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Syrische und arabische christliche Bibelauslegung

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John Meyendorff schreibt über die Bedeutung der Überlieferungen der orientalischen christlichen Welt:

Die Vorstellung, die frühe christliche Überlieferung sei auf griechische und lateinische Texte beschränkt, ist immer noch weit verbreitet. Diese Annahme verzerrt die historische Realität und schwächt unser Verständnis von den Wurzeln christlicher Theologie und Spiritualität. Im dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert war Syrisch die dritte internationale Sprache der Kirche. Sie diente als Hauptverkehrssprache der römischen Diözese des „Ostens“, zu der Syrien, Palästina und Mesopotamien gehörten.2

Die Christen des Nahen Ostens werden manchmal als die „vergessenen Gläubigen“ bezeichnet. Es ist bekannt, dass über Jahrhunderte hinweg im Nahen Osten Juden und Muslime lebten. Seit dem Konzil von Chalcedon 451 n.Chr. sind allerdings die Christen des Nahen Ostens größtenteils aus dem Bewusstsein der westlichen Welt verschwunden. Nur wenige wissen, dass es heute noch mehr als zehn Millionen arabischsprachige Christen gibt, die ein reiches Erbe an antiken und neuzeitlichen Schriften besitzen. Diese Christen sprechen eine semitische Sprache und leben, atmen und denken die Kultur des Nahen Ostens; sie sind in diesen Traditionen verwurzelt. Ihre Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart dürfen in der Theologie nicht ignoriert werden.

Deswegen greift diese Aufsatzsammlung auf die frühen syrischen und arabischen christlichen Schriften zu den Evangelien zurück. Syrisch ist mit dem Aramäischen, der Sprache Jesu, verwandt. Das erste Pfingstfest ist die Geburtsstunde der arabischen Christenheit, als einige der Anwesenden Petrus auf Arabisch predigen hörten. Diese Christen waren in den ersten Jahrhunderten im Gebiet des heutigen Jemen, Bahrain, Katar und darüber hinaus weit verbreitet.3 Mit dem Aufkommen des Islam wurde das Arabische nach und nach für die Christen des Orients zu einer wichtigen theologischen Sprache. Hochkarätige arabische christliche Schriften aus mehreren Jahrhunderten sind bis heute größtenteils unveröffentlicht und unbekannt.4 Allen diesen syrischen, hebräischen bzw. aramäischen sowie arabischen Quellen ist die Kultur des Nahen Ostens gemeinsam, und alle von ihnen sind ethnisch näher an der semitischen Welt Jesu als die griechisch-römische Kultur des Westens.

In dieser frühen Zeit des Christentums entstanden die Schriften von Ephraem dem Syrer und die drei klassischen Übersetzungen des Evangeliums ins Syrische: die altsyrische Übersetzung, die Peschitta und die Harklensis. Alle drei wurden für das vorliegende Buch herangezogen.

Mit dem 8. Jahrhundert gewannen die frühen arabischen christlichen Überlieferungen an Bedeutung. In der Geschichte seit dem Frühmittelalter ist mir kein anderer Neutestamentler aus dem Nahen Osten bekannt, der solch herausragende Arbeit geleistet hat wie Abu’l-Farag ‘Abdallah ibn al-Tayyib al-‘Iraqi, wohl besser bekannt unter dem Namen Ibn al-Tayyib. Dieser überragende Gelehrte aus Bagdad starb im Jahr 1043. Georg Graf beschreibt ihn als „Philosoph, Arzt, Mönch und Priester in einer Person“.5 In der Tat ein Universalgelehrter, war Ibn al-Tayyib weit in griechischer Literatur belesen, sprach fließend Griechisch und war zudem nicht nur als Arzt ausgebildet, sondern unterrichtete auch Medizin und verfasste medizinische Texte. Als Geisteswissenschaftler übersetzte er das Neue Testament aus dem Syrischen ins Arabische, schrieb philosophische und theologische Abhandlungen, redigierte eine arabische Version des Diatessaron und schrieb Kommentare zum Alten und Neuen Testament.6 Seine Schriften zu den Evangelien werden in diesem Buch wiederholt zitiert.

Eine zweite wichtige Stimme des Mittelalters ist der koptische Gelehrte Hibat-Allah ibn al-‘Assal, der 1252 eine Ausgabe der vier Evangelien mit einem vollständigen kritischen Apparat vollendete. Seine Arbeit ist ein erstaunliches Kompendium der verschiedenen Evangelien-Übersetzungen aus dem Griechischen, Koptischen und Syrischen ins Arabische, die über die Jahrhunderte hinweg bis zu seiner Zeit entstanden.7 Zudem zog er die Kommentare zu den Evangelien von Dionysius bar Salibi (gest. 1171) zurate.

Bezüglich der Neuzeit hielt ich mich an Ibrahim Sa‘id, einen herausragenden ägyptischen protestantischen Geisteswissenschaftler, der im 20. Jahrhundert fachkundige Kommentare zu den Evangelien des Lukas und des Johannes auf Arabisch verfasste. Zusätzlich konsultierte ich immer wieder Matta al-Maskin, den koptisch-orthodoxen Gelehrten, der 2006 verstarb. Dieser hoch gebildete Mönch, der beinahe Patriarch seiner Kirche geworden wäre, brachte Jahre seines Lebens im Kloster damit zu, Kommentare zum Neuen Testament auf Arabisch zu schreiben. Seine sechs dicken Bände zu den Evangelien sind beeindruckend und außerhalb der arabischsprachigen christlichen Welt unbekannt.

Neben den alten und modernen Kommentaren gibt es noch die unterschiedlichen Textüberlieferungen. Für mich hat die arabische Bibel die längste und glanzvollste Geschichte aller Sprachtraditionen. Die alten christlichen Überlieferungen waren Übersetzungen des Neuen Testaments ins Lateinische, Koptische, Armenische und Syrische. Mit dem vierten Jahrhundert hörten diese Übersetzungsbemühungen allerdings auf.8 Die ältesten arabischen Neuen Testamente stammen möglicherweise aus dem achten, ganz gewiss aber aus dem neunten Jahrhundert. Sie wurden aus dem Syrischen, Koptischen und Griechischen übersetzt und wurden bis zur heutigen Zeit immer wieder überarbeitet und erneuert.9 Übersetzung ist immer Interpretation, und diese Versionen überliefen das Textverständnis der jeweiligen Kirche, die die Übersetzung erarbeitete. Sie sind eine Fundgrube für die Erforschung der Evangelienauslegung im Orient.

Jesus war kein Europäer

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