Читать книгу Vulkanjäger - Катя Брандис - Страница 5
Alles auf eine Karte
ОглавлениеIch bekam dieses Mädchen einfach nicht aus dem Kopf. Warum eigentlich? Nur weil sie hübsch war? Womöglich stellte sie sich als oberflächliche Zicke heraus, die sich vor jeder Spinne ekelte und hauptsächlich an Shopping interessiert war. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Sie wirkte so herzlich, so echt.
Wenn ich sie in ihrem Laden sah, ging etwas, was sich wie ein elektrischer Schlag anfühlte, durch meinen ganzen Körper. Einmal sah ich sie mit einem Mann diskutieren und bewunderte die feurige Art, wie sie mit den Händen sprach. Ein anderes Mal beobachtete ich sie dabei, wie sie heimlich unter der Theke auf ihrem Communicator herumtippte, und musste grinsen. Niemand war im Laden, ich musste einfach nur auf sie zugehen und sie fragen, wie sie hieß. Alles auf eine Karte. Los jetzt!
Wieder nichts, weder meine Füße noch meine Lippen bewegten sich. Es nahm mir jeden Mut, dass sie mich immer noch mit diesem höflichen Verkäuferinnen-Lächeln bedachte, wenn sie mich sah. Kein Erkennen in den Augen, gar nichts. Obwohl ich gestern und heute so oft da gewesen war.
Am Nachmittag machte André sein Versprechen wahr, mir den Vesuv zu zeigen. „Es wird nicht besonders anstrengend, man kommt gut mit dem Auto hin“, kündigte er an. Nachdem wir aus Neapel raus waren, fuhren wir eine gewundene Straße entlang, die durch eine Ortschaft nach oben führte. Nach und nach wurden die Gebäude seltener, wir fuhren durch unbebaute Gegenden mit niedrigen Bäumen und Buschwerk. „Unter dem Gestrüpp sind lauter alte Lavaströme“, erklärte André. Neugierig hielt ich Ausschau, aber die Ströme waren längst überwachsen, man sah nicht viel. Ich beobachtete lieber den Turmfalken, der über uns jagte.
Auf einem Parkplatz in tausend Meter Höhe stellten wir unser Mietauto neben den anderen Autos und Bussen ab, zahlten Eintritt und gingen zu Fuß weiter. Auf einem gut ausgebauten Schotterweg ging es hoch bis zum Krater. Ungläubig musterte ich die Souvenirhütten, in denen man nicht nur Postkarten, sondern auch Figürchen und Aschenbecher aus Lava kaufen konnte. Direkt am Krater! Mein Vater folgte meinem Blick und verzog das Gesicht. „Unglaublich, was? Würde ich alles verbieten lassen, wenn ich könnte.“
Eine Horde französischer Touristen drängte sich am Kraterrand, lauschte den Erklärungen ihres Führers und bewunderte die Aussicht in den Krater, einen tiefen, rötlich-braunen Schlund. Wir gingen ein Stück weiter, um ungestört zu sein, lehnten uns ans Holzgeländer und blickten ebenfalls in die Tiefe. Viel zu sehen war nicht, bis auf eine kleine Dampfwolke, die aus dem Erdinneren hervordrang und sich an der Innenseite des Kraters hochschlängelte. Nach dem, was ich schon über Pompeji gelesen hätte, hätte ich mir den Vesuv irgendwie größer vorgestellt, bedrohlicher.
André betrachtete mich von der Seite. „Nicht sehr beeindruckend, was?“
„Nicht wirklich“, gab ich zu. „Kann das Ding noch mal irgendwann ausbrechen? Oder ist es erloschen?“
„Nein, erloschen ist der Vesuv nicht.“ Mein Vater beobachtete die Kraterwände aufmerksam, schien jede Kleinigkeit in sich aufzunehmen. „Er ruht nur. Irgendwann geht´s hier wieder rund – aber niemand weiß, wann. Manchmal dauert es Jahrzehnte bis zur nächsten Eruption, gelegentlich sogar Jahrhunderte. Bis dahin filme ich lieber anderswo ausbrechende Vulkane.“
Instinktiv berührte ich mein neues Lederarmband mit den Lavaperlen. Noch konnte ich nicht wirklich glauben, dass ich André dabei begleiten durfte, wie er Ausbrüche filmte ...
Wir wanderten am Kraterrand entlang, und André zeigte mir Pompeji, auf den ersten Blick ein ganz normales Städtchen in der Küstenebene. Mit der Kamera zoomte ich die römischen Ruinen heran. „Das ist ganz schön weit weg“, sagte ich erstaunt und André nickte nachdenklich. „Aber nicht weit genug.“
Ich blickte übers den Golf von Neapel hinaus, das Meer schimmerte in der Mittagssonne wie die Schuppenhaut einer Echse.
„Genug gesehen?“, fragte André und ich nickte. Auf dem Rückweg schweiften meine Gedanken ab, zurück zu dem Mädchen im Souvenirgeschäft. Würde sie mich wiedererkennen, wenn ich das nächste Mal in ihren Laden kam? Bestimmt!
Am frühen Abend bekam ich dann die Quittung für den ganzen Irrsinn.
„He, was hast du denn da für eine Sammlung?“, wollte mein Vater wissen, nachdem ich unvorsichtigerweise in seiner Gegenwart meine Reisetasche aufgeklappt hatte. „Wozu brauchst du drei Kühlschrankmagneten in Pizzaform?“
„Souvenirs für meine Freunde“, brummte ich.
„Und den Topflappen mit Zitronenmotiven?“
„Kann man immer gebrauchen. Ich koche gern.“
„Was ist mit der Amalfi-Tischdecke?“
„Was soll damit sein? Irgendetwas muss man ja über diese verdammten Tische legen.“ Ich trank einen Schluck Wasser aus meiner I love Napoli-Tasse.
André griff sich an den Kopf. „Also, den Sammeltrieb hast du jedenfalls nicht von mir!“
Ich wies ihn darauf hin, dass meine Reisetasche noch keineswegs voll war, im Gegensatz zu seiner.
„Da ist ja auch wichtige Ausrüstung drin“, konterte mein Vater. „Weil wir sehr bald dabei sind, einen Film zu machen, falls du das vergessen hast. Übermorgen fliegen wir ab und können dann endlich mit dem Drehen anfangen.“
„Übermorgen?“ Wahrscheinlich wurde ich gerade blass. Ich konnte doch jetzt nicht aufgeben! Irgendwann würde das Mädchen mich bestimmt wiedererkennen, wir würden ins Gespräch kommen, und…
„Ja, genau. Wir nehmen uns dann Punkt zwölf Uhr mittags ein Taxi zum Flughafen.“ Mein Vater war bester Laune. „Keine Sorge, vom Kilauea in Hawaii wirst du garantiert nicht enttäuscht sein.“
Ich konnte nicht anders. Eine halbe Stunde später erfand ich eine fadenscheinige Entschuldigung, um mich abzusetzen und noch einmal am Souvenirladen vorbeizugehen. Als ich loszog, betrachtete mich André wieder mit diesem durchdringenden Blick, den ich nun schon kannte, aber er sagte nur: „Sei bitte um sieben zurück, dann besprechen wir den Dreh und ich weise dich in die Ausrüstung ein.“
Als ich das Geschäft betrat, war die junge Verkäuferin gerade damit beschäftigt, eine Frau zu beraten, die anscheinend eine britische Touristin war. „Do you have sundials, my dear?“, fragte die Dame, und meine Elfe nickte, ja, Sonnenuhren hatten sie da. Sogar aus echtem italienischen Marmor. Aber leider ganz oben im Regal.
„I would like to buy one“, verkündete die Touristin.
Meine Elfe warf einen Blick nach oben. Da kam sie nicht ran, im Leben nicht. Groß war sie nämlich nicht gerade. Seufzend wollte sie gerade in ein Hinterzimmer gehen und wahrscheinlich einen Hocker holen, da sagte ich spontan: „No problem“, streckte mich etwas und nahm eine der Sonnenuhren herunter. „This one?“, fragte ich die Touristin.
Die junge Italienerin nickte mir lächelnd zu und diesmal war es ein echtes Lächeln. Keins für jeden, sondern eines ganz allein für mich.
Noch drei andere Sonnenuhren musste ich holen, bis die britische Lady eine gefunden hatte, die ihr gefiel. Ich lungerte im Laden herum, bis sie bezahlt hatte und abgezogen war. Dann herrschte wieder Stille.
„Du hast ganz schön viele Freunde, was?“, fragte eine helle Stimme, ihre Stimme! Mein Herz begann zu rasen wie nach einem Sprint. Sie hatte das auf Deutsch gesagt, wieso sprach meine Elfe Deutsch? Ich schaute auf und sah, dass sie an der Kassentheke lehnte und mich beobachtete, das glänzende Haar floss ihr offen über die Schultern. An diesem Tag trug sie ein türkisfarbenes Top und einen schwarzen Minirock, der ihr blendend stand.
„Viele Freunde? Wieso?“, fragte ich, ebenfalls auf Deutsch.
„Weil du schon so viel gekauft hast.“
Ich grinste verlegen. Also hatte sie es doch bemerkt, dass ich ziemlich oft vorbeigekommen war. „Ähm, ja, so einige“, schwindelte ich, obwohl ich eigentlich nur Noah, Finn und Emily wirklich als Freunde zählte. „Denen muss ich natürlich was mitbringen ...“
„Aber kauf bloß nicht den Schrott Made in China – das da und das da und das“, sagte sie und deutete verächtlich auf ein paar Sachen, die ich zum Glück noch nicht besaß. „Taugt nichts.“
Es war so schön, endlich mit ihr zu reden! „Woher hast du gewusst, dass ich aus Deutschland komme?“
Ihre weißen Zähne blitzten auf. „Wir haben zwei Jahre lang in Deutschland gelebt. Dadurch kann meine Mutter jetzt als traduttrice – wie sagt man? Ach ja, Übersetzerin – arbeiten. Und ich erkenne un ragazzo tedesco, einen Jungen aus Deutschland, wenn ich einen sehe.“
„Toll“, sagte ich aus ganzem Herzen. „Wie heißt du eigentlich?“
Ein Kunde ging mit einer kitschigen Heiligenfigur zur Kasse und das Mädchen war wieder beschäftigt. Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Shit. Höchste Zeit, zurückzugehen. Ich würde rennen müssen, um es überhaupt zu schaffen. O nein, da kam diese englische Lady wieder, was zum Teufel wollte sie jetzt noch?
Mit dem Mut der Verzweiflung schnappte ich mir ein Tamburin, marschierte selbst zur Kasse und kam ganz knapp vor der Britin dort an. Meine Elfe schenkte mir ein verschmitztes Lächeln und kritzelte schnell Giulia auf einen Block, während sie mit der anderen Hand einen ganz anderen Preis eintippte als den, der wirklich auf dem Musikinstrument stand.
„Jan“, flüsterte ich zurück und bezahlte die fünfzig Cent, die sie mir berechnet hatte. Dann war auch schon die ältere Dame dran.
Auf dem Weg zurück zum Hotel schwebten meine Füße über dem Boden, und ich ließ den Zettel mit ihrem Namen nicht aus der Hand – in meiner anderen Hand klimperte das blödsinnige Tamburin.
Mit zehn Minuten Verspätung war ich zurück, und ich sah auf den ersten Blick, dass mein Vater stinksauer war. „Schluss mit dem bescheuerten Versteckspiel!“, fuhr er mich an. „Klartext. Wie heißt sie?“
Völlig verblüfft hielt ich ihm den Zettel hin.
„Aha, Giulia – ist sie nett?“, meinte er, er sprach es aus wie Julia in Englisch. Dschulia.
„Ich glaube schon“, meinte ich.
„Na, dann ist´s ja gut“, sagte mein Vater trocken und begann, mir den Zusammenbau der High-Speed-Kamera zu erklären. Ich gab mir Mühe, mir alles zu merken, und versuchte, mich möglichst geschickt anzustellen. Damit er sich wieder abregte. Hatte gerade noch gefehlt, dass er einen schlechten Eindruck von mir bekam, noch bevor unsere Reise richtig begonnen hatte!
Nach unendlich langer Zeit, wie es mir vorkam, stand ich endlich wieder in Giulias Laden. Sie begrüßte mich mit einem fröhlichen „Va bene?“, und als ich so tat, als würde ich alle möglichen Souvenirs auf meine Arme häufen, musste sie lachen. Ich mochte die Art, wie sie lachte, übermütig und richtig tief aus dem Bauch heraus. Und es war, als hätte ich etwas gefunden, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es mir fehlte.
„Hast du Lust, mit mir ein Eis essen zu gehen?“, fragte ich schnell, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Wow. Ich hatte es getan, ich hatte gefragt. Halb gefroren vor Furcht, wartete ich auf ihre Antwort.
„Vediamo“, sagte Giulia. Wenn ich das richtig verstanden hatte, hieß das „Schauen wir mal“ im Sinne von „Vielleicht“. Na ja, besser als ein Nein. Giulia schien auf etwas zu warten, auf irgendetwas, das ich sagte. Aber ich hatte keine Ahnung, auf was. Höflich meinte ich einfach „Okay, denk einfach drüber nach, ja?“, und Giulia schaute mich an wie einen Außerirdischen. Was hatte ich falsch gemacht? Wenn das hier ein Spiel war, kannte ich die Regeln nicht.
Also fragte ich bei meinem nächsten Besuch am gleichen Tag einfach nochmal. „Und, wann gehen wir Eis essen?“ So, als hätten wir alle Zeit der Welt.
Fast rechnete ich wieder mit einem Vediamo, doch diesmal kam keins. Verschmitzt blickte Giulia mich an. „Sagen wir es mal so: Ich gehe mit dir Eis essen, wenn du mit mir im Meer geschwommen bist.“
„Kein Problem“, sagte ich erstaunt. Wo war der Haken? Schwimmen gehen war neben Kanu fahren eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. „Wann treffen wir uns?“
„Heute um Mitternacht“, erwiderte Giulia, und ihre Augen blitzten herausfordernd.
Ein Schauer überlief mich. Ich hätte ihr sagen können, dass es unklug war, nachts im Meer zu baden, weil zu dieser Zeit Haie auf der Jagd waren. Außerdem konnte einen nachts keiner retten, wenn man in Schwierigkeiten kam. Aber das wusste sie wahrscheinlich selbst. Vielleicht hielt sie deutsche Jungs für langweilig und hatte vor, mich zu testen. Das konnte sie haben. „Okay“, sagte ich und hielt ihrem Blick stand.
„Wohin soll ich kommen?“
„Ich hole dich mit dem motorini ab – wo wohnst du?“
Ich beschrieb es ihr und verabschiedete mich mit einem lockeren „Also dann bis später“.
Die Chancen, meinen Vater von dieser Aktion zu überzeugen, waren gleich Null und ihn einfach nicht um Erlaubnis zu fragen die einzige Lösung, die mir einfiel. Also stopfte ich, als André gerade telefonierte, ohne Aufhebens mein Schwimmzeug in den Rucksack und erklärte: „Ich geh noch mal weg, kann spät werden, okay? Mach dir keine Sorgen.“
„Ab wie viel Uhr darf ich die Polizei rufen?“, fragte mein Vater, ohne aufzublicken.
„Wenn die Sonne aufgeht“, gab ich zurück. Wenn ich bis dahin nicht zurück war, hatte ich tatsächlich ein Problem.