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1. August 2007

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Savannah sitzt um kurz nach Mitternacht im Schneidersitz auf ihrem Ledersofa im Wohnzimmer. Sie schiebt einen Haufen zusammengeknüllter Taschentücher zur Seite und greift nach dem Fotobuch, welches neben dem leeren Weinglas auf dem Wohnzimmertisch liegt. Mit der anderen Hand bringt sie das Leinenkissen hinter ihrem Rücken in Form und kuschelt sich unter die cremefarbene Wolldecke.

Auf dem blauen Buchdeckel des DIN-A4-großen Buches steht in weißen Buchstaben: Unsere Rundreisen durch die USA. Der mittlere Teil des Covers wird durch ein Foto von ihr und Eric ausgefüllt.

Bei dem Gedanken daran, dass dieses Foto erst vor wenigen Wochen aufgenommen wurde, formt sich ein großer Kloß in ihrem Hals. Ihre verquollenen Augen beginnen erneut, zu brennen. Eine Träne rollt langsam über ihre Wange hinab und landet direkt auf dem Gesicht von Eric.

An dem Tag hatten sie den Staat Maine durchquert. Kurz vor South Portland sind sie noch zu einem Leuchtturm gefahren. Das Wetter war windig und rau, wodurch die schwarzen, langen Haare von Savannah immer auf halb acht standen. Rund um den Leuchtturm befand sich ein hügeliger Park mit Picknicktischen aus Holz. Der Anblick des schwarz-weiß geringelten Leuchtturmes, der in ein kleines Fachwerkhaus überging, war faszinierend. Mit den zerklüfteten Felsen im Hintergrund erinnerte alles an einen Schauplatz aus einem Stephen-King-Roman. Der Himmel war mit schmalen, ineinander verlaufenden Wolken behangen. Sie sahen aus wie gemalt. Eric nannte sie die Simpsons Wolken. Darüber mussten beide schmunzeln, weil sie schon so viele Folgen gemeinsam angeschaut hatten.

Nach einem fünf Minuten langen Rundgang in dem dazugehörigen Museum legte Eric die Kamera draußen auf eine Mauer und aktivierte den Selbstauslöser. Er rannte, so schnell er konnte, auf Savannah zu und schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Arm um sie zu legen und in die Kamera zu lachen, bevor der Blitz aufflackerte.

Savannah fand dieses Foto für den Buchdeckel perfekt. Es war mit eine der schönsten Momentaufnahmen von beiden; völlig ungestellt und lebensfroh. Ihr wird klar, dass sie gerade ein Buch voller Erlebnisse in den Händen hält, über die sie vielleicht nie wieder mit Eric gemeinsam lachen wird.

Dieser Gedanke dröhnt durch ihren Kopf und klingt dabei so unwirklich wie der Anblick von Schneeflocken im Sommer. Sie wischt mit dem Ärmel über das Buch und füllt ihr Weinglas mit Rosé auf. Den Wein hatten sie auf dem Weg zu den Niagarafällen in einem antiken Weinladen in der Stadt Niagara-on-the-Lake gekauft. Ursprünglich als Andenken – oder für einen besonderen Moment.

Beim Öffnen des Buches fallen ihr Prospekte und handgeschriebene Reisenotizen entgegen, die sie vor der Reise aus dem Internet zusammengesucht hatte. Die erste Hälfte des Buches besteht aus Fotos von ihrer gemeinsamen Rundreise an die Westküste der USA im letzten Jahr. Obwohl beide damals von der Anreise und der Zeitumstellung erschöpft waren, ließen sie es sich nicht nehmen, nach dem Check-in im Hotel eine erste Stadterkundung zu wagen. Sie schlenderten von Santa Monica aus über die Strandpromenade in Richtung Venice Beach. Dabei hielten sie einen Latte macchiato mit einem Schuss Vanillesirup in ihren Händen, mit dem sie kurz zuvor auf einen unvergesslichen Urlaub angestoßen hatten. Der belebte Fußgängerpfad verlief direkt an dem breiten Strandabschnitt entlang. Hin und wieder wurde der geschwungene Weg von dünnen, haushohen Palmen und einfachen Verkaufsbuden umsäumt. Mit ihrer neuen Kamera hielten sie den romantischen Sonnenuntergang, der den Strand und die Santa Monica Mountains hinter dem Pier in ein weinrotes Licht tauchte, Pixel für Pixel fest.

Sie überfliegt die Fotos von der Killerwal-Show in SeaWorld und dem Helikopterflug über den Grand Canyon. Dann füllt sie ihr Weinglas auf und betrachtet die Fotos von Las Vegas. Alle hatten vor der Hitze in der Stadt der Sünde gewarnt. Nur hatten sie das außergewöhnliche Glück, die Stadt bei angenehmen 27 Grad zu erleben. Bei einem ersten Spaziergang über den Strip wirkte die glamouröse Atmosphäre auf sie ein: prunkvolle Hotels – die mehr an einen Vergnügungspark als an eine Unterkunft erinnerten – umzingelt von blinkenden Lichtern, klingelnden Spielautomaten und vergnügten Menschen. Der totale Kontrast zu der vielen Natur, die sie die Tage zuvor erlebt hatten.

Bei dem Versuch, einem einarmigen Banditen eine Million Dollar abzuluchsen, schaffte Savannah es gerade einmal, ihren Einsatz von 5 Dollar zurückzuerobern. Sie entschied sich dafür, den Gewinn auszahlen zu lassen und Eric weiter über die Schulter zu schauen. Während sie gespannt auf das klimpernde Geräusch von Münzen wartete, fabrizierte der kleine Bandit geräuschlos einen weißen Bon, der die Gewinnsumme und einen Barcode auswies. Gelangweilt hielt sie Eric den kleinen Bon unter die Nase. Er zwinkerte ihr zu, legte beide Arme um ihre Taille und zog sie eng an sich heran, während er auf dem Barhocker sitzen blieb. Sie legte ihre Arme um seine Schultern und flüsterte ihm dabei ins Ohr:

„Pech im Spiel ist mir mein Glück in der Liebe wert!“

Dann gab sie ihm einen Kuss und fügte lachend hinzu, dass sie mit der Einstellung in Las Vegas wohl nichts zu suchen hätte…

Enttäuscht klappt sie das Buch zu und legt es auf den Wohnzimmertisch. Jedes Foto lässt ihre Erinnerung lebendiger werden, als sie es momentan aushält. Fassungslosigkeit breitet sich in ihrem Kopf aus. Erneut brennen Tränen in ihren Augen. Ihr bleibt die Luft zum Atmen weg. Am liebsten würde sie sich einfach unter ihrer kuscheligen Wolldecke verkriechen und abwarten. Warten, bis alles wieder so schön ist, wie es vor einer Woche noch war! Doch das hat die vergangenen zwei Tage auch nicht funktioniert. Nach dem Zusammenfalten der Wolldecke macht sie sich auf den Weg nach oben ins Schlafzimmer. Morgen muss sie wieder arbeiten. Der rau verputzte Treppenaufgang im Flur erinnert sie daran, wie sie die Wände damals mit Eric eigenhändig gestaltet hatte.

Sie hält ihre Zahnbürste unter den Wasserstrahl, greift mit der anderen Hand nach der Zahnpastatube und hängt weiter ihren Gedanken nach. Damals kam sie abends von der Arbeit, da hockte Eric bereits zwischen einem Haufen Tapetenfetzen auf den Stufen und hielt ihr strahlend einen zweiten Metallspachtel entgegen. Keine Wand im Haus hatten sie seit dem Einzug so oft umgestaltet wie die Wand im Flur.

Mit einem lauten Gurgeln spült sie ihren Mund über dem Waschbecken aus und starrt den leeren Zahnputzbecher an, ehe sie ihre Zahnbürste wieder hineinstellt. Sie befürchtet, dass Eric dieses Wochenende nicht nur seine Zahnbürste mitgenommen hat. Auf dem Weg zum Bett kommen ihr erneut die Tränen.

Unter ihrer Nachttischlampe reihen sich seit Jahren unterschiedliche Fotorahmen aneinander. Neben dem niedlichen Foto ihrer beiden Katzen, Coco und Lucy, steht ein Foto von Eric. Sie nimmt es zur Hand und betrachtet es. Seine blonden Haare hängen in feinen Strähnen bis zu den Augenbrauen über seine Stirn. Die aufgeweckten blauen Augen schauen direkt in die Kamera. Dass Eric sechs Jahre älter ist als sie, sieht man ihm kaum an. Der Rest von seinem Gesicht ist von aufgemalten Kuhflecken bedeckt. Passend zu seinem Kuhkostüm aus Plüsch. Jahr für Jahr war das karibische Karnevalsfest in Montréal für beide ein bedeutendes Fest. Meistens fuhren sie gemeinsam mit ihren Freunden nach Montréal und feierten dort tagelang durch.

Bevor sie das Licht ausknipst, putzt sie sich noch die Nase und schließt die Augen. Während Lucy aufs Bett hüpft und sich auf die leere Betthälfte kuschelt, tigert Coco laut maunzend und unruhig die Treppe hinunter. Nach seinem abendlichen Streifzug durchs Wohnzimmer legt er sich auf den kleinen Teppich im Eingangsbereich und lässt die Haustür nicht aus den Augen. Auch er merkt, dass im Haus jemand fehlt.

Happy End vergriffen

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