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Dunkle Augen

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Als es dann wirklich losging, konnte ich es selbst kaum glauben. Ich warf meine Reisetasche in den Kofferraum unseres Golf Hybrid, meine Mutter saß schon am Steuer. Zum Glück war sie nicht der Typ, der mich fragte, ob ich auch wirklich meine Zahnpasta und genug frische Unterhosen eingepackt hatte. Stattdessen blickte sie mich nachdenklich von der Seite an. „Wenn irgendwas nicht klappen sollte ... man kann einen Flug auch umbuchen, weißt du? Du kommst einfach zurück und ich hole dich vom Flughafen ab.“

„Von Dubai aus?“, gab ich trocken zurück. „Wow – toller Service!“

Verlegen ließ sie den Motor an. „In Dubai bin ich ja erst in einer Woche. Schreib mir gleich eine Nachricht, wenn ihr angekommen seid, ja?“

Sie setzte mich vor der Wohnung meines Vaters ab und stieg aus, um mich noch einmal zu umarmen. „Ich wünsche dir ganz viel Spaß und eine tolle Zeit“, sagte sie und drückte mich an sich. Etwas verlegen umarmte ich sie zurück und ihr vertrauter Duft stieg mir in die Nase. „Ich dir auch.“

Ich klingelte beim Firmenschild meines Vaters, und als die Tür aufsummte, schleifte ich mein Gepäck die Treppen hoch in den ersten Stock. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich klopfte kurz, doch als keine Antwort kam, drückte ich die Tür einfach auf und ging hinein. André war nirgends in Sicht, stattdessen stand ich vor einem Berg von Taschen und Rucksäcken unterschiedlichster Größe. An den Wänden hingen gerahmte Vulkanfotos und eine Art meterlanger Kalender, auf dem in unterschiedlichen Farben Zeiträume markiert waren, vielleicht Drehtage. Mehr bemerkte ich nicht, denn jetzt kam André mit langen Schritten aus einem Nebenraum geeilt, auf seinem Kopf thronte eine ausgeschaltete Stirnlampe. Als er mich sah, strahlte er. „Pünktlich auf die Minute, so mag ich das. In einer halben Stunde fahren wir zum Flughafen. Pass, Flugticket, Geld?“

„Alles dabei“, sagte ich gehorsam. „Wo fliegen wir zuerst hin?“

„Neapel.“ André zog sich die Lampe vom Kopf. „Aber wir holen dort nur jemanden ab und fliegen dann weiter. Fred – eigentlich heißt er Federico – wird für uns den Ton machen, er kann aber auch verdammt gut drehen.“

Irgendwie hatte ich gedacht, wir würden nur zu zweit sein, André und ich. Total naiv. Ich nickte und hoffte, dass er mir die Enttäuschung nicht ansah. Schon redete André weiter. „Hier, bring das schon mal runter, unser Taxi kommt jeden Moment.“ Der Rucksack, auf den André deutete, erwies sich als atemberaubend schwer.

„Was ist denn da drin?“, keuchte ich.

„Meine neue High-Speed-Kamera, eine Arri – neu kostet die 100 000 Dollar, also lass sie nicht fallen“, gab mein Vater zurück, lud sich selbst ein Stativ sowie eine Tasche auf und folgte mir die Treppe hinunter.

Auch am Flughafen machte ich mich nützlich damit, das Gepäck durch die Gegend zu wuchten. Und war völlig verblüfft, als plötzlich mein Handy klingelte und Finn fragte: „Wo genau bist du gerade am Flughafen?“

Ich sagte es ihm – und keine drei Minuten später tauchten vier bekannte Gesichter beim Check-in auf und begrüßten mich johlend: Finn, sportlich-drahtig wie immer, Noah Hand in Hand mit seiner Freundin Pia, und Emily, die mit ihren schwarzen Klamotten und grünen Haaren ein bisschen auffiel zwischen den Urlaubern und Geschäftsleuten.

„Wir wollten uns noch mal richtig verabschieden, nur für den Fall, dass du in irgendeinen Krater fällst“, sagte Emily und umarmte mich.

Finn klatschte mich ab und Noah schlug mir auf die Schulter. „Sag uns Bescheid, wann der Film mit dir ins Kino kommt, okay?“

„Ich war doch noch nicht mal beim Casting“, sagte ich verlegen und war gerührt, dass sie sich die Mühe gemacht hatten, heimlich mit der Bahn herzukommen und mich zu verabschieden. In der Zwischenzeit hatte André unser Gepäck abgegeben und ich stellte ihm meine Freunde vor. Doch für mehr als ein kurzes Händeschütteln reichte die Zeit nicht, André blickte schon auf die Uhr. „Wir müssen jetzt durch die Kontrollen, fürchte ich.“ Neugierig schauten meine Freunde zu, wie ich durch den Body Scanner marschierte, und schossen ein paar Fotos. Ein letztes Mal winkte ich ihnen zu, dann waren sie außer Sicht.

Der Flug kam mir sehr kurz vor, denn André wollte alles wissen: Woran ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, wer meine besten Freunde waren, was für Multiplayer-Games wir bei unseren LAN-Partys spielten, welches meine Lieblingsfächer in der Schule waren. Was sollte das, wollte er jetzt auf einmal alles nachholen, was er in den letzten Jahren verpasst hatte? Wollte er mir das Gefühl geben, er interessiere sich für mich? Oder wollte er das wirklich alles wissen, sogar den unwichtigsten Scheiß?

Ausgerechnet als die Stewardess sich uns mit dem Getränkewagen näherte und ich ihm nur halb zuhörte, fragte er: „Sag mal, warum hast du eigentlich das alte Kanu behalten? Ist doch komplett zerschrammt. Ich dachte, ihr würdet es irgendwann auf den Wertstoffhof bringen.“

Ungläubig wandte ich den Kopf und sah ihn an, während die Stewardess meinen Sitznachbarn fragte, was er trinken wolle. Es war nicht irgendein altes Kanu, war ihm das nicht klar? Es hatte doch ihm gehört! Er hatte die vielen Reiseaufkleber auf die Seiten gepappt, die meisten Schrammen stammten von seinen Fahrten. Nie würde ich dieses Kanu hergeben, ich würde es über Flüsse und Seen paddeln, bis es auseinanderfiel. Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch dann sah ich das ungeduldige Lächeln der Stewardess, und heraus kam: „Eine Cola bitte.“

„Gerne.“ Dreißig Sekunden später umklammerte ich einen Kunststoffbecher mit braunem Inhalt, mein Vater bestellte einen Tomatensaft und die Antwort von eben gerade war in mir versiegt.

„Also, das Kanu. Das kann man doch noch benutzen“, murmelte ich schließlich, André nickte, und dann schauten wir uns auf Andrés Tablet die Erebos-Verfilmung an.

Nach der Landung nahmen wir uns ein Taxi in die Innenstadt von Neapel und landeten ziemlich bald im Stau. Um uns herum Autos, die alle irgendwie verbeult und verkratzt aussahen, sogar die noch ziemlich neuen. Zentimeterweise schoben wir uns durch die mehrspurige Straße voran, jemand hupte wütend. „Come sempre – wie immer“, sagte unserer Fahrer gleichgültig und packte ein nach Schinken duftendes belegtes Ciabatta aus.

„Mist, das hätte ich mir denken können – ich gebe Fred Bescheid, dass es später wird“, brummte mein Vater und tippte auf seinem Communicator herum. Ich legte den Kopf gegen das Sitzpolster aus braunem Kunstleder zurück und schloss die Augen. Aus dem Radio wummerte die italienische Version eines alten Maroon 5-Songs.

Endlich hielten wir in einer schmalen Straße und André klingelte an einem der von Abgasen geschwärzten fünfstöckigen Gebäude. Nichts passierte, doch zwei Minuten später hörten wir das Röhren eines Motors und ein Geländemotorrad schoss heran. Der Fahrer parkte seine Enduro auf dem Bürgersteig neben uns und zog den Helm vom Kopf. Zum Vorschein kam ein älterer Mann mit raspelkurzen grauen Haaren und tiefen Furchen um die Mundwinkel. Er ignorierte mich und schüttelte meinem Vater die Hand. „Na, alles klar, Fred?“, fragte André ihn lächelnd.

„Man schlägt sich so durch“, sagte Fred auf Deutsch mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte, italienisch oder amerikanisch oder eine Mischung aus beidem. Er streifte mich mit einem Blick. „Also das da ist dein Kleiner?“

Verblüfft glotzte ich ihn an. Schon vor einem Jahr hatte ich die 1,80-Marke geknackt und dieser Typ da in der abgewetzten Lederjacke reichte mir nicht mal bis zum Kinn.

„Ja, genau.“ Mein Vater grinste. „Ganz der Papa, was?“

„Könnte man sagen“, brummte Fred und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wenn man eine lebhafte Fantasie hat.“

Wie, was? Na logisch sahen wir uns ähnlich! Zwei oder drei Minuten später fiel mir die beißende Bemerkung dazu ein. Tut euch keinen Zwang an, redet ruhig über mich. Ich tue nur so, als ob ich zuhöre! Nur leider quatschten sie längst nicht mehr über mich, sondern nur noch über den geplanten Dreh.

Wir verstauten unser Gepäck in einem kleinen Hotel eine Straße weiter, dann meinte André zu mir: „Fred und ich müssen noch die Ausrüstung überprüfen und alles Mögliche besprechen, magst du dich ein bisschen in der Stadt umsehen?“

Das hieß wohl, dass ich gerade überflüssig war. Kein Problem, ich wollte mir sowieso Neapel anschauen.

Ich streifte durch die engen Gassen, in die jetzt am späten Nachmittag kaum noch ein Sonnenstrahl drang. Vorbei an einem übervollen, stechend riechenden Müllcontainer und an einer Bäckerei, aus der es nach Vanille und Blätterteig duftete. An einem kleinen Altar an einer Hauswand, in dem Plastikblumen und Kerzen vor einem Heiligenbild aufgebaut waren. An einem Fischgeschäft, von dessen Auslage mich Dutzende von starren Augen anglotzten. Auf den Balkons über mir flatterte zum Trocknen aufgespannte Wäsche, und wenn ich wollte, konnte ich in die Erdgeschosswohnungen hineinschauen, alle Fenster waren offen. Drinnen lief überall Fußball im Fernsehen. Ich konnte sehen, woher der Strom dafür kam, die oberen Stockwerke vieler Häuser waren mit kleinen Stücken Solarfolie vollgeklebt, ein schimmerndes Patchwork.

Interessiert spähte ich in jede Ecke. Das hier war nicht das gepflegte, idyllische Italien, das ich aus den Urlauben mit meiner Mutter am Gardasee und in der Toskana kannte. Dieses Italien war rau, dreckig, arm und deutlich interessanter.

Ich bog in eine größere Straße ab, in der sich Geschäfte und Cafés aneinanderreihten. Ein paar Minuten später kam ich an einem Souvenirladen vorbei, dessen Auslagen sich über den ganzen Bürgersteig erstreckten. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich einen anderen Laden ausgesucht hätte, um etwas für meine Mutter, Noah, Finn, Emily und meine anderen Freunde zu kaufen. Aber ich ging in diesen und schaute mich mit leichtem Grusel um – hatte irgendjemand, den ich kannte, Verwendung für Wandteller mit einem kitschigen Blick über die Bucht von Neapel mit dem darüber thronenden Vesuv? Oder für Kühlschrankmagnete in Pizza-Form? Es gab auch eine Schneekugel, in der eine Art brauner Napfkuchen mit Schlagsahne thronte ... ach so, das sollte wohl der ausbrechende Vesuv sein, das Weiße oben drauf war die Aschewolke ...

Mein Blick streifte durch den Laden, in dem ich der einzige Kunde war. Die junge Italienerin an der Kasse hatte mich noch nicht bemerkt, weil ich in der Nähe des Eingangs stand. Sie war gerade konzentriert dabei, ihr langes dunkles Haar zusammenzudrehen und hochzustecken. Doch dann rutschte ihr die Haarklammer aus der Hand, und als sie danach schnappte, entglitt ihr auch die Frisur. Leise fluchend versuchte sie sie zu retten und gleichzeitig ihre Haarklammer zu suchen.

Unwillkürlich musste ich lächeln, und es war, als habe sie ihre Fingerspitzen ausgestreckt und mein Herz berührt. Wer war sie? Wie hieß sie? Jetzt hatte sie mich bemerkt, und mit einem höflichen Lächeln sah sie mich an und wartete darauf, dass ich etwas kaufte. Ich schnappte mir blindlings eine I love Napoli-Tasse und ging damit auf sie zu. Sie hatte ein elfenhaft zartes Gesicht und ihre langen Haare glänzten wie die schwarzen Tasten eines Klaviers. Da sie mir nur bis zur Schulter ging, schaute sie kurz zu mir hoch, als sie „Tre Euro“ sagte. Ich wollte noch irgendeine Bemerkung machen, aber ihre schönen dunklen Augen hatten mein Italienisch von der Festplatte gelöscht. Der Blick des Mädchens wurde immer fragender, und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Auch das noch. Jan die Tomate. Schnell das Geld rüberschieben und raus hier, ein „Grazie – ciao“ schaffte ich gerade noch.

Ich wanderte durch die Straßen, ohne irgendetwas zu sehen, immer geradeaus, verloren in einem Traum. Um ein Haar hätte mich ein Motorroller umgenietet, aber der Fahrer konnte gerade noch ausweichen.

Ganz von selbst steuerten meine Füße mich irgendwann zurück zum Souvenirladen. Das Mädchen stapelte gerade Aschenbecher mit bunten Bildchen und Goldrand aufeinander. Ich tat so, als würde ich Weinflaschenhalter mustern, bis ich endlich den Mut hatte, sie in Italienisch anzusprechen. „Scusi, Signorina, haben Sie eigentlich auch Bücher?“ Es war keine sehr schlaue Frage, doch ich hielt mich an Wörter, die ich kannte.

Dafür bekam ich ein Lächeln. „Leider nein, aber wie wäre es damit? Molto bello!

Sie zeigte mir eine Tischdecke mit einer dekorativen Karte der Amalfi-Küste darauf. Unglaublich hässlich. Ich kaufte sie trotzdem. Mit etwas Glück fand meine Mutter das Ding witzig. Wie konnte ich herauskriegen, wie die Elfe hieß? Sie war garantiert nicht älter als ich, jobbte sie während der Ferien hier? Hatte sie einen Freund?

Als ich ins Hotelzimmer zurückkehrte, war mein Vater noch nicht wieder da. Ich warf mich auf mein Bett, starrte an die Decke und rief mir noch einmal jeden Moment mit ihr ins Gedächtnis. Nicht mal zu Anna-Lia hatte ich mich so hingezogen gefühlt. Sie hatte in der Klasse ein paar Monate lang neben mir gesessen, doch vermutlich hatte sie nichts davon gemerkt, dass ich sie toll fand. Ich hatte mir auch alle Mühe gegeben, es mir nicht anmerken zu lassen, während wir herumwitzelten oder zusammen Bio lernten.

Aber was jetzt, was war mit diesem italienischen Mädchen? In solchen Dingen hatte ich einfach kein Glück, wahrscheinlich würden wir nicht mehr als zehn Sätze wechseln in der Zeit, in der ich hier war. Schon bald würden André und ich weiterreisen zu all den Vulkanen, die mein Vater filmen wollte, und irgendwann würde ich sie vergessen ... schließlich wusste ich nicht einmal, wie sie hieß ...

Ich schrieb eine Nachricht an Noah, ihm konnte ich es sagen, was heute geschehen war. Ziemlich schnell war seine Antwort da.

Hey, das freut mich total! Lass einfach deinen Charme spielen! Pia sagt, du hättest es echt verdient, dass dich endlich mal eine entdeckt ...

Noah

Moment mal, Noah redete mit Pia über mein Liebesleben? Der bekam vorerst keine weiteren Enthüllungen mehr von mir!

Den Abend verbrachten wir mit Fred in einem winzigen Restaurant auf der Via dei Tribunali, vor uns drei nach geschmolzenem Käse duftende Pizza Vesuvio, zu Ehren des Berges, der sich neben der Stadt erhob. „Wenn du magst, können wir morgen kurz auf den Vesuv klettern, während Fred noch ein paar Ersatzakkus für die Arri besorgt“, kündigte mein Vater an. „Schließlich willst du möglichst viele Vulkane sehen, oder?“

„Äh, ja, logisch.“

„Aber wenn du was anderes machen willst, gerne.“

„Okay.“ Abwesend biss ich in ein dampfendes Stück Pizza.

Mein Vater ließ mich nicht aus den Augen. „Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Oder redest du immer so wenig?“

„Los? Mit mir?“, wiederholte ich und bemühte mich um ein Lächeln. „Ich glaube, es ist das Klima. Ziemlich heiß hier.“

„Das wird in Hawaii nicht besser“, meinte Fred. „Kannst dich gleich dran gewöhnen.“

Ach echt? Der hatte ja tolle Tipps auf Lager.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete mich André, und einen Moment lang befürchtete ich, dass er einfach raten würde, was mit mir los war ... und damit richtigliegen würde. Aber dann zuckte er die Schultern und schob seinen halb leeren Teller von sich. „Das war meine erste und letzte Pizza hier, ich vertrage so fettiges Zeug einfach nicht.“

„Gut, dass du sonst härter im Nehmen bist“, bemerkte Fred und aß den Rest von Andrés Pizza gleich mit.

Vulkanjäger

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