Читать книгу Vulkanjäger - Катя Брандис - Страница 3
Feurige Ferien
ОглавлениеAls mir der Brandgeruch in die Nase stieg, wusste ich, dass etwas gewaltig schieflief. „Melde mich später wieder“, sagte ich zu meinem besten Freund Noah, drückte Auflegen und sprintete die Treppe hinunter in die Küche. Kurzer Blick durch die Glasscheibe des Backofens – verdammt, das sah schlecht aus! Ich riss die Ofentür auf und Rauch wallte mir entgegen. O Mann, ich hatte versehentlich Grill eingestellt! Das Hühnchen sah aus, als hätte es eine Feuerbestattung hinter sich. Konnte man das noch essen? Oder hatte sich die selbst gekochte Überraschung für Mama gerade erledigt?
Ich packte das Hühnchen mit einem Ofenhandschuh am Schenkel, versuchte, es auf einen Teller zu schleudern und gleichzeitig mit dem Knie die Ofenklappe zuzuknallen. Aber das Hühnchen hatte zu viel Schwung, es glitschte auf der anderen Seite des Tellers wieder hinunter. Instinktiv wollte ich es mit der bloßen Hand stoppen, schrie auf – heiß! – und ließ es fallen. Auf den Fußboden.
Alles kein Problem. Kein Problem – wenn man sich das oft genug sagt, dann stimmt es irgendwann. Ich hatte noch eine Viertelstunde, bis Mama von der Arbeit kam. Reichlich Zeit, den Vogel abzuwaschen und die verkohlten Stellen abzukratzen. Als ich damit fertig war, hatte ich noch genau sieben Minuten für den Salat. Aber wenn jemand Salat machen kann, dann ist das Jan Bendert, sechzehn Jahre, Vizechampion im Küchenduell der zehnten Klasse. Die Gurke hatte keine Chance gegen mich, die Tomaten zerfielen förmlich vor meinem Messer, und die Paprika drückte sich winselnd in eine Ecke des Kühlschranks, als sie mich kommen sah. Pünktlich war alles fertig. 19.30 Uhr, fast auf die Sekunde genau. Wow!
Jetzt fehlte nur noch meine Mutter.
Ich wischte mir den Schweiß ab, kippte das Küchenfenster und wartete auf das Geräusch ihres Schlüssels im Schloss. Vielleicht kam sie ein paar Minuten später, das war gar nicht so schlecht, dann konnte ich noch den Tisch decken. Das tröstete sie vielleicht darüber hinweg, dass es im ganzen Erdgeschoss nach Waldbrand roch.
19:40 Uhr. Wahrscheinlich traf sie jeden Moment ein. Ich warf mich aufs Sofa. Zu einem gelungenen Essen gehört schließlich ein entspannter Gastgeber.
Das Telefon klingelte. Es dauerte eine Weile, bis ich es gefunden hatte – ich hatte es vorhin auf mein Bett fallen lassen. „Bendert“, meldete ich mich und zurückkam ein gut gelauntes „Hier auch!“.
„Hi, Mama“, sagte ich und blickte auf die Anruferkennung, um festzustellen, ob sie vom Handy aus anrief oder aus dem Büro. Mama Büro, stand da. In diesem Moment wusste ich Bescheid und ein hohles Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus.
„Bei mir wird´s leider ein bisschen später, ich bin mit der Präsentation immer noch nicht fertig und die Geschäftsleitung sitzt mir im Nacken ...“
„Aha“, sagte ich so freundlich wie möglich. „Na, dann noch viel Erfolg und bis nachher.“
Ich nahm mir die Hälfte des Hühnchens und ein bisschen Salat, den Rest warf ich weg. War eh nicht so gut geworden, in der Eile hatte ich zu viel Kreuzkümmel ins Dressing getan. Meine Katze Lucky machte es sich auf meinem Schoß bequem, begann sofort zu schnurren und tat so, als interessiere sie das Huhn gar nicht. Ich schenkte ihr trotzdem ein Stück. Vor drei Jahren war mir Lucky in einer eiskalten Winternacht auf dem Bahnsteig einer S-Bahn-Station begegnet und fast einen Kilometer weit hinterhergelaufen. Wieso hatte sie ausgerechnet mich ausgesucht und keinen von den anderen Fahrgästen, obwohl auch andere sie gestreichelt hatten? Hatte sie gespürt, wie sehr ich Tiere mochte? Als Kind hatte ich mal eine junge Elster großgezogen, und wenn die Nachbarn einen Igel fanden, der Hilfe brauchte, brachten sie ihn direkt zu mir.
Während ich den letzten Rest Salat aß, informierte mich der 3-D-Screen über all das, was an diesem 4. Mai 2020 passiert war. Ehemaliger Ministerpräsident Italiens nach Herzinfarkt in seinem Pool ertrunken. Neuer Wasserkrieg zwischen Pakistan und Indien. Naturschützer verurteilen den neuen Trend, aus haltbar gemachten Blumen Kleidung herzustellen. Sämtliche Neuigkeiten rauschten an mir vorbei. Wieso hatte ich überhaupt versucht, sie zu überraschen? Das war total naiv. Jemand Schlaueres als ich hätte ihr heimlich einen wichtigen Dinner-Termin in den elektronischen Terminkalender eingetragen. Aber sobald sie gemerkt hätte, dass es nur ein Treffen mit mir ist ...
Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf den Bildschirm, ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. In Island war gerade mal wieder ein Vulkan ausgebrochen und bedrohte durch seine Aschewolke den Flugverkehr. Dunkelgrau wallte das Zeug nach oben. Sah ein klein bisschen aus wie der Rauch aus unserem Ofen, nur dicker.
Wie immer, wenn ich irgendetwas über Vulkane im Fernsehen sah, musste ich an meinen Vater denken. Ob er gerade dort war, in Island? Waren diese Filmaufnahmen von ihm?
Ich schrak auf, als das Telefon schon wieder klingelte. Vielleicht war das Noah, der wissen wollte, was passiert war und wann ich endlich zurückrief. Abwesend drückte ich auf den grünen Knopf und murmelte: „Ja?“
„Hier ist André. Bist du das, Jan?“
„Äh, ja“, stammelte ich verblüfft. Mein Vater! Zum ersten Mal seit zwei Monaten! Hatte er gespürt, dass ich an ihn dachte?
„Alles klar bei dir?“
„Ja“, sagte ich zum dritten Mal. Bis auf ein verbranntes Huhn und eine Mutter, die nicht aufgekreuzt ist. „Wo bist du gerade? In Island?“
Er lachte. „Nee, in München, ganz in eurer Nähe. Du meinst, wegen der Eruption? Die ist mir eine Nummer zu klein. Und weil die isländischen Vulkane oft unter Gletschern liegen, sieht man bei den Ausbrüchen sowieso fast nichts.“
„Aufnahmen von Aschewolken hast du wahrscheinlich schon genug, oder?“
„Yep. Dutzende.“
Es tat gut, mit ihm zu reden. So gut, dass ich auf einmal feuchte Augen hatte. Ich wischte mir schnell mit dem Ärmel drüber.
André war in München! Hieß das etwa, dass er Zeit hatte, mich zu sehen? Besser, nicht drauf zu hoffen. Wahrscheinlich ging schon morgen sein Flug nach Kolumbien, Japan oder wohin auch immer.
Doch so war es anscheinend nicht. „Kann ich am Wochenende mal bei euch vorbeikommen?“, fragte mein Vater. „Ich würde dich gerne sehen und habe einen Vorschlag, der dich vielleicht interessiert.“
„Einen Vorschlag?“, wiederholte ich, wahrscheinlich klang ich heute arg begriffsstutzig. Kurzer Blick in den geistigen Terminkalender. „Samstag haben wir noch nichts vor, glaub ich. Komm einfach am Nachmittag vorbei, wenn du magst.“ Ich sagte nicht, dass ich mich schon darauf freute. Nur für den Fall, dass es doch nicht klappte.
Aber es klappte tatsächlich.
Ein paar Tage später lehnte er lässig am Rahmen der Wohnzimmertür, die Daumen in die abgewetzte Jeans gehakt, die kurzen blonden Haare und der Dreitagebart schon ein bisschen grau. Wir sahen uns ähnlich, das gleiche sandfarbene Haar, die rauchgrauen Augen. Nur die Coolness hatte er mir nicht vererbt. Leider.
Meine Mutter begrüßte ihn deutlich freundlicher als ihre diversen Ex-Freunde, die hin und wieder vorbeischauten. Neugierig kam Lucky näher, um ihn abzuchecken, und strich um seine Beine. André beugte sich hinunter, um sie zu streicheln. „Hallo, Süße.“
„Das sagst du wirklich zu jedem weiblichen Wesen!“ Meine Mutter hob die Augenbrauen.
„Zu Jans Streifenhörnchen hab ich´s nicht gesagt“, meinte André schmunzelnd.
„Das ist leider letzten Monat gestorben“, informierte ich ihn.
„Hast du mir gar nicht geschrieben.“
Ich zuckte die Schultern. So richtig oft mailte ich ihm nicht, denn die meisten Nachrichten aus meinem Alltag waren nur begrenzt spannend, vor allem wenn man sie mit seinen Abenteuern verglich. Was sollte es ihn interessieren, dass Lucky zurzeit mit schrecklichem Erfolg Amseln jagte oder ich gestern mal wieder den Haushalts-Deppen gegeben und drei Ladungen Wäsche erledigt hatte? Dass ich um ein Haar von Frau Seidl beim Abschreiben erwischt worden wäre und mich mit meinen beiden Cousins zu einer LAN-Party getroffen hatte? Dass ich wohl nie Anna-Lia küssen würde, weil ich herausgefunden hatte, dass sie mit einem Typen aus ihrem Judo-Club zusammen war? Gähn.
Immerhin, von meinen Kanu-Touren hatte ich ihm geschrieben, schließlich stammte das alte, ramponierte Kanu von ihm – André hatte, als ich acht Jahre alt gewesen war, ein paar Monate bei uns gelebt und das Ding dagelassen, als er wieder auszog. Inzwischen hatte es ein paar Dellen und Aufkleber mehr. Manchmal paddelte ich mit Finn oder anderen Freunden los, aber auch oft allein, ich mochte die Stille und das Gefühl, dort auf dem Fluss ganz im Einklang mit mir selbst zu sein.
Mit Tellern und Tassen beladen wanderten wir raus auf die Terrasse.
„So, hier ist der Kuchen“, sagte meine Mutter und beförderte ungefragt ein Stück davon auf den Teller meines Vaters. Ich verzog das Gesicht – hatte sie vergessen, dass er nicht auf solchen Süßkram stand? Wahrscheinlich. Schließlich waren sie schon seit einer Ewigkeit getrennt.
André hatte meine Grimasse gesehen. Unsere Blicke trafen sich und wir tauschten ein kurzes, heimliches Lächeln. Erstaunlich – wir sahen uns selten, doch jedes Mal dauerte es nur ein paar Minuten, bis das Gefühl der Fremdheit verschwunden war.
Mein Stück Kuchen war schnell weg und ich nahm mir noch eins. Schlechte Angewohnheit von mir. Immer wenn ich nervös war, aß ich zu viel.
„Na, wie läuft´s so?“, fragte André mich.
„Er hat ganz gute Noten zurzeit, in Bio ist er Klassenbester, nur in Mathe braucht er Nachhilfe, und ...“, begann meine Mutter.
Ich verdrehte die Augen und André grinste. Als meine Mutter verstummt war, sagte ich: „Geht so. War schon mal besser.“
Er ging nicht darauf ein, sondern sah mich einen Moment lang nachdenklich an und wechselte ganz plötzlich das Thema. „Sag mal, hättest du Lust, in diesen Sommerferien mitzukommen? Zum Dreh?“
Mir kam es so vor, als bliebe mein Herz stehen.
„Du meinst ... auch mitfliegen und so?“, brachte ich irgendwie heraus.
„Na klar würdest du mitfliegen. Die Tickets spendiere ich. Also, was ist?“
„Irre!“, sagte ich andächtig. „Bin dabei!“
„Da habe ich auch ein Wörtchen mitzureden“, mischte sich meine Mutter ein. Sie hat wirklich ein gutes Herz, engagiert sich für Amnesty International und spendet jedes Jahr Unsummen für einen Pferde-Gnadenhof. Aber jetzt hatte ihre Stimme einen stahlharten Klang. „Was für einen Film machst du gerade? Doch nicht etwa wieder über Vulkane?“
„Doch.“ André schob den Kuchenteller, der noch fast voll war, von sich weg. „Menschen und Vulkane ist der Arbeitstitel, ein Drittel habe ich schon gedreht. Etwa fünfzig Drehtage werden es noch, schätze ich.“
Wie cool! Ich würde bei einem Film über Vulkane mitarbeiten dürfen! Wenn ich das meinem Freund Noah erzählte – er hatte mich schon ein paarmal gefragt, ob ich später auch Filme machen wollte, und er verpasste keine Doku meines Vaters im Fernsehen.
Doch leider sah meine Mutter längst nicht so begeistert aus. „Klingt gefährlich“, sagte sie. „Wieso drehst du nicht mal was über Fossilien oder Geysire? Für einen Geologen gibt es noch andere Themen als Vulkane!“
„Klar. Aber die Leute sehen nun mal lieber Lavafontänen im Fernsehen als herumspritzendes Heißwasser. Außerdem bin ich streng genommen Vulkanologe.“ André ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ist das okay für dich, Jan? Traust du dir das zu?“
In diesem Moment traute ich mir alles zu. Oder zumindest hätte ich zu allem Ja gesagt, Hauptsache, ich durfte wirklich mit. Also nickte ich.
André wandte sich an meine Mutter. „Britta?“
„Erst will ich wissen, wo ihr überhaupt hinfahren werdet.“
„Erst mal Hawaii. Danach schauen wir mal, wo gerade ein Vulkan ausbricht.“ André breitete entschuldigend die Hände aus. „Vorausplanen kann man so was selten.“
„Na gut“, sagte meine Mutter und ich atmete auf. „Aber ihr geht nicht so nah ran, okay?“
„Versprochen – wir drehen fleißig mit Tele“, gab André fröhlich zurück. So fröhlich, dass ich nicht sicher war, ob er es ernst meinte.
Meine Mutter seufzte tief, dann beugte sie sich zu mir und umarmte mich. „Vielleicht ist es wirklich besser, dass du mit ihm fährst. Ich habe nämlich eine Anfrage für ein Projekt in Dubai, könnte sein, dass ich im Sommer ein paar Wochen weg bin ...“
Ach so. Deshalb hatte sie sich so schnell umstimmen lassen. Dabei hätte es mir nicht mal besonders viel ausgemacht, alleine hier zu bleiben. Ich war gewohnt, mich durchzuschlagen, wenn Mama bei Kunden vor Ort arbeitete. Einkaufen, Wäsche machen, Spülmaschine ein- und ausräumen, bei ausreichendem Hunger irgendetwas in den Topf werfen und so weiter. Manchmal fühlte ich mich allerdings bescheuert dabei, ich war der Einzige in meiner Klasse, der daheim den Haushalt organisieren musste. Meine Freunde kamen sich schon heldenhaft vor, wenn sie mal den Müll rausbrachten. Dafür mussten sie aber auch um zwölf daheim sein – bei mir achtete oft genug niemand darauf, wann ich im Bett war.
Tapfer hatte meine Mutter ihren Communicator ignoriert, der schon den Eingang mehrerer Nachrichten signalisiert hatte. Als sie die Teller in die Küche trug, wusste ich, dass sie erst mal ein paar Minuten wegbleiben würde. Jetzt konnten André und ich uns ungestört unterhalten.
„Weißt du wirklich nicht vorher, wohin wir fliegen werden?“, fragte ich gespannt. Mein Vater nickte lächelnd, meine Begeisterung schien ihm zu gefallen. „Na ja, zwei Stationen stehen schon fest. Was ich auf jeden Fall filmen will, sind wie gesagt Lavaströme in Hawaii und wie die Menschen darauf reagieren. Außerdem will ich die Schwefelernte am Kawa Ijen drehen, das heißt, es geht auch nach Indonesien.“
Hawaii! Indonesien! Wahrscheinlich stand auf meinem Gesicht ein seliges Lächeln, denn mein Vater lachte. „Ich hätte auch furchtbar gerne diesen Bauer in Mexiko interviewt, in dessen Maisfeld eines Tages einfach so ein Vulkan aus dem Boden gewachsen ist. Aber der Kerl lebt leider nicht mehr.“
„In einem Maisfeld? Einfach so?“ Diesmal war ich es, der lachen musste. „Aber hier kann das nicht passieren, oder?“
„Unwahrscheinlich. Vulkanausbrüche und Erdbeben gibt´s vor allem dort, wo die Platten zusammenstoßen. Du weißt schon: aus denen die Erdkruste besteht. Hattet ihr schon in der Schule, oder?“
„Längst.“
„In Süditalien ist so eine Plattengrenze, aber hier nicht. Früher gab´s in Deutschland mehr als genug Vulkane, aber der Einzige, der noch ein bisschen was hergeben könnte, ist in der Eifel.“
„So ein kleiner Vulkan im Garten wäre ganz praktisch fürs Grillen“, frotzelte ich und streichelte Lucky, die das sehr zu schätzen wusste.
André zog eine Augenbraue hoch. „Zumindest würden dann ziemlich viele Besucher vorbeikommen, um ihn sich anzuschauen.“
„Und du auch, schätze ich.“ Es war mir so rausgerutscht. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, ihm irgendwelche Vorwürfe zu machen.
„Ja. Ich unter Garantie auch.“ Mein Vater lächelte schief. „Hör zu, es tut mir wirklich Leid, dass ich mich in den letzten Jahren so selten gemeldet habe ...“
„Immerhin hast du dir meinen Geburtstag gemerkt. Gibt ja Väter, die schaffen nicht mal das.“ Es kam aggressiver raus, als ich eigentlich wollte. Seine letzte Geburtstagsnachricht war zwei Wochen zu spät eingetrudelt.
André fuhr sich durch die kurzen Haare, er wirkte verlegen. „Eigentlich hatte ich auch vor, dir ein Geschenk mitzubringen. Aber dann habe ich es in meinem Hotelzimmer vergessen ...“
Was sollte ich dazu sagen? „Tja, hab ich halt Pech gehabt“? „Schade“? „Macht nichts“? Ich sagte gar nichts und stapelte schweigend die Tassen aufeinander, um sie in die Küche zu bringen. Auf einmal war ich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, die kompletten Sommerferien mit meinem Vater zu verbringen. Wir waren noch nie so lange zusammen gewesen, was war, wenn wir uns nach ein paar Tagen an die Kehle gingen? Vielleicht hatte sich das ganze sowieso schon erledigt, vielleicht überlegte es sich mein Vater nach diesem blöden Gespräch noch mal, ob er mich dabeihaben wollte ...
„Dumm gelaufen, das mit dem Geschenk“, sagte André plötzlich. „Aber ich hatte schon länger vor, dir das hier zu geben. Ist vielleicht ein kleiner Ersatz.“
Verblüfft sah ich, wie er ein schmales Lederband mit drei tiefschwarzen Perlen von seinem Handgelenk knotete. „Die Perlen sind aus Lava“, sagte mein Vater. „Ich habe es vor ein paar Jahren in Indonesien bekommen. Es soll Glück bringen ...“
Ich nahm das Lederband und drehte es in der Hand. Die Lavaperlen fühlten sich glatt und warm an ... angewärmt von seiner Haut. Auf einmal war ich wieder den Tränen nahe, was war eigentlich los mit mir in letzter Zeit? Ungeschickt versuchte ich, das Band um mein rechtes Handgelenk zu befestigen.
„Warte, ich helfe dir“, sagte André und knotete das Band mit seinen kräftigen, gebräunten Händen fest.
„Danke“, sagte ich leise und er nickte.
André blieb nicht mehr lange, sondern plauderte nur noch eine Weile mit meiner Mutter über ihre Arbeit bei der Consultingfirma und mein Taschengeld, dann umarmte er mich zum Abschied. „Ich kümmere mich um alle Visa und Genehmigungen, dann kann es im August losgehen.“
Also hatte er seine Meinung nicht geändert!
„Sag deiner Mutter, du brauchst für die Reise drei Paar Wanderschuhe mit Kunststoff-Sohle, die könnt ihr schon mal besorgen. Alles andere, Stirnlampen und so weiter, leihe ich dir.“
„Drei Paar? Wieso das?“
Er lachte. „Wirst du schon sehen“, sagte er.
In dieser Nacht bekam ich nicht viel Schlaf. Nachdem ich die brandheißen Neuigkeiten gepostet hatte und sofort jede Menge Likes und Kommentare bekommen hatte, klickte ich mich mit klopfendem Herzen auf YouTube durch einen Vulkan-Clip nach dem anderen. Besonders lang blieb ich an einem Film über den Ausbruch des Mount St. Helens im Mai 1980 hängen. Jahrhundertelang hatte er ausgesehen wie ein ganz normaler Berg, rundum bewaldet, mit einer hübschen Schneekappe. Doch dann sprengte er eines Tages seinen Gipfel weg – explodierte einfach. Mit einer solchen Wucht, dass innerhalb von Sekunden Millionen von meterdicken Bäumen umgeworfen wurden. Ihre kahlen Stämme lagen säuberlich in die gleiche Richtung zeigend nebeneinander, als habe jemand Hügel und Täler mit Streichhölzern bedeckt. Ein riesiger dampfender Trichter klaffte dort, wo einmal die Spitze des St. Helens gewesen war. Um ihn herum ... eine graue Wüste, so weit das Auge reichte.
Eine Gänsehaut überzog meine Arme, als ich den Film wegklickte. Dieses Ding war eigentlich kein Berg gewesen, sondern eine Bombe von der Größe eines Berges! Und niemand hatte gewusst, wie lang die Lunte war.
Traust du dir das zu, Jan?
Ja. Nein. Vielleicht.
Fast ohne dass ich es bemerkte, glitten meine Finger über das Lederband mit den Lavaperlen, das ich ums Handgelenk trug. Warum wollte André überhaupt, dass ich mitkam? Jahrelang hatte er sich so selten gemeldet, dass ich ihn fast abgeschrieben hatte! Und nun, auf einmal ... warum jetzt? Einfach nur, weil ich inzwischen kräftig genug war, für ihn die Kamerataschen zu schleppen?
Es dauerte lange, bis ich es schaffte, einzuschlafen.