronsaal vor der Regentin gestanden – und du hast in Rhiannon eine Formel gefunden, die hier unbekannt ist.“ Alena erinnerte sich noch gut an die drei Tornados, die Jorak mit dieser Formel rufen konnte!

„Stimmt, die Formel ist ein Tauschgut der Extraklasse.“ Joraks Miene wurde wieder etwas heiterer. „Mit etwas Glück nehmen sie mich in die Gilde auf, nur um an die Formel heranzukommen.“

„Nur musst du ihnen irgendwie das Angebot machen. Und das geht schlecht, wenn sie nicht mehr mit dir reden.“ Alena überlegte. „Ich glaube, das ist ein Fall für einen anonymen Brief.“

Jorak grinste. „Das ist gut. Ich habe noch nie einen anonymen Brief geschrieben. Zählt also als etwas Neues für den Tag.“

In der Bibliothek des Verstecks war reichlich Schreibmaterial. Zusammen setzten sie sich daran, die Botschaft zu formulieren. Einen geeigneten Empfänger dafür wusste Jorak schon: zurzeit hielt sich, wie er gehört hatte, ein mächtiger Meister vierten Grades namens Elaudio in Ekaterin auf. Wenn sie es schafften, ihn zu überzeugen, dann war das ihr Freibrief für eine Audienz beim Hohen Rat der Luft-Gilde. Er befand sich in Eolus in der fernen Provinz Nerada.

„Hast du Elaudio schon mal gesehen?“, fragte Alena neugierig.

Jorak nickte. „Ja, auf dem Markt. Er ist ziemlich fett, hat immer eine zahme Bolgspinne dabei, die auf ihm herumkriecht, und dazu einen Schwarm von Leibwächtern um sich herum.“

Nach langem Brüten über die richtigen Formulierungen hatten sie die Nachricht zusammen. Jorak übersetzte sie in die alte Handelssprache, um zu signalisieren, dass sie von jemandem aus der Luft-Gilde kam, und schrieb in seiner besten Schönschrift:

Meister Elaudio,

es gibt eine Formel der Luft-Gilde, die bisher niemand außer mir kennt. Ich habe sie auf einem alten Pergament entdeckt und ausprobiert. Sie hat eine sehr starke Wirkung. Wenn Ihr mehr über die Formel erfahren wollt, dann findet Euch morgen Nacht bei Aufgang des dritten Mondes allein an der Stelle ein, an der früher der Palast der Trauer gestanden hat.

„Er wird platzen vor Neugier“, meinte Jorak zufrieden.

Alena war sich nicht ganz so sicher. „Aber was ist, wenn er nicht kommt? Vielleicht sollten wir ihm lieber einen Treffpunkt in der Stadt nennen. Wenn er wirklich so dick ist, schleift er sich bestimmt nicht gerne auf diesen Hügel zur Palastruine rauf. Und was, wenn er nicht mit sich handeln lässt?“

„Er wird. Zu handeln ist seine Berufung. Er hat aus einem kleinen Stützpunkt am Rand von Nerada ein schwerreiches Netzwerk von Handelsposten gemacht, so was schafft man nur mit viel Geschick.“

Doch Alena war noch nicht beruhigt. Und so wie ihr Vater nahm sie es ernst, wenn sie ein schlechtes Gefühl hatte. „Er wird nicht allein kommen.“

„Ich auch nicht. Oder wollt ihr etwa daheim bleiben, Cchraskar und du?“

„Vergisss es!“, fauchte Cchraskar durch die halb offene Tür.

„Na also, dachte ich mir“, sagte Jorak und lachte.

Feuerblüte III

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